Vorfahrt missachtet: Alleinige Haftung bei Rechtsfahrgebot-Verstoß
Das Berufungsgericht hat das erstinstanzliche Urteil teilweise geändert und die Beklagten zu Schadensersatz und zur Zahlung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten an die Klägerin verurteilt. Es hat festgestellt, dass die Beklagte zu 1) das Vorfahrtsrecht der Klägerin verletzt hat und ein Verkehrsverstoß gegen das Rechtsfahrgebot vorlag. Fehlverhalten der Klägerin, wie eine zu hohe Geschwindigkeit oder unzureichende Aufmerksamkeit, wurde nicht als unfallursächlich angesehen. Die Beklagten haften allein für die Unfallfolgen.
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✔ Das Wichtigste in Kürze
Die zentralen Punkte aus dem Urteil:
- Die Berufung der Klägerin war erfolgreich, und die Beklagten wurden zu Schadensersatz verurteilt.
- Die Verletzung des Vorfahrtsrechts durch die Beklagte zu 1) wurde als ursächlich für den Unfall angesehen.
- Keine Mithaftung der Klägerin wegen angeblicher Verkehrsverstöße wie zu hohe Geschwindigkeit oder Unaufmerksamkeit.
- Das Gericht verneinte einen Verstoß gegen die Grundsätze der „halben Vorfahrt“ durch die Klägerin.
- Vertrauensgrundsatz schützt den Vorfahrtsberechtigten, hier die Klägerin, bei korrektem Verhalten.
- Ein Verkehrsverstoß der Beklagten zu 1) gegen das Rechtsfahrgebot wurde festgestellt und beeinflusste die Haftungsabwägung.
- Die alleinige Haftung der Beklagten für die Unfallfolgen wurde bestätigt.
- Die vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten der Klägerin sind als Teil des Schadens ersatzfähig.
Übersicht:
Halbe Vorfahrt: Tücken und Herausforderungen im Straßenverkehr
Im Straßenverkehr gibt es zahlreiche Regeln und Vorschriften, die für einen reibungslosen und sicheren Ablauf sorgen sollen. Eine davon ist die Regelung der Vorfahrt, die insbesondere an Kreuzungen ohne spezielle Beschilderung zu beachten ist. In diesen Fällen gilt die sogenannte „halbe Vorfahrt“, bei der Fahrzeuge von links Vorrang gegenüber denen von rechts haben.
Diese Regelung kann jedoch zu komplizierten Situationen führen, da sich jeder Heranfahrende gegenüber dem von links Kommenden vorfahrtsberechtigt fühlt, jedoch gegenüber Verkehrsteilnehmern von rechts wartepflichtig ist. Es ist daher wichtig, dass alle Fahrer eine angepasste Fahrweise an Kreuzungen ohne spezielle Vorfahrtsregelungen einnehmen, um Unfälle zu vermeiden.
Am 16. Mai 2022 ereignete sich ein Verkehrsunfall, der rechtliche Auseinandersetzungen zwischen den beteiligten Parteien nach sich zog. Im Zentrum des Falls stand die Klägerin, die mit ihrem PKW unterwegs war, und die Beklagte zu 1, die beim Abbiegen mit dem Fahrzeug der Klägerin kollidierte. Die zentrale Frage drehte sich um die „halbe Vorfahrt“ und die damit verbundenen Verpflichtungen und Rechte der Verkehrsteilnehmer.
Die Klärung des Vorfahrtsrechts
Die Klägerin machte Schadensersatzansprüche geltend, da sie der Auffassung war, die Beklagte zu 1 habe ihr Vorfahrtsrecht missachtet. Die Beklagte zu 2, bei der das Fahrzeug der Beklagten zu 1 haftpflichtversichert war, regulierte den Unfallschaden unter Annahme einer Mithaftung der Klägerin zu 25 %. Die Erstinstanz wies die Forderungen der Klägerin teilweise zurück, woraufhin diese Berufung einlegte.
