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Verkehrsunfall – Anscheinsbeweis gegen den Rückwärtsfahrenden bei Parkplatzunfall

Rückwärtsfahrender haftet nur teilweise für Unfall auf Parkplatz

Das Landgericht Nürnberg-Fürth hat in einem Parkplatzunfall-Fall eine wichtige Entscheidung zur Haftung und zum Anscheinsbeweis bei rückwärtsfahrenden Fahrzeugen getroffen, wobei die gesamtschuldnerische Haftung der Beklagten auf 80% festgelegt wurde.

Weiter zum vorliegenden Urteil Az.: 8 S 4857/15  >>>

Das Wichtigste in Kürze


Zentrale Punkte des Urteils:

  1. Abänderung des Ersturteils: Das Landgericht hat das Urteil des Amtsgerichts Nürnberg geändert, welches eine geringere Haftungsquote für die Beklagten festgelegt hatte.
  2. Haftungsverteilung: Die Beklagten wurden zu einer gesamtschuldnerischen Haftung von 80% verurteilt, während der Kläger 20% der Kosten trägt.
  3. Schadensersatzforderung: Der Kläger erhält 2.167,16 € zuzüglich Zinsen und außergerichtliche Rechtsverfolgungskosten.
  4. Anscheinsbeweis bei Rückwärtsfahren: Der Anscheinsbeweis, der oft rückwärtsfahrenden Fahrzeugen zum Nachteil gereicht, wurde in diesem speziellen Fall nicht angewendet.
  5. Bewertung der Unvermeidbarkeit: Das Gericht stellte fest, dass der Unfall für die Fahrerin des Klägerfahrzeugs nicht unvermeidbar war, da sie nicht die Sorgfalt eines „Idealfahrers“ an den Tag legte.
  6. Sorgfaltsverstoß der Beklagten: Das Gericht sah es als erwiesen an, dass die Beklagte zu 1 unter Außerachtlassen der gebotenen Sorgfalt rückwärts gefahren ist.
  7. Kein Verstoß gegen StVO durch Klägerfahrzeug: Für das Fahrzeug des Klägers konnte kein Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung festgestellt werden.
  8. Revision zugelassen: Aufgrund der entscheidungserheblichen Abweichung von vorherigen Urteilen, wie dem des OLG Hamm, wurde die Revision gegen dieses Urteil zugelassen.

In der rechtlichen Bewertung von Verkehrsunfällen, insbesondere bei Kollisionen auf Parkplätzen, spielt der Anscheinsbeweis eine wesentliche Rolle. Dieser juristische Grundsatz besagt, dass unter bestimmten Umständen eine Vermutung für ein typisches Geschehen besteht, das den Rückschluss auf ein bestimmtes Verschulden erlaubt. Besonders im Fokus stehen dabei Unfälle, bei denen Fahrzeuge rückwärts fahren. Hierbei sind die Aspekte der Haftungsabwägung, des Sorgfaltsverstoßes und der Unvermeidbarkeit von entscheidender Bedeutung. Die Frage, inwieweit Fahrzeugführer ihre Verkehrspflichten erfüllt haben und ob ein Unfall für sie vermeidbar war, ist zentral für die rechtliche Einordnung und das Verständnis solcher Fälle. Das Urteil in einem spezifischen Fall kann somit Aufschluss darüber geben, wie Gerichte in ähnlichen Situationen Haftungsfragen bewerten und entscheiden.

Der Kern des Parkplatzunfalls: Verkehrsunfall und Anscheinsbeweis

Rückwärtsfahrender haftet nur teilweise für Unfall auf Parkplatz
(Symbolfoto: Skoles /Shutterstock.com)

Bei dem hier betrachteten Fall handelt es sich um einen Verkehrsunfall auf einem Parkplatz, bei dem ein rückwärtsfahrendes Fahrzeug in ein anderes stieß. Das Landgericht Nürnberg-Fürth hatte über diesen Fall zu entscheiden und die Frage zu klären, inwiefern der Anscheinsbeweis gegen den Rückwärtsfahrenden greift. Der Kläger forderte Schadenersatz für den entstandenen Schaden und die Gerichtsentscheidung basierte auf einer detaillierten Analyse der Unfallumstände sowie der geltenden Rechtsprechung.

