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Arbeitsunfähigkeit – Feststellung durch Arzt


Landesarbeitsgericht München

Az: 3 Sa 1059/08

Urteil vom 18.06.2009


In dem Rechtsstreit hat die 3. Kammer des Landesarbeitsgerichts München auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 18. Juni 2009 für Recht erkannt:

Auf die Berufung der Klägerin wird das Endurteil des Arbeitsgerichts Regensburg vom 09.10.2008 – 8 Ca 111/08 – abgeändert.

1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 3.553,85 EUR (i. W.: dreitausendfünfhundertdreiundfünfzig 85/100 Euro) brutto nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 19.01.2008 zu zahlen.

2. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.

3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten über einen Anspruch der Klägerin auf Urlaubsabgeltung.

Die Klägerin war bei der Beklagten aufgrund schriftlichen Arbeitsvertrages vom 05.10.2000 seit 06.10.2000 als kaufmännische Angestellte zu einem Bruttomonatsgehalt in Höhe von zuletzt 0,00 EUR beschäftigt. Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis am 05.09.2007 fristlos. Im Verlauf des Kündigungsschutzprozesses einigten sich die Parteien in einem gerichtlichen Vergleich vom 17.10.2007 – u. a. – darauf, dass die im Rahmen der außerordentlichen Kündigung erhobenen Vorwürfe nicht aufrechterhalten würden, das Arbeitsverhältnis durch ordentliche betriebsbedingte Kündigung vom 05.09.2007 zum 30.11.2007 beendet, die Klägerin bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses unter Anrechnung des noch offenen Urlaubs von der Arbeit freigestellt, das Arbeitsverhältnis bis zu dessen Beendigung ordnungsgemäß abgerechnet, der sich daraus ergebende Nettobetrag ausbezahlt werde und die Klägerin ein wohlwollendes Zeugnis über Verhalten und Leistung mit der Leistungsbeurteilung „stets zu unserer vollen Zufriedenheit“ erhalte.

Laut Verdienstabrechnung der Beklagten für September 2007 wurden für diesen Monat entsprechend der Regelung im Vergleich 16 Urlaubstage angerechnet. Diese Verdienstabrechnung weist sodann noch einen Resturlaubsanspruch der Klägerin im Umfang von 43 Tagen aus. Die Abrechnung für Oktober 2007 weist 22 genommene Urlaubstage aus; allerdings sind in diesem Monat wegen des Feiertags am 03. Oktober nur 21 Arbeitstage (Montag bis Freitag) angefallen. Nach der Oktoberabrechnung betrug der Resturlaub der Klägerin mit Ablauf dieses Monats noch 21 Tage; berücksichtigt man den Feiertag 03. Oktober, ergeben sich 22 Arbeitstage Resturlaub.

Da die Klägerin einen neuen Arbeitsplatz gefunden hatte, den sie mit Beginn des Monats November 2007 antreten wollte, verhandelten die Parteien am 24.10.2007 auf ihren Wunsch über eine vorzeitige Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum 31.10.2007. Diese Verhandlungen scheiterten, sodass sie die neue Stelle erst am 01.12.2007 antrat.

Die Klägerin legte für die Zeit vom 31.10.2007 bis 16.11.2007 und anschließend bis 30.11.2007 Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vor. Die Beklagte teilte ihr nach Vorlage der ersten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung mit Schreiben vom 05.11.2007 mit, sie gehe davon aus, dass sich die Klägerin diese Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ausschließlich zu dem Zweck erschlichen habe, um damit neben der fixen und variablen Gehaltszahlung auch noch in den Genuss einer zusätzlichen Urlaubsabgeltung zu kommen. Dementsprechend werde die Beklagte das Arbeitsverhältnis ohne Abgeltung von Resturlaubsansprüchen abrechnen. Dies geschah sodann in der Verdienstabrechnung für November 2007, die eine Vergütung in Höhe von 3.500.- EUR brutto für 21 genommene Urlaubstage ausweist. Da gemäß Verdienstabrechnung für Oktober 2007 22 Urlaubstage eingebracht wurden, verblieb nach der (Schluss-)Verdienstabrechnung für November 2007 kein abzugeltender Resturlaub der Klägerin mehr.