Haftungsabwägung und Verkehrssicherheitspflichten
Das Landgericht Saarbrücken befasste sich in seiner Entscheidung intensiv mit den Grundsätzen der „halben Vorfahrt“. Es stellte klar, dass die Klägerin zwar grundsätzlich Vorfahrtsberechtigte war, das aber nicht automatisch eine Mithaftung der Beklagten ausschloss. Von entscheidender Bedeutung war die Frage, ob die Klägerin die notwendige Sorgfalt walten ließ und insbesondere ihre Geschwindigkeit den Umständen entsprechend anpasste.
Der Einfluss des Verkehrsverhaltens auf die Unfallursache
Das Gericht fand keine Beweise dafür, dass die Klägerin zu schnell unterwegs war oder ihre Pflicht zur Rücksichtnahme verletzt hatte. Ebenso wenig konnte ihr ein Vorwurf gemacht werden, dass sie den Verkehr nicht ausreichend beobachtet hätte. Die Beklagten trugen die Beweislast für einen unfallursächlichen Pflichtverstoß der Klägerin, konnten diesen jedoch nicht erbringen.
Rechtsfolgen und Schadensersatz
Letztendlich entschied das Gericht, dass die Beklagten aufgrund des Vorfahrtsverstoßes und des Verstoßes gegen das Rechtsfahrgebot der Beklagten zu 1 für die Unfallfolgen allein haften. Der Klägerin wurde der restliche Schadensersatz sowie die vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten zugesprochen. Die Entscheidung unterstreicht die Bedeutung der Einhaltung von Verkehrsvorschriften und die Notwendigkeit einer sorgfältigen Haftungsabwägung bei Unfällen.
Das Urteil des Landgerichts Saarbrücken verdeutlicht die Komplexität von Verkehrsunfällen, bei denen die „halbe Vorfahrt“ eine Rolle spielt. Es betont die Wichtigkeit der genauen Betrachtung des Einzelfalls, um zu einer gerechten Entscheidung zu kommen. Die richtige Einschätzung der Verkehrssituation und das angemessene Verhalten im Straßenverkehr sind entscheidend, um die Sicherheit aller Verkehrsteilnehmer zu gewährleisten und rechtliche Konsequenzen zu vermeiden.
✔ FAQ: Wichtige Fragen kurz erklärt
Was versteht man unter „halber Vorfahrt“ im Verkehrsrecht?
Der Begriff „halbe Vorfahrt“ bezieht sich auf eine spezielle Situation im Straßenverkehr, insbesondere an Kreuzungen, die nicht durch Vorfahrtszeichen geregelt sind. In dieser Situation ist ein Verkehrsteilnehmer gegenüber Fahrzeugen, die von links kommen, vorfahrtsberechtigt, muss aber gegenüber Fahrzeugen, die von rechts kommen, die Vorfahrt gewähren.
Die Regelung der „halben Vorfahrt“ verpflichtet den vorfahrtsberechtigten Verkehrsteilnehmer, eine mäßige Geschwindigkeit gemäß § 8 Abs. 2 Satz 1 der Straßenverkehrsordnung (StVO) einzuhalten und sich darauf einzustellen, dass er notfalls anhalten kann. Dies ist besonders relevant, wenn der Vorfahrtsberechtigte eine Kreuzung anfährt, an der er schlecht und eingeschränkt nach rechts einsehen kann.
Sollte es zu einem Unfall kommen, kann die „halbe Vorfahrt“ dem Wartepflichtigen helfen, wenn der Vorfahrtsberechtigte auf eine solche Kreuzung zufährt. Allerdings ist die Bewertung immer eine Sache des Einzelfalls und der jeweiligen Konstellation. In einigen Fällen kann der Vorfahrtsberechtigte ein Mitverschulden tragen, wenn er beispielsweise trotz einer Sichtbehinderung, wie einer Mauer oder eines Gebäudes, zu schnell in die Kreuzung einfährt.