Haftungsabwägung bei einem Parkplatzunfall

Die Haftungsabwägung ist ein zentraler Aspekt in Verkehrsunfallfällen, besonders wenn beide Parteien sich im Rückwärtsgang befinden. Das Amtsgericht Nürnberg hatte ursprünglich eine Mithaftung des Klägers von einem Drittel festgelegt. Diese Entscheidung wurde jedoch vom Landgericht Nürnberg-Fürth abgeändert, wobei die Beklagten nun zu 80% haften und der Kläger zu 20%. Diese Entscheidung basierte auf einer sorgfältigen Betrachtung der individuellen Umstände des Unfalls und der jeweiligen Verkehrspflichten der beteiligten Fahrzeugführer.

Sorgfaltsverstöße und ihre Auswirkungen im Urteil

Ein wesentlicher Punkt in diesem Fall war die Feststellung von Sorgfaltsverstößen. Die Beklagte, die rückwärts fuhr, wurde als sorgfaltswidrig handelnd eingestuft. Es wurde festgestellt, dass sie die erforderliche Aufmerksamkeit beim Rückwärtsfahren missachtet hatte. Dies führte zu der Annahme, dass ein Großteil der Schuld bei ihr lag. Interessanterweise wurde kein Sorgfaltsverstoß bei der Fahrerin des Klägerfahrzeugs festgestellt, da sie ihr Fahrzeug vor der Kollision zum Stillstand gebracht hatte.

Schlüsselaspekte und Auswirkungen des Urteils

Das Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth betont die Bedeutung des individuellen Verhaltens und der Umstände bei Verkehrsunfällen. Es stellt klar, dass die Verantwortlichkeit nicht allein aufgrund der Tatsache, dass ein Fahrzeug rückwärtsfährt, zugewiesen werden kann. Vielmehr müssen alle Faktoren, wie die Unvermeidbarkeit des Unfalls und die Einhaltung der Verkehrspflichten, berücksichtigt werden. Dieses Urteil setzt damit wichtige Präzedenzfälle für ähnliche Fälle von Verkehrsunfällen, insbesondere auf Parkplätzen.

Wichtige Begriffe kurz erklärt


Was ist der Anscheinsbeweis und wie wird er im Verkehrsrecht angewendet?

Der Anscheinsbeweis, auch als Beweis des ersten Anscheins oder Prima-facie-Beweis bekannt, ist eine Methode der mittelbaren Beweisführung. Er erlaubt, gestützt auf Erfahrungssätze Schlüsse von bewiesenen auf zu beweisende Tatsachen zu ziehen. Eine Legaldefinition ist in Deutschland nicht vorhanden, aber das Gesetz nimmt vereinzelt auf den Anscheinsbeweis Bezug.

Im Verkehrsrecht wird der Anscheinsbeweis oft angewendet, wenn es typische Geschehensabläufe gibt, bei denen aus einem bestimmten Ereignis auf eine bestimmte Folge und umgekehrt auch aus einem bestimmten Folgeereignis auf eine bestimmte Ursache geschlossen werden kann. Ein klassisches Beispiel ist der Auffahrunfall, bei dem grundsätzlich der Beweis des ersten Anscheins gegen den Auffahrenden spricht. Es wird angenommen, dass er entweder nicht den erforderlichen Sicherheitsabstand eingehalten oder infolge von Unaufmerksamkeit nicht rechtzeitig auf ein Hindernis oder das Fahrverhalten eines Vorausfahrenden reagiert hat.

Der Anscheinsbeweis kann jedoch erschüttert werden, indem Tatsachen vorgetragen und bewiesen werden, die die Möglichkeit eines anderen (atypischen) Geschehensablaufs im Einzelfall begründen. Die vom Anscheinsbeweis begünstigte Partei muss dann auf andere Weise versuchen, das Gericht von der Wahrheit ihres Tatsachenvortrages zu überzeugen.