Der behandelnde Arzt Dr. med. P. stellte der Klägerin ein Attest vom 10.01.2008 aus, das auszugsweise lautet:

“ …

Frau G. suchte mich erstmals am 31.10.2007 in meiner Praxis auf. Die Patientin berichtet, dass sie in den letzten Wochen einer enormen Belastung an ihrem Arbeitsplatz ausgesetzt gewesen sei und sie eine Kündigung erhalten habe. Sie leide schon seit 3 bis 4 Wochen an innerer Unruhe, an einer ausgeprägten Schlafstörung (Ein- und Durchschlafstörung), an Rückenschmerzen mit Verspannungen der Muskulatur, Oberbauchbeschwerden, häufigem Schwitzen. Sie könne sich nicht mehr konzentrieren, verfalle oft ins Grübeln und sei emotional sehr labil.

Ausgelöst durch die berufliche Situation leidet die Patientin an multiplen psychischen und somatischen Beschwerden. Es handelt sich um eine typische Anpassungsstörung (ICD-10 F43.23). Ich habe ihr ein pflanzliches Beruhigungsmittel empfohlen.

Eine AU wurde für vorerst 2 Wochen ausgestellt. Die Patientin stellte sich am 16.11.2007 erneut in der Praxis vor. Der körperliche und psychische Zustand war im Wesentlichen unverändert.

Die Patientin war arbeitsunfähig. Eine AU-Verlängerung erfolgte bis zum 30.11.2007. …“

Die Klägerin beansprucht von der Beklagten die Abgeltung restlichen Urlaubs von 22 Tagen, da die Beklagte die Tage der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit im November 2007 gem. § 9 BUrlG nicht auf den Erholungsurlaub habe anrechnen dürfen. Der Urlaubsabgeltungsanspruch sei auch nicht mit Ablauf des Jahres 2007 verfallen, da angesichts des Ablehnungsschreibens der Beklagten vom 05.11.2007 eine ausdrückliche Geltendmachung des Urlaubsabgeltungsanspruchs vor Ablauf des Jahres nicht mehr erforderlich gewesen sei. Der Beweiswert der ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen sei nicht erschüttert, da keinerlei Zusammenhang zwischen ihrem Wunsch, das Arbeitsverhältnis vorzeitig zu beenden, und der attestierten krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit bestehe.

Die Beklagte meint dagegen, ein etwaiger Urlaubsabgeltungsanspruch sei mit Ablauf des Jahres 2007 verfallen, da ein Übertragungstatbestand nicht vorgelegen habe. Auch hätten die von der Klägerin vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen keinen Beweiswert mehr, da erhebliche Zweifel am Vorliegen einer Arbeitsunfähigkeit und somit an der Richtigkeit der vorgelegten Bescheinigungen bestünden. Auch habe der Arzt nicht erkennbar zwischen einer bloßen Erkrankung und einer dadurch veranlassten Arbeitsunfähigkeit unterschieden.

Das Arbeitsgericht Regensburg hat – nach uneidlicher Einvernahme des behandelnden Arztes als Zeugen – mit Endurteil vom 09.10.2008 (8 Ca 111/08) die Klage abgewiesen, weil zum einen ernsthafte Zweifel an der Richtigkeit der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen bestünden und zum anderen sich die Klägerin nach Auffassung der Kammer diese Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen durch Angabe falscher Tatsachen erschlichen habe. Der behandelnde Arzt habe es pflichtwidrig unterlassen, die Frage einer bestehenden Arbeitsunfähigkeit im Lichte der geschuldeten Arbeitsleistung zu prüfen. Im Ergebnis habe die Klägerin nicht den Beweis erbracht, dass sie tatsächlich erkrankt sei.

Wegen der Einzelheiten des Vortrags der Parteien im ersten Rechtszug, der erstinstanzlich gestellten Anträge sowie der rechtlichen Erwägungen des Erstgerichts im Übrigen wird auf das Endurteil des Arbeitsgerichts Regensburg vom 09.10.2008 verwiesen.

Die Klägerin hat gegen dieses, ihr am 04.11.2008 zugestellte Urteil mit einem am 02.12.2008 beim Berufungsgericht eingegangenen Schriftsatz Berufung einlegt und diese innerhalb verlängerter Berufungsbegründungsfrist mit einem am 03.02.2009 eingegangenen Schriftsatz begründet.