Es ist daher ratsam, bei einem Unfall ausreichend Fotos von der Stellung der Fahrzeuge und der Örtlichkeit zu machen, um die Situation im Nachhinein besser beurteilen zu können.
Welche Rolle spielt das Rechtsfahrgebot nach § 2 Abs. 2 StVO bei der Beurteilung von Verkehrsunfällen?
Das Rechtsfahrgebot, festgelegt in § 2 Abs. 2 der Straßenverkehrsordnung (StVO), spielt eine entscheidende Rolle bei der Beurteilung von Verkehrsunfällen. Es verpflichtet Fahrzeugführer dazu, auf Straßen möglichst weit rechts zu fahren, um die Sicherheit aller Verkehrsteilnehmer zu gewährleisten und den Verkehrsfluss zu optimieren. Verstöße gegen dieses Gebot können zu Verkehrsunfällen führen und haben direkte Auswirkungen auf die Haftungsfrage.
Bei der Kollision von Fahrzeugen sind die genauen Umstände des Unfalls und die Einhaltung des Rechtsfahrgebots von zentraler Bedeutung. Ein Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot kann die Haftungsverteilung maßgeblich beeinflussen. Gerichte berücksichtigen bei ihrer Entscheidungsfindung, ob und inwieweit das Rechtsfahrgebot missachtet wurde.
Das Rechtsfahrgebot gilt grundsätzlich auf allen Straßen, wobei es Ausnahmen gibt, beispielsweise auf Autobahnen oder mehrspurigen Straßen, wo bei hoher Verkehrsdichte vom Rechtsfahrgebot abgewichen werden darf. Nichtsdestotrotz ist die Einhaltung des Rechtsfahrgebots außerhalb dieser Ausnahmen verpflichtend. Verstöße gegen das Rechtsfahrgebot werden mit Bußgeldern, Punkten im Fahreignungsregister und in schweren Fällen sogar mit einem Fahrverbot geahndet.
In der Praxis bedeutet dies, dass bei einem Verkehrsunfall, der durch einen Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot verursacht wurde, der verantwortliche Fahrer mit rechtlichen Konsequenzen rechnen muss. Dies kann von finanziellen Strafen bis hin zu Punkten im Fahreignungsregister reichen. Zudem kann ein solcher Verstoß die Haftungsverteilung bei einem Unfall beeinflussen, sodass der Verursacher einen höheren Anteil der Verantwortung trägt.
Zusammenfassend ist das Rechtsfahrgebot ein fundamentaler Bestandteil der Straßenverkehrsordnung, dessen Einhaltung für die Sicherheit im Straßenverkehr und die Beurteilung von Verkehrsunfällen von großer Bedeutung ist. Verstöße gegen dieses Gebot können schwerwiegende rechtliche und finanzielle Folgen nach sich ziehen und die Haftungsfrage bei Unfällen maßgeblich beeinflussen.
Das vorliegende Urteil
LG Saarbrücken – Az.: 13 S 30/23 – Urteil vom 10.11.2023
1. Auf die Berufung der Klägerin wird das am 21.03.2022 verkündete Urteil des Amtsgerichts St. Wendel (13 C 632/22) teilweise abgeändert und die Beklagten als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin 925,76 Euro sowie vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von insgesamt 453,87 Euro, jeweils nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit dem 09.07.2022, zu zahlen.
2. Die Kosten des Rechtsstreits beider Instanzen tragen die Beklagten als Gesamtschuldner.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
4. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Die Klägerin nimmt die Beklagten auf restlichen Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall in Anspruch, der sich am 16.05.2022 in … ereignete und in dessen Folge der Klägerin unstreitig ein Schaden in Höhe von 3.703,04 € Euro entstanden ist.