Ein Beweis des ersten Anscheins wird nicht schon dadurch zum Wanken gebracht, dass Gedanken und Spekulationen über die Möglichkeit eines nicht typischen Verlaufs des Geschehens unterbreitet werden. Ist der Anscheinsbeweis durch den Beweis von Tatsachen, die den Ablauf eines atypischen Geschehens als möglich erscheinen lassen, erfolgreich erschüttert, dann muss wieder derjenige, der überhaupt aus dem Schadensereignis Ersatzansprüche ableiten will, deren Voraussetzungen vollumfänglich beweisen.

Ein Beispiel für eine Situation, in der der Anscheinsbeweis erschüttert werden kann, ist, wenn der Auffahrende darlegen und beweisen kann, dass ein atypischer Verlauf, der die Verschuldensfrage in einem anderen Lichte erscheinen lässt, vorliegt.

Welche Rolle spielt die Haftungsverteilung bei Verkehrsunfällen?

Die Haftungsverteilung spielt eine entscheidende Rolle bei Verkehrsunfällen, da sie bestimmt, wer für die entstandenen Schäden verantwortlich ist und in welchem Ausmaß. In Deutschland regelt das Verkehrshaftungsrecht, wer die Haftung für Schäden übernimmt, die sich aus Verkehrsunfällen ergeben.

Grundsätzlich gilt, dass derjenige, der einen Schaden verursacht hat, dazu verpflichtet ist, diesen zu ersetzen. Dies kann durch vorsätzliches oder fahrlässiges Handeln geschehen. Vorsätzlich handelt, wer einen Schaden mit Wissen und Wollen herbeiführt, während fahrlässiges Handeln vorliegt, wenn die im Verkehr erforderliche Sorgfalt nicht beachtet wird.

Es gibt jedoch auch Fälle, in denen eine Haftung unabhängig von einem konkreten Verschulden besteht. Dies ist beispielsweise der Fall bei der sogenannten Betriebsgefahr eines Kraftfahrzeugs. Hier reicht bereits der Betrieb eines Fahrzeugs aus, um bei einem Unfall eine Haftung für entstandene Schäden zu begründen.

Wenn mehrere Parteien an einem Unfall beteiligt sind, wird die Haftung in der Regel aufgeteilt. Dabei werden die jeweiligen Verursachungsbeiträge abgewogen, um eine Haftungsquote zu bilden.

Es gibt jedoch auch Ausnahmen von der Haftung. So ist die Ersatzpflicht beispielsweise ausgeschlossen, wenn der Unfall durch höhere Gewalt verursacht wird, wie etwa durch einen Blitzeinschlag oder einen Terroranschlag.

In der Praxis kann die Durchsetzung von Schadenersatzansprüchen nach einem Verkehrsunfall jedoch komplex und zeitaufwendig sein. Oftmals müssen Geschädigte Beweise und Belege sammeln, Formulare ausfüllen und sich mit der gegnerischen Versicherung auseinandersetzen. Daher kann es hilfreich sein, einen Rechtsbeistand in Anspruch zu nehmen.


Das vorliegende Urteil

LG Nürnberg-Fürth – Az.: 8 S 4857/15 – Urteil vom 21.12.2015

1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Amtsgerichts Nürnberg vom 16.06.2015, Az. 15 C 9565/14, abgeändert.

1. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger 2.167,16 € nebst Zinsen heraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 28.07.2014 sowie 281,30 € außergerichtliche Rechtsverfolgungskosten zu bezahlen.

2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

2. Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.

3. Von den Kosten des Rechtsstreits erster Instanz tragen die Beklagten gesamtschuldnerisch 80%, der Kläger 20%; von den Kosten des Berufungsverfahrens tragen die Beklagten gesamtschuldnerisch 40%, der Kläger 60%.

4. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

5. Die Revision gegen dieses Urteil wird zugelassen.

Beschluss

Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 901,98 € festgesetzt.

Gründe

Die Berufung ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt und begründet (§§ 517, 519 f. ZPO). In der Sache ist das Rechtsmittel aber nur zu einem kleinen Teil begründet.

A. In tatsächlicher Hinsicht wird auf den Tatbestand des Ersturteils Bezug genommen (§ 540 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ZPO).

