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Verkehrsunfall – Sicherheitsabstand zum vorausfahrenden Kraftfahrzeug

Anscheinsbeweis: Radfahrer verursacht Unfall durch zu geringen Abstand

Im vorliegenden Urteil des Oberlandesgerichts Schleswig-Holstein, Az.: 7 U 214/22, wurde entschieden, dass die Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil keine Aussicht auf Erfolg hat. Die zentrale Entscheidung basiert auf der Annahme, dass der Kläger als Radfahrer durch Nichteinhaltung des erforderlichen Sicherheitsabstands oder durch Unaufmerksamkeit den Unfall verursacht hat. Das Gericht wendet den Anscheinsbeweis an, wonach der Auffahrende in der Regel die Schuld trägt, wenn er nicht nachweisen kann, dass er sich verkehrsgerecht verhalten hat. Die Betriebsgefahr des Kraftfahrzeugs des Beklagten tritt vollständig hinter dem groben Verschulden des Klägers zurück.

Weiter zum vorliegenden Urteil Az.: 7 U 214/22 >>>

✔ Das Wichtigste in Kürze

Die zentralen Punkte aus dem Urteil:

  • Die Berufung gegen das Urteil des Landgerichts bietet keine Aussicht auf Erfolg.
  • Der Anscheinsbeweis spricht gegen den Kläger, da er als Auffahrender den erforderlichen Sicherheitsabstand nicht eingehalten hat oder unaufmerksam war.
  • Es wurde kein Beweis erbracht, dass der Beklagte durch sein Verhalten (z.B. durch einen unangekündigten Abbiegevorgang) den Unfall verursacht hat.
  • Die Betriebsgefahr des vom Beklagten geführten Fahrzeugs tritt gegenüber dem Mitverschulden des Klägers vollständig zurück.
  • Der Kläger hat als alleiniger Unfallverursacher zu gelten, da er den Unfall durch grobe Verletzung seiner Verkehrspflichten (z.B. Nichteinhaltung des Sicherheitsabstands) herbeigeführt hat.
  • Ein Abbiegemanöver des Beklagten zu 1) wurde weder unstreitig noch erwiesen.
  • Die Unfallrekonstruktion hätte keine neuen Erkenntnisse gebracht, da objektive Anknüpfungstatsachen fehlen.
  • Der Kläger konnte den gegen ihn sprechenden Anscheinsbeweis nicht erschüttern.

Sicherheitsabstand im Straßenverkehr: Eine unterschätzte Gefahr

Der Sicherheitsabstand zum vorausfahrenden Fahrzeug ist ein wesentlicher Faktor für die Verkehrssicherheit. Wird er nicht eingehalten, steigt das Unfallrisiko erheblich. Denn ein zu geringer Abstand lässt dem Fahrer im Falle einer Gefahrenbremsung zu wenig Reaktionszeit, um einen Auffahrunfall zu verhindern.

Nicht nur bei hohen Geschwindigkeiten, sondern auch im Stadtverkehr ist die Einhaltung des Sicherheitsabstands unerlässlich. Die Folgen eines Verstoßes können gravierend sein: Neben Bußgeldern und Punkten in Flensburg drohen im Falle eines Unfalls auch Schadensersatzansprüche und strafrechtliche Konsequenzen. Umso wichtiger ist es, sich der Bedeutung des Sicherheitsabstands bewusst zu sein und ihn stets einzuhalten – zum Schutz aller Verkehrsteilnehmer.

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Der Sturz im Zeitfahren: Ein Verkehrsunfall und seine rechtlichen Folgen

Sicherheitsabstand im Straßenverkehr - Urteil
(Symbolfoto: connel /Shutterstock.com)

Ein Verkehrsunfall während eines nicht für den allgemeinen Verkehr gesperrten Zeitfahrens führte zu einer rechtlichen Auseinandersetzung vor dem Oberlandesgericht Schleswig-Holstein. Der Kläger, ein Teilnehmer des Zeitfahrens, kollidierte mit einem Kraftfahrzeug, das von dem Beklagten geführt wurde. Der Unfall ereignete sich, als der Kläger und ein anderer Radfahrer, der Zeuge B., versuchten, das langsam fahrende Fahrzeug des Beklagten zu überholen. Dabei stürzte zuerst der Zeuge B. nach einer Berührung mit dem Fahrzeug, woraufhin der Kläger, in dem Bemühen auszuweichen, ebenfalls stürzte und sich verletzte.