Sie trägt vor, sie sei an einer depressiven Anpassungsstörung erkrankt, nachdem die fristlose Kündigung vom 05.09.2007 auf den Vorwurf der Veruntreuung von Firmengeldern durch die Beschäftigung eines Mitarbeiters der Beklagten zu privaten Zwecken und Abrechnung der Arbeitsleistung über die Beklagte gestützt und in den auf die Kündigung folgenden Wochen im September 2007 exzessiv nach weiteren belastenden Beweismitteln für ein mögliches Fehlverhalten ihrerseits in der Vergangenheit gesucht worden sei. Dabei sei es seitens der Beklagten zu weiteren unhaltbaren Unterstellungen ihr gegenüber und zum Versuch ihrer Fernhaltung vom Markt und den Kunden durch Verbreitung rufschädigender Aussagen gekommen. Die Erkrankung sei aufgrund multipler psychischer und somatischer Beschwerden eingetreten, weshalb sie am 31.10.2007 ihren Hausarzt aufgesucht habe. Ursache für die Erkrankung sei neben der fristlosen Kündigung vor allem die Vorgehensweise der Beklagten in den Wochen danach gewesen. Wegen des massiven Drucks von deren Seite, der emotionalen Erniedrigung durch unrichtige Vorwürfe und der ständigen Konfrontation mit neuen Vorwürfen habe die Klägerin nach Abschluss des Prozessvergleichs vom 17.10.2007 und infolge des Scheiterns der Verhandlungen über die vorzeitige Beendigung des Arbeitsverhältnisses einen psychischen und körperlichen Zusammenbruch erlitten. Nach einem Energy-Walk am 10.11.2007 und dem Beginn eines 30-tägigen Mental-Trainings-Programms ab Ende November 2007 habe sie am 01.12.2007 trotz noch nicht ganz abgeklungener psychischer Beschwerden die neue Arbeitsstelle angetreten.

Die Klägerin meint, die vom Arbeitsgericht genannten Umstände reichten nicht für Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit aus. Auch sei die Würdigung der Zeugenaussage des behandelnden Arztes durch das Arbeitsgericht unzutreffend. So sei die psychische Drucksituation unabhängig von der Freistellung gewesen. Das Arbeitsgericht habe ohne entsprechendes medizinisches Wissen festgestellt, dass die Diagnose des Arztes ohne Untersuchungen und objektive Befunde erfolgt sei. Entgegen dieser Feststellung beruhe die Diagnose einer psychosomatischen Erkrankung aufgrund einer psychiatrischen Anamnese, die nach einem festgelegten Schema verlaufe und nicht notwendig eine körperliche Untersuchung erfordere. Auch habe die Diagnose des Arztes nicht allein auf der Schilderung der Klägerin beruht, weil der Zeuge ausgesagt habe, dass diese einen erschöpften Eindruck gemacht habe. Einer Erkundigung nach der Tätigkeit der Klägerin habe es nicht bedurft, weil diese offensichtlich arbeitsunfähig gewesen sei, sodass es auf die Art der Tätigkeit nicht angekommen sei. Das Arbeitsgericht übersehe, dass es sich bei dem Zeugen um den Hausarzt der Klägerin handle und es im Ermessen des Arztes liege, seine Patienten arbeitsunfähig zu schreiben.

Die Klägerin beantragt:

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Regensburg – Kammer Landshut – vom 09.10.2008, Az.: 8 Ca 111/08, abgeändert. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 3.553,85 EUR brutto nebst Verzugszinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz gem. §§ 247, 248 BGB seit dem 19.01.2008 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils, wiederholt ihre erstinstanzlich geäußerten Zweifel an der Richtigkeit der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen und schließt sich dem Arbeitsgericht darin an, dass die Klägerin den Beweis für ihre Arbeitsunfähigkeit nicht erbracht habe. Insbesondere führt sie aus, es liege keine ordnungsgemäße Feststellung der Arbeitsunfähigkeit vor, da sich der Arzt nicht nach der Art der Tätigkeit der Klägerin erkundigt habe. Die Ursachen der auch von der Klägerin behaupteten Krankheit werden von der Beklagten bestritten, vor allem der von ihr nach dem Vortrag der Klägerin erzeugte Druck und der von der Klägerin vorgetragene körperliche und psychische Zusammenbruch aufgrund ihres Verhaltens.

Hinsichtlich des sonstigen Vortrags der Parteien im zweiten Rechtszug wird auf die Schriftsätze der Klägerin vom 03.02.2009 und der Beklagten vom 05.03.2009 sowie auf die Sitzungsniederschriften vom 26.03.2009 und 18.06.2009 verwiesen.