Das Amtsgericht ist von einer Mithaftung des Klägers von 1/3 ausgegangen und hat der auf Zahlung von 2.705,95 € in der Hauptsache gerichteten Klage in Höhe von 1.803,97 € stattgegeben. Hiergegen richtet sich die Berufung des Klägers, der seine erstinstanzlichen Anträge in vollem Umfang weiter verfolgt.

Eine Beweisaufnahme hat im Berufungsverfahren nicht stattgefunden. Im Übrigen wird auf die gewechselten Schriftsätze samt Anlagen Bezug genommen.

Mit Beschluss vom 26.11.2015 hat die Kammer im Einverständnis der Parteien die Entscheidung im schriftlichen Verfahren angeordnet, wobei die Frist zur Einreichung von Schriftsätzen auf den 14.12.2015 bestimmt war.

B. Das Amtsgericht hat nach Ansicht der Kammer die Mithaftung des Klägers nach § 17 Abs. 1, 2 StVG mit 1/3 zu hoch angesetzt. Die im Berufungsverfahren zu Grunde zu legenden Tatsachen (§§ 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3, 529 Abs. 1 ZPO) führen die Kammer zu einer höheren gesamtschuldnerischen Haftung der Beklagten von 80% (§§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG, § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, S. 4 VVG).

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I. Die Kammer ist zu einer vollständigen Überprüfung der Abwägungsentscheidung nach § 17 StVG berechtigt und verpflichtet (Kammerurteil NZV 2011, 346; ebenso OLG Oldenburg r+s 2011, 445).

II. Nach den Feststellungen des Amtsgerichts ist das Klägerfahrzeug nach dem rückwärts Ausparken zumindest unmittelbar vor der Kollision mit dem sich seinerseits in Rückwärtsfahrt befindlichen Beklagtenfahrzeug zum Stehen gekommen. Dass das Klägerfahrzeug zum Kollisionszeitpunkt bereits längere Zeit gestanden habe, sei nicht nachweisbar. Auch bei Annahme eines praktisch zeitgleichen Eintreffens der beiden Fahrzeuge an der Kollisionsstelle sei es das Klägerfahrzeug gewesen, das zuerst die Parkbucht verlassen habe und dann erst sei das Beklagtenfahrzeug angefahren.

Hiergegen bringt die Berufungsbegründung keine konkreten Anhaltspunkte vor, die Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der Tatsachenfeststellungen im angefochtenen Urteil i.S.d. §§ 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 ZPO begründen könnten.

Auch die Kammer ist davon überzeugt, dass ein Nachweis einer längeren Standphase des Klägerfahrzeugs nicht nachweisbar ist. Auch wenn man in die Würdigung der Angaben der beiden Fahrerinnen einstellt, dass die Angaben der Beklagten zu 1 insoweit widerlegt sind, als diese angab, im Moment der Kollision gestanden zu haben, so bleibt doch andererseits ebenfalls zu sehen, dass die Fahrerin des Klägerfahrzeugs wohl ebenfalls den Ablauf nicht in vollem Umfang korrekt wiederzugeben vermochte: Nach deren Angaben sei sie bereits so gestanden, dass sie nach vorne habe wegfahren können, um den Parkplatz zu verlassen. Nach den Ausführungen des unfallanalytischen Sachverständigen wäre dieses behauptet geplante Fahrmanöver aus räumlichen Gründen aber gar nicht realisierbar gewesen. Diese Feststellung greift die Berufungsbegründung nicht an. Dann aber kann – wie vom Amtsgericht überzeugend dargelegt – im weiteren nicht die Angabe der Fahrerin des Klägerfahrzeugs und ihres Beifahrers zugrunde gelegt werden, dass das Klägerfahrzeug im Moment der Kollision „ein paar Sekunden“, „vielleicht eine halbe Minute“ gestanden habe.

III. Auf Grundlage dieser Feststellungen sind im Rahmen der Haftungsabwägung nach § 17 Abs. 1, 2 StVG folgende Umstände zu würdigen.