Die rechtliche Auseinandersetzung um Schadensersatz

Der Kern der rechtlichen Auseinandersetzung drehte sich um Schadensersatzansprüche des Klägers, die aus den Verletzungen und Schäden an Fahrrad und Kleidung resultierten. Der Kläger forderte ein Schmerzensgeld von mindestens 5.000 Euro sowie Schadensersatz in Höhe von 5.005 Euro. Er machte geltend, der Unfall sei durch einen Verstoß des Beklagten gegen die Straßenverkehrsordnung (StVO), insbesondere § 9 StVO, verursacht worden, da dieser unvermittelt abgebogen sei, ohne dies anzukündigen.

Anscheinsbeweis und die Rolle des Sicherheitsabstands

Das Landgericht wies die Klage ab, eine Entscheidung, die der Kläger mit einer Berufung anfocht. Das Oberlandesgericht Schleswig-Holstein stellte jedoch fest, dass die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat. Ein zentraler Punkt der Urteilsbegründung war der Anscheinsbeweis, der besagt, dass bei einem Auffahrunfall in der Regel davon ausgegangen wird, dass der Auffahrende den Unfall verursacht hat, entweder durch Unaufmerksamkeit oder weil er den erforderlichen Sicherheitsabstand nicht eingehalten hat. Dieser Anschein wurde im vorliegenden Fall nicht erschüttert.

Die Entscheidung des Gerichts

Das Gericht entschied, dass die Betriebsgefahr des Kraftfahrzeugs des Beklagten hinter dem Mitverschulden des Klägers vollständig zurücktritt. Es wurde argumentiert, dass der Kläger entweder zu dicht aufgefahren ist oder unaufmerksam war, was eine grobe Verletzung seiner Verkehrspflichten darstellt. Die Entscheidung berücksichtigte auch, dass der Kläger Teil eines sportlich ambitionierten Zeitfahrens war und offenbar versuchte, das Fahrzeug des Beklagten in einem Bereich zu überholen, in dem eine Geschwindigkeitsbegrenzung von 30 km/h gilt, was die Annahme eines reduzierten Sicherheitsabstands nahelegt.

Das Oberlandesgericht Schleswig-Holstein bekräftigte die Bedeutung des Sicherheitsabstands und des Anscheinsbeweises im Straßenverkehr. Es unterstrich, dass jeder Verkehrsteilnehmer, insbesondere bei Überholmanövern, die Verkehrssituation angemessen einschätzen und einen ausreichenden Abstand zum vorausfahrenden Fahrzeug halten muss, um auf unerwartete Ereignisse reagieren zu können.

✔ FAQ: Wichtige Fragen kurz erklärt

Wie wird der Sicherheitsabstand im Straßenverkehr definiert?

Der Sicherheitsabstand im Straßenverkehr ist ein Abstand, der von einem Fahrzeug zum anderen eingehalten werden muss, um bei plötzlichen Bremsmanövern des Vordermanns rechtzeitig anhalten zu können und somit Unfälle zu vermeiden. Die Straßenverkehrsordnung (StVO) schreibt vor, dass ein „ausreichender Sicherheitsabstand“ zu halten ist, ohne jedoch eine konkrete Metrik zu definieren.

Um dennoch eine praktikable Handhabung zu gewährleisten, haben sich im deutschen Straßenverkehr Faustregeln etabliert. Eine gängige Regel ist die „Halber-Tacho-Regel“, die besagt, dass der Abstand in Metern mindestens der Hälfte der Geschwindigkeit in km/h entsprechen sollte. Bei einer Geschwindigkeit von 100 km/h sollte der Abstand also mindestens 50 Meter betragen. Als Orientierungshilfe können die Leitpfosten am Straßenrand dienen, die in Deutschland üblicherweise einen Abstand von 50 Metern zueinander haben.