Die Berufungskammer hat Beweis erhoben aufgrund Beweisbeschlusses vom 30.04.2009 durch uneidliche Vernehmung des Arztes Dr. med. P. als Zeugen. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschrift vom 18.06.2009 verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist begründet. Die Klägerin kann von der Beklagten Schadensersatz wegen Nichterfüllung des mit Ablauf des Urlaubsjahres 2007 untergegangenen Urlaubsabgeltungsanspruchs für 22 Urlaubstage in rechnerisch unstreitiger Höhe von 3.533,85 EUR brutto gem. §§ 280, 286 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 3, 287 Satz 2, 249 BGB i. V. m. §§ 1, 3, 7 Abs. 4 BUrlG verlangen.

1. Die Klägerin hatte mit Ablauf des 30.10.2007 noch einen Anspruch auf Erholungsurlaub im Umfang von jedenfalls 22 (richtig: 23) Urlaubstagen.

2. Diesen Resturlaub hat sie nicht durch die in Ziff. 3. des arbeitsgerichtlichen Vergleichs vom 17.10.2007 vereinbarte Freistellung von der Arbeitspflicht am 31.10.2007 und im November 2007 eingebracht. Der Urlaubsanspruch ist insoweit nicht gem. § 362 BGB erfüllt worden.

Die Klägerin hat zwar am 31.10.2007 und im November 2007 keine Arbeit für die Beklagte geleistet. Gleichwohl ist diese Zeit nicht als Gewährung von Erholungsurlaub einzuordnen, weil die Klägerin infolge Krankheit arbeitsunfähig war und die ärztlich attestierten Tage der Arbeitsunfähigkeit gem. § 9 BUrlG nicht auf den Jahresurlaub angerechnet werden können.

a) Die Klägerin hat für die Zeit vom 31.10.2007 bis – zunächst – 16.11.2007 und anschließend bis 30.11.2007 ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vorgelegt. Mangels gegenteiliger Anhaltspunkte ist davon auszugehen, dass diese Atteste in formeller Hinsicht nicht zu beanstanden sind und insoweit geeignet waren, entsprechend den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen zum Beweiswert einer ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (vgl. statt vieler ErfK/Dörner, 8. Aufl., § 5 EFZG Rn. 33 m. w. N.) eine tatsächliche Vermutung dafür zu begründen, dass die Klägerin tatsächlich infolge Krankheit arbeitsunfähig war.

b) Allerdings pflichtet die Berufungskammer dem Arbeitsgericht darin bei, dass nach den Umständen des vorliegenden Falles ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bestanden haben.

Diese Zweifel beruhen vor allem darauf, dass die Klägerin just dann arbeitsunfähig wurde, als sich die Beklagte ihrem Wunsch, das Arbeitsverhältnis einen Monat früher als im Vergleich vereinbart zu beenden, verschloss. Dies deutet massiv darauf hin, dass die Krankschreibung als „Retourkutsche“ der Klägerin für die Weigerung der Beklagten erfolgt sein könnte, ihrem Wunsch nach vorzeitiger Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen Abfindungszahlung zu entsprechen. Verstärkt werden diese Zweifel noch dadurch, dass die Krankschreibung fast genau zum rechtlichen Ende des Arbeitsverhältnisses der Parteien und zum Beginn des Arbeitsverhältnisses beim neuen Arbeitgeber endete. Schließlich fügt sich in dieses Bild, dass die Klägerin nach dem zweiten Arztbesuch am 16.11.2007 trotz der nach der Dauer der Krankschreibung doch recht massiven gesundheitlichen Störung nicht nochmals die Praxis des behandelnden Arztes aufsuchte, um das Ende der Arbeitsunfähigkeit kontrollieren und feststellen zu lassen.

c) Gleichwohl steht nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme zur Überzeugung des Gerichts (§ 286 Abs. 1 ZPO) fest, dass die Klägerin im fraglichen Zeitraum tatsächlich infolge Krankheit arbeitsunfähig war. Dies gilt ungeachtet des – vom Zeugen Dr. P. bestätigten – Umstandes, dass der Arzt die Klägerin bei beiden Arztbesuchen am 30.10.2007 und 16.11.2007 nicht körperlich untersuchte, sondern sich bei Anamnese und Diagnose auf die Schilderung ihres Zustandes und seinen persönlichen, optischen Ein druck verließ.