1. Der Kläger kann sich nicht darauf berufen, dass das Unfallgeschehen für seine Fahrerin unabwendbar i.S.d. § 17 Abs. 3 StVG war.

a) Ein unabwendbares Ereignis im Sinne von § 17 Abs. 3 Satz 1, 2 StVG liegt nicht nur bei absoluter Unvermeidbarkeit des Unfalls vor, sondern auch dann, wenn dieser bei Anwendung der äußersten möglichen Sorgfalt nicht abgewendet werden konnte. Hierzu gehört ein sachgemäßes, geistesgegenwärtiges Handeln über den Maßstab der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt im Sinne von § 276 BGB hinaus, so dass der Fahrer, der mit Erfolg die Unabwendbarkeit des Unfalls geltend machen will, sich wie ein „Idealfahrer“ verhalten haben muss (BGH NJW 1998, 2222). Dabei darf sich die Prüfung aber nicht auf die Frage beschränken, ob der Fahrer in der konkreten Gefahrensituation wie ein „Idealfahrer“ reagiert hat, vielmehr ist sie auf die weitere Frage zu erstrecken, ob ein „Idealfahrer“ überhaupt in eine solche Gefahrenlage geraten wäre, denn der sich aus einer abwendbaren Gefahrenlage entwickelnde Unfall wird nicht dadurch unabwendbar, dass sich der Fahrer in der Gefahr nunmehr (zu spät) „ideal“ verhält. Damit verlangt § 17 Abs. 3 S. 1, 2 StVG, dass der „Idealfahrer“ in seiner Fahrweise auch die Erkenntnisse berücksichtigt, die nach allgemeiner Erfahrung geeignet sind, Gefahrensituationen nach Möglichkeit zu vermeiden (BGH VersR 2006, 369).

b) Der Sachverständige hat ausgeführt, dass in technischer Hinsicht der Unfall für die Fahrerin des Klägerfahrzeugs dann nicht mehr vermeidbar war, wenn sie sich mehr als fünf Sekunden im Stillstand befand. Dieser Beweis ist dem insoweit beweisbelasteten Kläger aber nicht gelungen.

Die Fahrerin des Klägerfahrzeugs hat aber auch nicht dadurch den Anforderungen an einen „Idealfahrer“ genügt, dass sie vorkollisionär zum Stehen gekommen ist (dazu und zum folgenden zutreffend LG Saarbrücken DAR 2013, 520). Denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass ein Idealfahrer das Beklagtenfahrzeug hätte rechtzeitig erkennen und den Unfall verhindern können. Ein Idealfahrer hätte insoweit bereits mit dem Beginn der Fahrbewegung des Beklagtenfahrzeug die Möglichkeit eines Ausparkens durch die Beklagte zu 1 in Betracht gezogen und den eigenen Ausparkvorgang – ggfl. unter Benutzung von Warnzeichen – früher unterbrochen oder notfalls ganz zurückgestellt, wenn er eine Kollision bis zum vollständigem Abschluss des Ausparkvorgangs nicht sicher ausschließen konnte. Dass die Fahrerin des Klägerfahrzeugs sich entsprechend verhalten hätte, ist jedenfalls nicht beweissicher festzustellen.

2. Das Amtsgericht ist zutreffend von einem Sorgfaltsverstoß der Beklagten zu 1 ausgegangen.

Diese ist unter Außerachtlassen der gebotenen Sorgfalt rückwärts gefahren. Die Verhaltensvorschriften der StVO beziehen sich grundsätzlich nur auf Vorgänge im öffentlichen Verkehrsraum, wozu aber auch – wie hier – öffentlich und frei zugängliche Parkplätze gehören (OLG Hamm r+s 2015, 37; OLG Düsseldorf DAR 2000, 175; KG NZV 2003, 381). Ob der Beklagten zu 1 konkret ein Verstoß gegen § 9 Abs. 5 StVO oder – überzeugender – gegen § 1 Abs. 2 StVO vorzuhalten ist (zu den Argumenten hierfür LG Saarbrücken NZV 2014, 572), kann im Ergebnis dahinstehen (ebenso OLG Hamm r+s 2013, 42).