Eine weitere Faustregel ist die „Sekunden-Regel“, die besagt, dass innerorts ein Abstand von einer Sekunde und außerorts ein Abstand von zwei Sekunden zum vorausfahrenden Fahrzeug eingehalten werden sollte. Bei einer Geschwindigkeit von 50 km/h entspricht dies etwa 15 Metern oder drei Fahrzeuglängen innerorts.

Für Lkw mit einem zulässigen Gesamtgewicht von mehr als 3,5 Tonnen gelten auf Autobahnen spezielle Mindestabstände von 50 Metern bei Geschwindigkeiten über 50 km/h.

Bei schlechten Wetterverhältnissen wie Regen, Schnee oder Glatteis ist ein größerer Sicherheitsabstand erforderlich, da sich der Bremsweg verlängert. Auch beim Überholen von Radfahrern ist ein seitlicher Sicherheitsabstand von mindestens 1,5 Metern einzuhalten.

Nichtbeachtung des Sicherheitsabstands kann als Ordnungswidrigkeit geahndet werden und zu Bußgeldern, Punkten im Fahreignungsregister und unter Umständen zu einem Fahrverbot führen.

Welche Rolle spielt der Anscheinsbeweis bei Verkehrsunfällen?

## Anscheinsbeweis bei Verkehrsunfällen

Der Anscheinsbeweis ist ein juristisches Konzept, das in der deutschen Rechtsprechung eine bedeutende Rolle spielt, insbesondere bei Verkehrsunfällen. Er kommt zum Tragen, wenn ein typischer Geschehensablauf vorliegt, der nach allgemeiner Lebenserfahrung auf eine bestimmte Ursache für den Eintritt eines bestimmten Erfolgs hinweist.

Bei Auffahrunfällen beispielsweise besteht ein Erfahrungssatz, der besagt, dass in der Regel der Auffahrende für den Unfall verantwortlich ist, weil er entweder zu dicht aufgefahren ist, seine Geschwindigkeit nicht angepasst hat oder nicht aufmerksam genug war. Dieser Anscheinsbeweis kann jedoch erschüttert werden, wenn der Auffahrende nachweisen kann, dass ein atypischer Verlauf vorlag, der die Verschuldensfrage anders darstellt.

Ein Beispiel für eine solche atypische Situation wäre, wenn ein Fahrzeug unerwartet und ohne ersichtlichen Grund stark abbremst oder wenn ein Fahrzeug unbeleuchtet auf der Fahrbahn abgestellt wird und ein nachfolgender Fahrer darauf auffährt. In solchen Fällen kann der Anscheinsbeweis zu Gunsten des Auffahrenden erschüttert werden, wenn er beweisen kann, dass er mit einer den Sichtverhältnissen angepassten Geschwindigkeit gefahren ist.

Der Anscheinsbeweis kann auch bei anderen Unfallkonstellationen wie Linksabbiegeunfällen, Spurwechselunfällen oder Unfällen unter Alkoholeinfluss relevant sein. Bei einem Unfall unter Alkoholeinfluss kann beispielsweise ein Anscheinsbeweis dafür sprechen, dass die Trunkenheit für den Unfall ursächlich war, wenn ein nüchterner Fahrer die Situation hätte meistern können.

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Um den Anscheinsbeweis zu entkräften, muss der Beschuldigte einen atypischen Kausalverlauf darlegen und beweisen. Gelingt ihm dies, geht die Beweislast auf die Gegenpartei über. Der Anscheinsbeweis ist somit eine Beweiserleichterung für die Partei, die ihn für sich beansprucht, und stellt eine Beweislastumkehr dar, wenn er nicht entkräftet wird.


Das vorliegende Urteil

Oberlandesgericht Schleswig-Holstein – Az.: 7 U 214/22 – Beschluss vom 27.04.2023

I. Der Kläger wird gemäß § 522 Abs. 2 ZPO darauf hingewiesen, dass die Berufung gegen das angefochtene Urteil offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg bietet, die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat, die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts durch Urteil nicht erfordert und eine mündliche Verhandlung nicht geboten ist. Der Senat beabsichtigt deshalb, die Berufung aus den nachfolgenden Gründen ohne mündliche Verhandlung durch einstimmigen Beschluss zurückzuweisen.