Die Klägerin befuhr mit ihrem PKW mit dem amtlichen Kennzeichen … die … in … in Fahrtrichtung Ortsmitte. Die Beklagte zu 1) befuhr die vorgenannte Straße in entgegengesetzter Richtung mit dem bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten PKW mit dem amtlichen Kennzeichen … und beabsichtigte, nach links in die … abzubiegen, wobei sie vorkollisionär die linke Fahrbahnseite der … befuhr. Im Bereich der Einmündung der … in die … kam es zur Kollision der beiden Fahrzeuge. Unter dem 29.06.2022 forderte der Bevollmächtigte der Klägerin die Beklagte zu 2) auf, bis zum 08.07.2022 3.703,04 € sowie Gebühren für die rechtsanwaltliche Tätigkeit in Höhe von 453,87 € zu zahlen. Die Beklagte zu 2) regulierte die Unfallschäden der Klägerin – ohne vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten – unter Annahme einer Mithaftung der Klägerin zu 25 % in Höhe von 2.777,28 Euro.
Erstinstanzlich hat die Klägerin die Beklagten auf Zahlung von restlichem Schadensersatz in Höhe von 925,76 Euro und von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 453,87 Euro in Anspruch genommen. Hierzu hat sie geltend gemacht, die Beklagten hafteten wegen der Missachtung des Vorfahrtsrechts der Klägerin durch die Beklagte zu 1) allein. Es sei nicht zutreffend, dass die Klägerin ausschließlich nach rechts geschaut habe. Sie habe noch gebremst, den Unfall jedoch nicht mehr vermeiden können, da sich das Fahrzeug der Beklagten zu 1) überraschend plötzlich vor ihr befunden habe. Die Beklagte zu 1) habe sich indes auch nicht richtig zum Abbiegen nach links in die … eingeordnet und auch deshalb die Kollision alleine zu verantworten.
Die Klägerin hat beantragt,
1. die Beklagten gesamtschuldnerisch zu verurteilen, an die Klägerin 925,76 € zu zahlen nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz hieraus seit 09.07.2022;
2. die Beklagten gesamtschuldnerisch zu verurteilen, an die Klägerin zu Händen ihres Prozessbevollmächtigten außergerichtliche Anwaltskosten in Höhe von 453,87 € zu zahlen nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz hieraus seit 09.07.2022;
Die Beklagten haben beantragt, die Klage abzuweisen.
Sie haben geltend gemacht, die Klägerin habe das Unfallereignis mitverantwortlich verursacht, indem sie unter Verstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO unaufmerksam in den Kreuzungsbereich eingefahren und, nur nach rechts schauend und ohne zu bremsen, mit dem Beklagtenfahrzeug kollidiert sei. Die Klägerin müsse sich jedenfalls die Betriebsgefahr des von ihr geführten Fahrzeuges anrechnen lassen, da sich das Beklagtenfahrzeug bereits mittig im Kreuzungsbereich befunden habe und für die Klägerin weithin erkennbar gewesen sei.
Das Amtsgericht, auf dessen tatsächliche Feststellungen gemäß § 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO ergänzend Bezug genommen wird, hat allein dem Klageantrag zu 2) in Höhe von 367,23 Euro stattgegeben. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Klägerin hätte nach den Grundsätzen zur sog. „halben Vorfahrt“ vor der Einfahrt in den Einmündungsbereich im Rahmen der Grundregel des § 1 StVO zu prüfen gehabt, ob von links kommende Fahrzeuge ihre Vorfahrt beachten würden. Bei gehöriger Sorgfalt hätte die Klägerin die Vorfahrtsverletzung der Beklagten zu 1) erkennen können und von der Inanspruchnahme der Vorfahrt absehen müssen.