So spricht gegen die im Moment der Kollision mit ihrem Fahrzeug in Rückwärtsbewegung befindliche Beklagte zu 1 bereits der Beweis des ersten Anscheins für einen schuldhaften Sorgfaltsverstoß. Der nach einhelliger Meinung für die Anwendbarkeit des Anscheinsbeweises jedenfalls erforderliche örtliche und zeitliche Zusammenhang mit dem Rückwärtsfahren (z.B. OLG München NZV 2014, 416; KG NZV 2009, 393; OLG Brandenburg Schaden-Praxis 2007, 316) ist bei einer – hier bewiesenen – Rückwärtsbewegung im Moment der Kollision unzweifelhaft gegeben.

Auf dieser Grundlage könne sich die Beklagten auch nicht darauf berufen, dass der Unfall für die Beklagte zu 1 unvermeidbar i.S.d. § 17 Abs. 1, 2 StVG war.

3. Ein Verstoß der Fahrerin des Klägerfahrzeugs gegen Verstoß § 9 Abs. 5 StVO bzw. § 1 Abs. 2 StVO ist hingegen nicht festzustellen.

a) Die Kammer hält – anders als das Amtsgericht – einen Anscheinsbeweis in einer Situation, wo das Fahrzeug jedenfalls unmittelbar vor der Kollision mit einem ebenfalls rückwärtsfahrenden Fahrzeug nach eigener Rückwärtsfahrt zum Stillstand gebracht worden ist, nicht für anwendbar (ebenso LG Saarbrücken DAR 2013, 520; a.A. OLG Hamm r+s 2013, 42, je m.w.N.).

b) Der Anscheinsbeweis setzt einen typischen Geschehensablauf voraus, also einen bestimmten Tatbestand, der nach der Lebenserfahrung auf eine bestimmte Ursache für den Eintritt eines bestimmten Erfolgs hinweist. Allein eine Risikoerhöhung reicht dafür nicht aus. Im Wege des Anscheinsbeweises kann gegebenenfalls von dem eingetretenen Erfolg auf die Ursache geschlossen werden. Der Beweis des ersten Anscheins wird durch feststehende (erwiesene oder unstreitige) Tatsachen entkräftet, nach welchen die Möglichkeit eines anderen als des typischen Geschehensablaufs ernsthaft in Betracht kommt (BGH NJW 2013, 2901).

Ein Beweis des ersten Anscheins ist dann möglich, wenn im Einzelfall ein typischer Geschehensablauf vorliegt, der nach der Lebenserfahrung auf eine bestimmte Ursache hinweist und so sehr das Gepräge des Gewöhnlichen und Üblichen trägt, dass die besonderen individuellen Umstände in ihrer Bedeutung zurücktreten (BGHZ 100, 214, 216; 160, 308, 313). Dabei bedeutet Typizität nicht, dass die Ursächlichkeit einer bestimmten Tatsache für einen bestimmten Erfolg bei allen Sachverhalten dieser Fallgruppe notwendig immer vorhanden ist; sie muss aber so häufig gegeben sein, dass die Wahrscheinlichkeit, einen solchen Fall vor sich zu haben, sehr groß ist (BGHZ 160, 308, 313).

c) Die erforderliche Typizität liegt in der streitgegenständlichen Konstellation nach Ansicht der Kammer nicht vor.

Der auf einem Parkplatz rückwärts Fahrende muss sich so vorsichtig verhalten, dass er bei einem plötzlich auftauchenden Hindernis (Fußgänger oder anderes ausparkendes Fahrzeug) so schnell bremsen kann, dass eine Kollision vermieden wird (ebenso LG Saarbrücken DAR 2013, 520). Diese Sorgfaltsanforderungen gelten bei zwei sich rückwärtsfahrend annähernden Fahrzeugen für beide Fahrzeugführer in gleicher Weise. Gelingt nun einem Fahrer – anforderungsgerecht – das Abbremsen bis zum Stillstand, besteht jedenfalls die ernsthafte Möglichkeit, dass der Rückwärtsfahrer in Erfüllung all seiner Verkehrspflichten rechtzeitig angehalten und nur der im Fahren befindliche Unfallgegner den Unfall verschuldet hat (LG Saarbrücken aaO).