II. Es besteht Gelegenheit zur Stellungnahme binnen 3 Wochen, sofern die Berufung nicht aus Kostengründen innerhalb der genannten Frist zurückgenommen werden sollte.

III. Der Senat beabsichtigt, den Streitwert für den zweiten Rechtszug auf 10.000,00 € festzusetzen.

Gründe

I.

Die Parteien streiten um Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall.

Der Kläger nahm am 13.09.2020 mit seinem Rennrad an einer in der Art eines Zeitfahrens ausgestalteten Ausfahrt seines Radsportvereins teil, bei dem die Teilnehmer im Abstand von 30 bis 60 Sekunden von S. aus losfuhren. Der Kläger startete um kurz vor 11:00 Uhr. Die Strecke verlief über öffentliche Straßen, die nicht für den übrigen Verkehr gesperrt worden waren. Vor dem Kläger war der Zeuge B. gestartet. Gegen 11:03 Uhr erreichte der Kläger St., wo er auf der S.-straße annähernd zum Zeugen B. aufschloss.

Der Beklagte zu 1) befuhr zu diesem Zeitpunkt mit seinem bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten Fahrzeug Opel Astra die S.-straße in St. in gleicher Richtung wie die Radfahrer (d.h. Richtung L.) mit einer Geschwindigkeit von ca. 30 km/h. Im weiteren Verlauf der S.-straße wird die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h begrenzt. Streitig ist, ob der Beklagte zu 1) beabsichtigte, auf eine linksseitig gelegene Sportplatzanlage abzubiegen.

Der Zeuge B. setzte zum Überholen des Fahrzeugs des Beklagten zu 1) an. Der Kläger, der ebenfalls beabsichtigte, den PKW zu überholen, befand sich zu diesem Zeitpunkt noch einige Meter dahinter. Kurz vor Beendigung seines Überholvorgangs kollidierte der Zeuge B. aus unklaren Gründen mit seinem Rennrad mit der linken vorderen Ecke des Beklagtenfahrzeugs und stürzte. Der Beklagte zu 1) bremste daraufhin stark ab. Der Kläger bremste ebenfalls und wich nach rechts aus, konnte jedoch eine Kollision mit dem rechten Heck des PKW nicht mehr verhindern. Auch er stürzte und zog sich erhebliche Verletzungen zu.

Der Kläger behauptet, der Beklagte zu 1) sei über eine längere Strecke sehr langsam gefahren. Er habe nach links zu den Sportplätzen abbiegen wollen, dies aber nicht angezeigt. Zu der Kollision mit dem Zeugen B. sei es gekommen, als der Beklagte zu 1) sein Fahrzeug unvermittelt nach links gelenkt habe, während der Zeuge sich im Überholvorgang etwa auf Höhe der B-Säule des Fahrzeugs befunden habe.

Der Kläger ist der Auffassung, der Beklagte zu 1) habe den Unfall wegen eines Verstoßes gegen § 9 StVO allein verschuldet.

Der Kläger macht ein Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 5.000.00 € sowie Schadensersatz wegen seiner Schäden an Fahrrad und Kleidung und wegen seines Haushaltsführungsschadens – zusammen 5.005,00 € – geltend.

Der Kläger hat erstinstanzlich beantragt,

1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn ein angemessenes Schmerzensgeld zzgl. Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz der EZB seit Rechtshängigkeit zu zahlen,

2. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn Schadensersatz in Höhe von 5.005,00 € zzgl. Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz der EZB seit dem 05.12.2020 zu zahlen sowie

3. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 1.054,10 € zzgl. Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz der EZB seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

Die Beklagten haben beantragt, die Klage abzuweisen.