Hiergegen richtet sich die Berufung der Klägerin, mit der diese ihre Klage in vollem Umfang weiterverfolgt. Das Amtsgericht habe zu Unrecht einen Verstoß gegen die Grundsätze der sog. „halben Vorfahrt“ angenommen. Die Klägerin habe als Vorfahrtsberechtigte ihr Augenmerk alleine auf den ihr gegenüber bevorrechtigten, von rechts kommenden Verkehr richten dürfen.Das Fahrverhalten der Beklagten zu 1) sei so eklatant verkehrswidrig gewesen, dass jedenfalls die Betriebsgefahr der Klägerin dahinter zurücktrete. Das Amtsgericht habe auch keine Feststellung dazu getroffen, mit welcher Geschwindigkeit die Klägerin gefahren und ob der Unfall für sie tatsächlich vermeidbar gewesen sei.
Die Klägerin beantragt, das Urteil des Amtsgerichtes St. Wendel vom 21.03.2023, Az.: 13 C 632/22 abzuändern und die Beklagten gesamtschuldnerisch zu verurteilen, an die Klägerin weitere 925,76 € zu zahlen nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz hieraus seit dem 09.07.2022 sowie weitere außergerichtliche Anwaltskosten in Höhe von 86,64 € nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz hieraus seit dem 09.07.2022.
Die Beklagten beantragen, die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigen die angefochtene Entscheidung.
Wegen des Sach- und Streitstands im Übrigen wird auf die zwischen den Parteien zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung in der Berufungsinstanz gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.
II.
Die Berufung ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt. Auch in der Sache hat das Rechtsmittel Erfolg.
1. Zu Recht ist das Erstgericht zunächst davon ausgegangen, dass sowohl die Klägerseite als auch die Beklagtenseite grundsätzlich für die Folgen des streitgegenständlichen Unfallgeschehens gem. §§ 7, 17, 18 Straßenverkehrsgesetz (StVG) i.V.m. § 115 Versicherungsvertragsgesetz (VVG) einzustehen haben, weil die Unfallschäden jeweils bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeuges entstanden sind, der Unfall nicht auf höhere Gewalt zurückzuführen ist und nicht festgestellt werden kann, dass der Unfall für einen der beteiligten Fahrer ein unabwendbares Ereignis i.S.d. § 17 Abs. 3 StVG darstellte. Gemäß § 17 Abs. 3 StVG ist die Verpflichtung zum Ersatz nach § 17 Abs. 1 und Abs. 2 StVG für denjenigen ausgeschlossen, für den sich der Unfall als unabwendbares Ereignis darstellt. Unabwendbar ist ein Ereignis dann, wenn es auch durch äußerste Sorgfalt – gemessen an den Anforderungen eines Idealfahrers – nicht abgewendet werden kann. Hierzu gehört ein sachgemäßes, geistesgegenwärtiges Handeln erheblich über den Maßstab der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt im Sinne von § 276 BGB hinaus (Kammer, Urteil vom 11. November 2022 – 13 S 23/22 –, juris mwN). Ein Idealfahrer legt ein Fahrverhalten an den Tag, das mit Blick auf Aufmerksamkeit, Geschicklichkeit und Umsicht erheblich über dem des Fahrerdurchschnitts liegt, nicht nur alle Verkehrsvorschriften beachtet, sondern unter Berücksichtigung aller möglichen Gefahrmomente einschließlich fremder Fahrfehler Gefahrsituationen nach Möglichkeit zu vermeiden sucht (OLG Hamm, ZfSch 2022, 201). Gemessen an diesem Maßstab kann sich jedenfalls die Beklagte zu 1) nicht auf ein unabwendbares Ereignis berufen; hinsichtlich der Klägerin kann diese Frage mit Blick auf die folgenden Ausführungen mangels Entscheidungserheblichkeit dahingestellt bleiben.
2. Das Erstgericht ist ferner zutreffend davon ausgegangen, dass im Verhältnis der Fahrzeughalter untereinander die Ersatzverpflichtung davon abhängt, inwieweit der Schaden von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist (§ 17 Abs. 1, 2 StVG).
