Oberlandesgericht Koblenz
Az.: 1 Ss 75/02
Beschluss vom 02.05.2002
Der 1. Strafsenat – Senat für Bußgeldsachen – des Oberlandesgerichts Koblenz hat am 2. Mai 2002 beschlossen:
Die Rechtsbeschwerde der Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts Wittlich vom 14. Dezember 2001 wird auf ihre Kosten als unbegründet verworfen.
Gründe:
Das Amtsgericht Wittlich hat die Betroffene am 14. Dezember 2001 wegen vorsätzlicher Unterschreitung des Sicherheitsabstandes um weniger als 2/10 des halben Tachowertes bei einer Geschwindigkeit von mehr als 100 km/h zu einer Geldbuße von 200 DM und einem einmonatigen Fahrverbot verurteilt.
Dagegen wendet sie sich mit der form- und fristgerecht eingelegten sowie begründeten Rechtsbeschwerde. Sie rügt die Verletzung formellen und materiellen Rechts.
Das Rechtsmittel ist mit der sich aus §§ 46 Abs. 1 OWiG, 473 Abs. 1 StPO ergebenden Kostenfolge gemäß §§ 79 Abs. 3 OWiG, 349 Abs. 2 StPO als unbegründet zu verwerfen.
I.
1.
Die fehlende richterliche Unterschrift auf dem Hauptverhandlungsprotokoll wäre kein die Urteilsaufhebung begründender Verfahrensfehler, sondern hätte lediglich zur Folge, dass die Urteilzustellung unwirksam gewesen wäre ( § 273 Abs. 4 StPO). Im Übrigen trägt das Protokoll vom 14. Dezember 2001 unter dem Fertigstellungsvermerk die Unterschrift des Richters.
2.
Das aus Rubrum, Tenor und Entscheidungsgründen bestehende schriftliche Urteil (§§ 267, 275 StPO) ist vom Richter unterschrieben. Das Fehlen einer Unterschrift auf der zum Zwecke der mündlichen Urteilsverkündung niedergeschriebenen Urteilsformel (§§ 260 Abs. 4, 268 Abs. 2 StPO) ist revisionsrechtlich irrelevant.
3.
Die Rüge, die im schriftlichen Urteil wiedergegebenen Zeitmessdaten (UA. S. 8) seien einem nicht zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemachten „Abdruck“ entnommen, weshalb ein Verstoß gegen § 261 StPO vorliege, dringt nicht durch.
Sie entspricht bereits nicht den Anforderungen des § 344 Abs. 2 S. 2 StPO, weil der „Abdruck“ nicht näher beschrieben, insbesondere sein Inhalt nicht mitgeteilt wird und somit allein anhand der Revisionsbegründung nicht geprüft werden kann, ob überhaupt ein Zusammenhang mit den tatrichterlichen Feststellungen besteht. Die Rüge wäre allerdings auch unbegründet.
Ausweislich der Urteilsgründe wurde die der Betroffenen zur Last gelegte Tat mittels einer Videoabstandsmessanlage (VAMA) mit integrierter, geeichter Digitaluhr (JVC CG-P50 E, sog. JVC-Piller) festgestellt. Die entsprechende Videoaufzeichnung mit den automatisch und fortlaufend eingeblendeten Zeitmesswerten wurde ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls in Augenschein genommen. Zur Feststellung der in den Urteilsgründen wiedergegeben Zeitmesswerte genügen ein Bildschirm und ein handelsübliches Abspielgerät mit den Funktionen Zeitlupe, Standbild und Einzelbildfortschaltung. Die aus diesen Werten ermittelten Geschwindigkeiten sind Ergebnisse einfacher Rechenoperationen.
II.
Der Erörterung bedarf nur die Frage, ob der Tatrichter zutreffend die Voraussetzungen der Nr. 6.1.4 der Tabelle 2, Buchstabe a) zu Nr. 6 des zur Tatzeit (9. Mai 2001) geltenden Bußgeldkataloges (Unterschreitung von 2/10 des halben Tachowertes bei einer Geschwindigkeit von mehr als 100 km/h) angenommen hat. Dies ist zu bejahen.
Nach §§ 4 Abs. 1 S. 1, 49 Abs. 1 Nr. 4 handelt ordnungswidrig, wer als Führer eines Kraftfahrzeuges keinen ausreichenden Sicherheitsabstand zum vorausfahrenden Fahrzeug einhält. Als Faustregel für den außerörtlichen Verkehr gilt der „halbe Tachowert“, d. h. die Strecke, die ein Fahrzeug in 1,8 Sek. zurücklegt. Ordnungswidriges Verhalten liegt nach der Rechtsprechung jedenfalls dann vor, wenn der 1,5-Sek.-Abstand unterschritten wird. Geringfügige Unterschreitungen des Sicherheitsabstandes oder Verstöße bei geringen Geschwindigkeiten werden allerdings in der Praxis entweder überhaupt nicht verfolgt oder mit einer Verwarnung (Nr. 7 der Anlage 3 zur VerwarnVwV) geahndet.