Die Beklagten haben zunächst vortragen lassen, der Beklagte zu 1) habe nach links auf die Zufahrt zu der Sportanlage abbiegen wollen und sich dabei verkehrsordnungsgemäß verhalten. In der mündlichen Verhandlung hat der Beklagte zu 1) demgegenüber vorgetragen, er habe geradeaus fahren wollen zu seiner Wohnanschrift, die sich am Ende der Hauptstraße kurz vor dem Ortsausgang von St. auf der rechten Seite befinde. Der Zeuge B. sei beim Überholen gegen den PKW gestoßen. Die Beklagte zu 2) hat sich diesem Vortrag angeschlossen.

Die Beklagten sind der Auffassung, es greife ein Anscheinsbeweis gegen den Kläger als Auffahrenden. Der Kläger habe entweder den erforderlichen Sicherheitsabstand nicht eingehalten oder er sei unaufmerksam gewesen.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen und im Wesentlichen ausgeführt:

Die Klage sei unbegründet, weil ein Anscheinsbeweis gegen den Kläger spreche. In der Abwägung der Verursachungsbeiträge könne die Betriebsgefahr des Kraftfahrzeugs zurücktreten, wenn der andere Unfallbeteiligte als alleiniger Unfallverursacher anzusehen sei. Der Kläger sei unstreitig auf das Heck Beklagtenfahrzeugs aufgefahren. Bei einem Auffahrunfall könne der Anschein gegen den auffahrenden Hintermann sprechen, dass dieser entweder unaufmerksam gewesen sei (§ 1 Abs. 1 StVO) oder aber nicht den erforderlichen Sicherheitsabstand eingehalten habe (§ 4 Abs. 1 StVO). Dieser Anschein sei vorliegend nicht erschüttert. Der vom Kläger behauptete Abbiegevorgang des Beklagten zu 1) unter Verstoß gegen § 9 StVO sei weder unstreitig, noch erwiesen. Das Vorbringen des Beklagten zu 1) in der mündlichen Verhandlung sei nicht präkludiert. Ein Unfallrekonstruktionsgutachten sei nicht beantragt worden, zudem fehlten hierfür konkrete Anknüpfungstatsachen. Selbst wenn man jedoch unterstelle, der Beklagte zu 1) habe abbiegen wollen und zudem nicht geblinkt, liege noch kein atypischer Geschehensablauf vor, der der Anwendung des Anscheinsbeweises entgegenstehe. Denn für den Kläger habe sich das Unfallgeschehen nicht im Zuge eines eigenen Überholvorganges zugetragen. Vielmehr habe der Kläger auf eine sich vor ihm abspielende Verkehrssituation nicht mehr angemessen reagieren können. Das Bremsen des Beklagten zu 1) sei als Gefahrenbremsung nicht ohne zwingenden Grund im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 StVO erfolgt. Der Kläger habe sich zu diesem Zeitpunkt dem PKW bereits soweit angenähert, dass er entgegen § 4 Abs. 1 Satz 1 StVO nicht mehr in der Lage gewesen sei, erforderlichenfalls dahinter anzuhalten. Insoweit liege eine typische Situation vor, in der der Anscheinsbeweis greife. Es bleibe deshalb hier bei dem Grundsatz, dass der Auffahrende zu 100 % hafte. Insoweit sei unerheblich, ob der Beklagte zu 1) in Bezug auf den Zeugen B. einen Fahrfehler begangen habe, denn die Abstandsregeln sollten gerade davor schützen, dass nachfolgender Verkehr in eine Unfallstelle hineinfährt und die Unfallfolgen noch verschlimmert.

Mit seiner Berufung verfolgt der Kläger sein ursprüngliches Klagebegehren weiter. Das Landgericht habe fehlerhaft einen klägerischen Anspruch verneint. Der Kläger sei nicht alleiniger Unfallverursacher und die Betriebsgefahr des vom Beklagten zu 1) geführten Fahrzeugs trete nicht vollständig zurück. Der Beklagte zu 1) habe seine Geschwindigkeit derartig reduziert, dass der Kläger die Kollision nicht mehr habe verhindern können. Der Beklagte zu 1) habe einen Abbiegevorgang eingeleitet, ohne diesen anzukündigen. Er hätte die Radfahrer vorher wahrnehmen können und müssen. Das Vorbringen der Beklagten sei widersprüchlich und unglaubhaft. Letztlich sei der gegen den Auffahrenden sprechende Anscheinsbeweis vorliegend durchbrochen.