3. Im Rahmen der danach gebotenen Abwägung der wechselseitigen Verursachungs- und Verschuldensanteile hat das Erstgericht zutreffend angenommen, die Beklagte zu 1) habe das Vorfahrtsrecht der Klägerin gem. § 8 Abs. 1 Satz 1 StVO („rechts vor links“) missachtet und hierdurch den Unfall (mit-)verschuldet. Dies wird auch von den Beklagten nicht in Zweifel gezogen.
4. Daneben hat das Erstgericht jedoch auch einen Verkehrsverstoß der Klägerin gegen § 1 Abs. 2 StVO in die Haftungsabwägung eingestellt. Hiergegen wendet sich die Berufung mit Recht.
a) Wie das Erstgericht in der Sache zutreffend erkannt hat, liegt hier ein Fall der sog. „halben Vorfahrt“ vor, in dem die Klägerin mangels besonderer Beschilderung gemäß § 8 Abs. 2 Satz 1 StVO gegenüber den von rechts kommenden Verkehrsteilnehmern wartepflichtig, gegenüber den von links kommenden Verkehrsteilnehmern jedoch vorfahrtsberechtigt war („rechts vor links“). In einem solchen Fall darf ein Verkehrsteilnehmer – dies ist im Ausgangspunkt unbestritten – grundsätzlich darauf vertrauen, dass der ihm gegenüber wartepflichtige, von links kommende Verkehrsteilnehmer sein Vorfahrtsrecht beachtet (vgl. BGH, Urteil vom 21. Mai 1985 – VI ZR 201/83 –, juris Rn. 17; OLG Hamm, Urteil vom 9. Juni 2020 – I-7 U 19/19 –, Rn. 54, juris; Kammer, zuletzt Urteil vom 2. Juli 2021 – 13 S 40/21). Allerdings können den Vorfahrtsberechtigten in Fällen der „halben Vorfahrt“ aus anderem Grunde auch Schutzpflichten zugunsten des Wartepflichtigen treffen. Nach § 8 Abs. 2 Satz 1 StVO muss auch ein Verkehrsteilnehmer, der sich einer Kreuzung mit „halber Vorfahrt“ nähert, jedenfalls bei nach rechts schlecht einsehbaren Kreuzungen (BGH, Urteil vom 21. Mai 1985 – VI ZR 201/83 –, Rn. 17, juris; Spelz in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., § 8 StVO (Stand: 10.07.2023), Rn. 69) mit mäßiger Geschwindigkeit an die Kreuzung heranfahren und sich darauf einstellen, notfalls anhalten zu können, um einem Vorfahrtsberechtigten die Vorfahrt zu gewähren (OLG Köln, Urteil vom 12. Oktober 2022 – I-16 U 194/21 –, Rn. 8, juris mwN). Nach § 3 Abs. 1 Satz 2 StVO muss er seine Geschwindigkeit u.a. den Straßen- und Verkehrsverhältnissen anpassen (vgl. OLG Düsseldorf, Urteil vom 15. Februar 2011 – I-1 U 103/10 –, Rn. 4, juris). Nach § 1 Abs. 1, 2 StVO muss er auf andere Verkehrsteilnehmer Rücksicht nehmen (Kammer, zuletzt Urteil vom 2. Juli 2021 – 13 S 40/21). Unabhängig von der Frage, welche Vorschrift im Einzelfall schwerpunktmäßig betroffen ist, besteht im Ergebnis jedenfalls Einigkeit darüber, dass diese Vorschriften ganz allgemein den Zweck verfolgen, Zusammenstöße an gefährlichen und unübersichtlichen Straßenstellen durch das Gebot zu einer vorsichtigen Fahrweise zu vermeiden. Die regelmäßig als „halbe Vorfahrt“ beschriebene Verkehrssituation dient dabei nicht nur dem Schutz eines von rechts kommenden Vorfahrtberechtigten, sondern dem Schutz aller Verkehrsteilnehmer, also auch dem eigentlich von links kommenden Wartepflichtigen (OLG Hamm, aaO Rn 53; OLG Köln, aaO; Kammer, Urteil vom 21. Oktober 2011 – 13 S 117/11 –, Rn. 15, juris jeweils mwN aus der Rechtsprechung).Hieraus folgt jedoch nicht, dass der Vorfahrtsberechtigte bei „halber Vorfahrt“ regelmäßig mithaftet.