Die Verhängung eines Bußgeldes oder gar eines Fahrverbots kommt nur bei einem gravierenden Fehlverhalten in Betracht. Ein solches liegt vor, wenn der Gefährdungsabstand unterschritten wird, den der Verordnungsgeber in der BKatV mit 50 % des halben Tachowertes (umgerechnet 0,9 Sek.) angesetzt hat. Beträgt der Abstand bei einer Geschwindigkeit vom mehr als 100 km/h weniger als 2/10 des halben Tachowertes (umgerechnet 0,36 Sek.), ist wegen der sehr hohen Gefährlichkeit des Verstoßes in der Regel ein Bußgeld von 200 DM und ein einmonatiges Fahrverbot auszusprechen.
Das Amtsgericht hat rechtsfehlerfrei festgestellt, dass die Betroffene bei einer Geschwindigkeit von 129,5 km/h an der Messlinie den 0,36-Sek.-Abstand unterschritten hatte, und zwar auch dann, wenn man zu ihren Gunsten von der Rechtsprechung (s. OLG Hamm NZV 94, 120) für nicht notwendig erachtete Toleranzen berücksichtigt. Dies wurde von ihr in einer vom Verteidiger in der Hauptverhandlung auf der Grundlage eines Privatgutachtens abgegebenen Einlassung auch nicht in Abrede gestellt.
Entgegen ihrer Auffassung ist es unerheblich, dass die Unterschreitung von 2/10 des halben Tachowertes (12,95 m bei einer Geschwindigkeit von 129,5 km/h) im für sie günstigsten Fall etwa 0,70 Meter betragen hatte und nicht mit Sicherheit feststeht, dass der Abstand auf der insgesamt 300 m langen Mess- und Beobachtungsstrecke genau gleich geblieben war.
Tatbestandsmäßig handelt, wer zu irgendeinem Zeitpunkt seiner Fahrt objektiv pflichtwidrig und subjektiv vorwerfbar den im einschlägigen Bußgeldtatbestand normierten Abstand, und sei es auch nur um wenige Zentimeter, unterschreitet. Wenn die Rechtsprechung fordert, dass die gefährdende Abstandsunterschreitung nicht nur ganz vorübergehend, sondern über eine Strecke von 250 m bis 300 m vorgelegen haben muss, so bedeutet das nicht, dass im Wege einer mathematisch-naturwissenschaftlichen Beweisführung ein exakt gleichbleibender Abstand über eine längere Strecke vor der Messlinie festzustellen ist. Grund dieser Forderung ist vielmehr, dass es insbesondere auf Autobahnen immer Situationen (wie plötzliches Abbremsen des Vorausfahrenden oder Spurwechsel eines Dritten) geben kann, die für Augenblicke zu einem sehr geringen Abstand führen, ohne dass dem Nachfahrenden allein deshalb eine schuldhafte Pflichtverletzung angelastet werden könnte (OLG Hamm, a.a.O., OLG Köln VRS 66, 463; OLG Düsseldorf VRS 64, 376). Geringfügige, nach der Lebenserfahrung regelmäßig auftretende, mit keinem der eingesetzten Messverfahren exakt fassbare und deshalb nie ausschließbare Abstandsschwankungen sind unbeachtlich.
Vorliegend hat das Amtsgericht festgestellt, dass die Geschwindigkeiten beider Fahrzeuge innerhalb der leicht ansteigenden Mess- und Beobachtungsstrecke gleichförmig geringfügig abgenommen hatten und der Abstand bis zur Messlinie „nahezu identisch“ geblieben war. Für eine kurzzeitige, der Betroffenen nicht zurechenbare wesentliche Abstandsverkürzung unmittelbar vor der Messung haben sich keine Anhaltspunkte ergeben.
Damit steht fest, dass die Betroffene über eine längere Strecke den Gefährdungsabstand deutlich unterschritten hatte. Folglich konnte der Tatrichter rechtsfehlerfrei dem Schuld- und Rechtsfolgenausspruch den an der Messlinie ermittelten Abstand zu Grunde legen.
Dass das Amtsgericht „nur“ die für fahrlässiges Verhalten vorgesehene Regelsanktion verhängt und auch nicht berücksichtigt hat, dass die Sicht der Betroffenen nach vorn durch den vorausfahrenden VW-Bus erheblich eingeschränkt gewesen war, ist kein Rechtsfehler zu ihrem Nachteil.