Der Kläger beantragt, unter Abänderung des am 18.11.2022 verkündeten und am 22.11.2022 zugestellten Urteils des Landgerichts Lübeck (3 O 42/22)

1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn ein angemessenes Schmerzensgeld zzgl. Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz der EZB seit Rechtshängigkeit zu zahlen,

2. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn Schadensersatz in Höhe von 5.005,00 € zzgl. Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz der EZB seit dem 05.12.2020 zu zahlen sowie

3. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 1.054,10 € zzgl. Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz der EZB seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

Die Beklagten beantragen, die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagten verteidigen das angefochtene Urteil und erläutern die Umstände, die zu dem unterschiedlichen Vorbringen geführt haben.

Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf die im Berufungsrechtszug gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.

II.

Gemäß § 513 ZPO kann eine Berufung nur auf eine Rechtsverletzung oder darauf gestützt werden, dass die gemäß § 529 ZPO zu berücksichtigenden Feststellungen ein anderes als das landgerichtliche Ergebnis rechtfertigen. Beides liegt für die Berufung der Beklagten nicht vor.

Das Landgericht hat die Klage zu Recht und mit zutreffender Begründung abgewiesen.

Im Grundsatz haften zwar der Beklagte zu 1) gemäß §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG als Halter und Fahrer sowie die Beklagte zu 2) gemäß § 115 Abs. 1 Nr. 1 VVG als Haftpflichtversicherer eines unfallbeteiligten Kraftfahrzeugs gesamtschuldnerisch auf Schadensersatz. Die Verletzungen des Klägers sind beim Betrieb des von dem Beklagten zu 1) geführten Pkw entstanden worden und das Unfallereignis wurde auch nicht im Sinne des § 7 Abs. 2 StVG durch höhere Gewalt verursacht. Die Gefährdungshaftung (und damit die Betriebsgefahr des Kraftfahrzeugs) tritt jedoch vorliegend gegenüber dem Mitverschulden des Klägers vollständig zurück. Gemäß § 9 StVG findet die Vorschrift des § 254 BGB Anwendung, wenn bei der Entstehung des Schadens ein Verschulden des Verletzten mitgewirkt hat. Hierbei folgt die Haftungsabwägung den zu § 17 Abs. 1 StVG entwickelten Rechtsgrundsätzen. Bei der Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge sind alle – aber auch nur die unstreitigen oder erwiesenen – Faktoren einzubeziehen, die eingetreten sind, zur Entstehung des Schadens beigetragen haben und einem der Beteiligten zuzurechnen sind (BGH NJW 2007, 506 f. Rn. 15). Nur vermutete Tatbeiträge oder die bloße Möglichkeit einer Schadensverursachung auf Grund geschaffener Gefährdungslage haben deswegen außer Betracht zu bleiben. Hierbei kann die Abwägung zum vollständigen Ausschluss des Ersatzanspruchs führen, wenn das Verschulden des Geschädigten – wie hier – derart überwiegt, dass die vom Schädiger ausgehende Ursache völlig zurücktritt (OLG Saarbrücken, Urteil vom 13. 2.2014, 4 U 59/13, Juris Rn. 24 – 26).

Für den Kläger handelt es sich um einen typischen Auffahrunfall, den er dem Anschein nach dadurch verursacht hat, dass er entweder zu dicht aufgefahren ist oder unaufmerksam war und hierdurch grob gegen seine Verkehrspflichten verstoßen hat. Er befand sich unstreitig in einigem Abstand hinter dem Fahrzeug des Beklagten zu 1), als dieses stark abgebremst wurde. Gemäß § 4 Abs. 1 S. 1 StVO muss der Abstand zu einem vorausfahrenden Fahrzeug in der Regel so groß sein, dass auch dann hinter diesem gehalten werden kann, wenn es plötzlich gebremst wird. Zwar darf ein Vorausfahrender gemäß § 4 Abs. 1 S. 2 StVO nicht ohne zwingenden Grund stark bremsen, allerdings war das starke Abbremsen des Beklagten zu 1) durch die vorausgegangene Kollision mit dem weiteren Radfahrer, dem Zeugen B., im Sinne eines zwingenden Grundes veranlasst. Zu berücksichtigen ist auch, dass sich der Kläger auf einer sportlich ambitionierten Zeitfahrt befand, was offenbar Einfluss auf seinen Fahrstil gehabt und die Gefahr eines Unfalls erhöht hat. Ohne das Bemühen um schnelles Vorankommen hätte nämlich gar kein Anlass bestanden, das Beklagtenfahrzeug im Bereich einer Geschwindigkeitsbeschränkung auf 30 km/h überholen zu wollen und – offenbar in Vorbereitung des Überholmanövers – den gebotenen Sicherheitsabstand zu unterschreiten.