b) Nach Maßgabe dieser Grundsätze hat das Erstgericht im Ergebnis zu Unrecht angenommen, dass der Klägerin ein unfallursächlicher Pflichtverstoß zur Last gelegt werden kann.
aa) Eine Mithaftung unter dem Gesichtspunkt „halbe Vorfahrt“ käme dann in Betracht, wenn der Zusammenstoß durch eine zu hohe Geschwindigkeit des Vorfahrtsberechtigten mitverursacht worden wäre. Wenn der Vorfahrtsberechtigte sich einer unübersichtlichen und nach rechts schlecht einsehbaren Kreuzung so schnell annähert, dass ihm die Erfüllung seiner Wartepflicht gegenüber einem von rechts kommenden Fahrzeugführer unmöglich ist und es infolgedessen zu einem Zusammenstoß kommt, so hat er den Unfall auch dann mitverschuldet, wenn das in Mitleidenschaft gezogene andere Fahrzeug nicht von rechts, sondern von links kam und ihm gegenüber wartepflichtig war (Kammer, Urteil vom 2. Juli 2021 – 13 S 40/21 mwN). Die insoweit darlegungs- und beweisbelasteten Beklagten haben eine unangemessene Geschwindigkeit der Klägerin jedoch weder vorgetragen noch nachgewiesen. Der vom Erstgericht beauftragte Sachverständige … hat nachvollziehbar eine Kollisionsgeschwindigkeit des klägerischen Fahrzeugs zwischen 7 und 10 km/h festgestellt. Für eine deutlich hierüber liegende, mithin unangemessene Annährungsgeschwindigkeit liegen keine Anhaltspunkte vor. Die Beklagten selbst tragen vor, die Klägerin sei ohne Einleitung eines Bremsvorgangs mit dem Beklagtenfahrzeug kollidiert. In diesem Fall würde die Annäherungsgeschwindigkeit der Kollisionsgeschwindigkeit entsprechen, wobei eine Annäherungsgeschwindigkeit zwischen 7 und 10 km/h – selbst eine nach rechts schwer einsehbare Kreuzung unterstellt – nicht zu beanstanden wäre.
bb) Entgegen der Auffassung des Erstgerichts kann auch nicht gesichert davon ausgegangen werden, dass die Klägerin den streitgegenständlichen Unfall durch eine fehlende Blickzuwendung nach links in Richtung der wartepflichtigen Beklagten zu 1) mitverursacht hat, wofür ebenfalls die Beklagten die Beweislast tragen. Lediglich für den Fall einer permanenten Blickzuwendung nach links hat der Sachverständige … bei einer Annäherungsgeschwindigkeit des klägerischen Fahrzeugs von bis zu 25 km/h eine Vermeidbarkeit des Unfallgeschehens für die Klägerin feststellen können. Die Klägerin war jedoch im Rahmen ihrer aus § 1 Abs. 1, 2 StVO folgenden Rücksichtnahmepflichten nicht gehalten, den wartepflichtigen Verkehrsraum nach links auch schon während der Annäherung an die Einmündung ununterbrochen zu beobachten, zumal sie ihrerseits verpflichtet war, von rechts kommenden Verkehrsteilnehmern Vorfahrt zu gewähren, und es ihrerseits gerade einen Pflichtverstoß dargestellt hätte, wenn sie ausschließlich nach links geschaut hätte. Verbleibt überdies die Möglichkeit, dass die drohende Vorfahrtsverletzung für einen sorgfältigen Verkehrsteilnehmer an der Stelle der Klägerin jedenfalls nicht so lange Zeit erkennbar war, dass er den Unfall noch durch ein eigenes Bremsen oder Ausweichen hätte vermeiden können, lässt sich allein aus dem Umstand, dass der in der Annäherung an die Kreuzung den von links kommenden Verkehr nicht beobachtet hat, im Hinblick auf den Vertrauensgrundsatz einen Schluss auf eine Sorgfaltspflichtverletzung nicht ziehen (vgl. Kammerurteile vom 11.10.2013 – 13 S 94/13 und vom 2. Juli 2021 – 13 S 40/21). Daher kann, selbst den Beklagtenvortrag, die Klägerin habe ununterbrochen nach rechts geschaut, als wahr unterstellt, der Klägerin kein unfallursächlicher Pflichtverstoß angelastet werden.