Der Einwand des OLG Hamm (r+s 2013, 42), wonach die mit der Rückwärtsfahrt typischerweise verbundenen Gefahren, nicht sogleich mit dem Stillstand des Fahrzeugs enden und anderenfalls die Haftung von der Frage abhinge, ob es dem Rückwärtsfahrenden (zufällig) noch gelingt, sein Fahrzeug vor dem Zusammenstoß zum Stillstand zu bringen, überzeugen nicht. Gelingt es einem Rückwärtsfahrenden auf einem Parkplatz, sein Fahrzeug vor einer Kollision zum Stillstand abzubremsen, so erfolgt das nicht „zufällig“, sondern in Erfüllung der an ihn gerichteten Aufmerksamkeitsanforderungen. Mit Erfüllung und Umsetzung der geforderten sofortigen Bremsbereitschaft endet auch die (spezifische) Gefahr des Rückwärtsfahrens. Ein auf einem Parkplatz zum Stillstand gebrachtes Fahrzeug stellt keine spezifische höhere Gefahr dar, als ein aus der Vorwärtsfahrt zum Stillstand gebrachtes. Hätte der Unfallgegner in gleicher Weise reagiert, wäre es nicht zur Kollision gekommen. Da sich auf einem Parkplatz wie dem streitgegenständlichen keine schnellen, „durchfahrenden“ Fahrzeuge begegnen, sondern langsame, „suchende“, ist dies ein ausschlaggebender Faktor (hierzu ausführlich und überzeugend LG Saarbrücken DAR 2013, 520).

Nach alledem kann ein Anscheinsbeweis nicht gegen denjenigen ins Feld geführt werden, der nach Rückwärtsfahrt auf einem Parkplatz sein Fahrzeug im Moment des Zusammenstoßes zum Stillstand abgebremst hatte.

d) In sonstiger Weise – „positiv“ ist eine Unaufmerksamkeit der Fahrerin des Klägerfahrzeugs nicht beweisbar. Auf Seiten des Klägers ist deshalb lediglich die „einfache“, nicht erhöhte Betriebsgefahr seines Fahrzeugs in die Abwägung einzustellen.

4. Nach Ansicht der Kammer ist in der streitgegenständlichen Konstellation, in der auf einem Parkplatz ein rückwärtsfahrendes Fahrzeug gegen ein nach seinerseitiger Rückwärtsfahrt zum Stehen gebrachtes Fahrzeug fährt, eine Haftung dieses Fahrzeugs mit der einfachen Betriebsgefahr von 20% sachgerecht (ebenso LG Saarbrücken DAR 2013, 520). Zwar könnte der Umstand, dass das Klägerfahrzeug bereits einen relevanten Zeitraum vor der Kollision stand, ein Zurücktreten dessen Betriebsgefahr rechtfertigen; ein solch längerer Zeitraum ist aber nicht bewiesen.

Der Hinweis der Beklagten auf die Entscheidung des LG Heidelberg NZV 2015, 299, wo eine Haftung von 1/3 zu 2/3 angenommen wurde, geht fehl. Zum einen befanden sich dort beide Fahrzeuge bei der Kollision in Rückwärtsfahrt, zum anderen bewegte sich ein Fahrzeug dabei in die in die entgegengesetzte Richtung zu einem auf dem Boden aufgebrachten Pfeil.

II. Ausgehend von einer im Berufungsverfahren unstreitigen Schadenshöhe von insgesamt 2.705,95 € haften die Beklagten damit in Höhe von 2.167,16 € zzgl. Zinsen (§§ 286 Abs. 1 S. 1, 288 Abs. 1 BGB), sowie auf vorgerichtliche Rechtsverfolgungskosten in hieraus resultierender Höhe (281,30 €; § 249 Abs. 2 S. 2 BGB).

C. Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1, die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit auf §§ 708 Nr. 10, 711, 709 S. 2 ZPO.

Die Kammer lässt im Hinblick auf die entscheidungserhebliche Abweichung von der Entscheidung (u.a.) des OLG Hamm (r+s 2013, 42) – wie bereits das LG Saarbrücken (DAR 2013, 520) – die Revision zu (§ 543 Abs. 2 Nr. 2 ZPO).

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