Es ist weder unstreitig noch erwiesen, dass der Beklagte zu 1) nach links abbiegen wollte. Sein korrigierendes Vorbringen zur Sache in der mündlichen Verhandlung vom 19.10.2022 ist berücksichtigungsfähig und nicht von vornherein unglaubhaft. Die Wohnanschrift des Beklagten zu 1) liegt tatsächlich nur ca. 200 – 300 m hinter der Unfallstelle, so dass sein Vorbringen, er habe dorthin fahren wollen, plausibel erscheint. Das Landgericht hat den klägerseits zum Unfallhergang benannten Zeugen B. vernommen, ohne dass es danach die Überzeugung von einem Abbiegemanöver des Beklagten zu 1) zu gewinnen vermochte. Weiteren Beweis hat der Kläger – auch im Berufungsrechtszug – nicht angetreten. Unabhängig davon wäre die Einholung eines Unfallrekonstruktionsgutachtens als ungeeignet abzulehnen, weil es an jeglichen objektiven Anknüpfungstatsachen fehlt. Ein etwaiges Abbiegen des Beklagten zu 1) kann deshalb im Rahmen der Abwägung der Verursachungsbeiträge nicht berücksichtigt werden.

Unabhängig davon käme es für die Beurteilung der Kollision zwischen dem Kläger und dem Fahrzeug des Beklagten zu 1) als – typischer – Auffahrunfall auch nicht darauf an, ob der Beklagte zu 1) nach links abbiegen wollte. Denn unstreitig ist der Kläger nicht auf den PKW aufgefahren, weil dieser plötzlich und unangekündigt einen Abbiegevorgang eingeleitet hat, sondern weil er nach der Kollision mit dem Zeugen B. stark abgebremst wurde. Plötzliche Ereignisse wie ein Unfall oder drohende Gefahr sind typischerweise Anlass für abruptes Bremsen des vorausfahrenden Fahrzeugs, weshalb gerade die Abstandsregeln gelten. Hält sich ein nachfolgender Verkehrsteilnehmer nicht daran und kann er deshalb auf ein derartiges Ereignis nicht mehr rechtzeitig reagieren, ist er als alleiniger Unfallverursacher des Auffahrunfalls anzusehen. So liegt es hier.

Ob der Kläger seinen eigenen Überholvorgang (aus seiner Sicht) bereits eingeleitet hatte, ist für die Beurteilung der Verursachung ebenfalls unerheblich. Denn ein (beabsichtigtes) Überholen rechtfertigt keine Unterschreitung des Sicherheitsabstandes, solange sich das überholende Fahrzeug noch hinter dem zu überholenden Fahrzeug auf dem rechten Fahrstreifen befindet. Nach seinem eigenen Vorbringen war der Kläger jedenfalls noch nicht auf den linken (Gegen-) Fahrstreifen ausgeschert, sondern erst „in Richtung Mittellinie“ gefahren. Der Umstand, dass er infolge des Abbremsens des Beklagtenfahrzeugs „instinktiv“ versuchte nach rechts auszuweichen und sodann mit der rechten hinteren Ecke des PKW kollidierte, spricht ebenfalls gegen ein bereits eingeleitetes Überholmanöver.

Nach allem ist der gegen den Kläger streitende Anscheinsbeweis nicht erschüttert und tritt die einfache Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs hinter dem groben Verschulden des Klägers vollständig zurück.

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