5. Verschärfend kommt – was das Erstgericht in seiner Haftungsabwägung übersehen hat – ein Verkehrsverstoß der Beklagten zu 1) nach § 2 Abs. 2 StVO („Rechtsfahrgebot“) hinzu. Dem klägerischen Vortrag, die Beklagte zu 1) habe bereits vor dem Abbiegen und vor der Kollision die Gegenfahrbahn genutzt, sind die Beklagten nicht entgegengetreten, so dass er gemäß § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden anzusehen ist. Ob vorliegend der Verstoß der Beklagten zu 1) gegen § 2 Abs. 2 StVO geeignet ist, eine Alleinhaftung nach sich zu ziehen (vgl. hierzu Müther in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., § 2 StVO (Stand: 01.06.2023), Rn. 44), kann mit Blick auf den kumulativ vorliegenden Vorfahrtsverstoß mangels Entscheidungserheblichkeit dahinstehen.
6. Lassen sich somit in die Haftungsabwägung lediglich Verstöße der Beklagten zu 1) – maßgeblich der Vorfahrtsverstoß – einstellen, tritt die Betriebsgefahr der vorfahrtsberechtigten Klägerin auch in Fällen der „halben Vorfahrt“ regelmäßig – so auch hier – zurück, so dass die Beklagten für die Unfallfolgen allein haften (st. Rspr. der Kammer, vgl. zuletzt Urteil vom 2. Juli 2021 – 13 S 40/21).
7. Zwischen den Parteien steht nicht im Streit, dass der Klägerin unfallbedingt ein ersatzfähiger Schaden in Höhe von 3.703,04 Euro entstanden ist, sodass ihr abzüglich der bereits gezahlten 2.777,28 Euro noch ein Betrag in Höhe von 925,76 Euro zuzusprechen war.
8. Die außergerichtlichen Kosten des klägerischen Prozessbevollmächtigten sind – was dem Grunde nach zwischen den Parteien nicht in Streit steht – ebenfalls Teil des ersatzfähigen Schadens nach § 249 Abs. 2 S. 1 BGB. Folglich sind vorgerichtliche Rechtsanwaltsgebühren für die Geltendmachung des ersatzfähigen Schadens von insgesamt 3.703,04 Euro ersatzfähig. Der Anspruch umfasst gemäß §§ 2, 13 RVG, Nrn. 2300, 7002, 7008 RVG VV eine 1,3-Geschäftsgebühr in Höhe von 361,40 Euro + 20,00 Euro (Pauschale) + 72,47 Euro (USt) = 453,87 Euro. Über den erstinstanzlich zuerkannten Betrag von 367,23 Euro hinaus war der Klägerin mithin ein weiterer Betrag von 86,64 Euro zuzusprechen.
9. Der Zinsanspruch ergibt sich aus §§ 286, 288 BGB.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO i.V.m. § 100 Abs. 4 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit findet ihre Grundlage in §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO i.V.m. § 544 Abs. 2 ZPO. Die Revision ist nicht zuzulassen. Die Rechtssache erlangt keine grundsätzliche über den konkreten Einzelfall hinausgehende Bedeutung und die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordert nicht die Entscheidung des Revisionsgerichts (§ 543 Abs. 2 ZPO).