aa) Der Zeuge Dr. P. hat geschildert, dass die Klägerin bei ihrem ersten Besuch über Beschwerden wie innere Unruhe, Schlafstörungen mit Einschlaf-/Durchschlafstörungen, Konzentrationsunfähigkeit, Grübelzwang, empfindliche (psychische) Reaktion, Tendenz zum Weinen („nah am Wasser gebaut“), Rückenschmerzen, Muskulaturverspannung sowie Schwitzen berichtet habe. Dies sind Symptome, die nach der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen ICD-10, aus der der Zeuge zitierte und in die die Kammer Einblick nahm, zur Diagnose der Anpassungsstörung passen. Bei dieser Störung handelt es sich demnach um Zustände von subjektivem Leiden und emotionaler Beeinträchtigung, die soziale Funktionen und Leistungen behindern und während des Anpassungsprozesses nach einem belastenden Lebensereignis auftreten, wobei die Störung im Allgemeinen innerhalb eines Monats nach dem belastenden Ereignis beginnt, wobei die Diagnose zum einen von Art, Inhalt und Schwere der Symptome, zum anderen von Anamnese und Persönlichkeit und schließlich vom belastenden Ereignis abhängt.

bb) Zwar ist nicht ausgeschlossen, dass die Klägerin, wenn sie sich zuvor über die Symptome einer solchen Erkrankung kundig machte, in der Lage war, ihren Zustand -auch ohne dass die genannten Symptome tatsächlich vorlagen – in einer Weise dem Arzt zu schildern, dass für diesen die Diagnose der Anpassungsstörung nahe lag.

Dies darf jedoch zum einen nicht einfach unterstellt werden. Denn wesentliche Elemente der Symptomatik haben unstreitig tatsächlich vorgelegen, vor allem der Arbeitsplatzkonflikt und die in dessen Verlauf aufgetretene Belastung durch die Vorwürfe der Beklagten, die nicht zuletzt von strafrechtlicher Relevanz sind. Unabhängig davon, ob diese Vorwürfe berechtigt waren oder nicht, erscheint es höchst plausibel, dass die davon betroffene Klägerin in ihrer psychischen Stabilität dadurch erheblich beeinträchtigt wurde. Auch der zeitliche Abstand zwischen dem Ausspruch der fristlosen Kündigung am 05.09.2007 und damit dem Ende ihrer tatsächlichen Beschäftigung und dem Beginn ihrer Krankschreibung am 31.10.2007 spricht nicht gegen, sondern eher für die Richtigkeit der Beurteilung des Arztes. Denn nach der genannten Internationalen Klassifikation psychischer Störungen beginnt die Störung im Allgemeinen nicht unmittelbar auf dem Kulminationspunkt des belastenden Ereignisses, sondern einen Monat später. Da nach dem – insoweit unbestritten gebliebenen – Vortrag der Klägerin die Vorwürfe der Beklagten nach Zugang der fristlosen Kündigung nicht schlagartig abnahmen, sondern, begleitet von Recherchen der Beklagten, weitergingen, fügt sich der Zeitpunkt der Diagnose anlässlich des Arztbesuchs vom 31.10.2007 gut in den typischen Verlauf der Erkrankung ein. Der Zeitpunkt des Arztbesuchs der Klägerin und der ersten Krankschreibung lässt sich damit nicht allein mit der von der Beklagten verweigerten vorzeitigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen Abfindungszahlung begründen. Vielmehr erscheint er auch aus medizinischer Sicht durchaus nachvollziehbar.

cc) Zum anderen hat sich der Zeuge nicht ausschließlich auf die Schilderung der Klägerin verlassen, vielmehr hat er sich seiner Aussage zufolge auch vom persönlichen Eindruck und dem Erscheinungsbild leiten lassen, das sie bei den Arztbesuchen machte. Er hat sich auch insoweit an die Internationale Klassifikation psychischer Störungen gehalten, wonach die Diagnose – u. a. – von der „Persönlichkeit“ abhängt. Auf mehr als die Schilderung der Klägerin und seinen – durch ärztliche Berufserfahrung geschärften – Eindruck konnte der Zeuge seine Diagnose nach der Art der Erkrankung somit nicht stützen. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass der Zeuge seit Anfang 2006 ihr Hausarzt war, diese demnach kannte und deshalb umso mehr in der Lage war, ihren Allgemeinzustand zu beurteilen.

dd) Da es nach der Art der festgestellten Symptomatik nicht geboten war, die Klägerin körperlich zu untersuchen, um die Diagnose der Anpassungsstörung zu stellen, lässt sich aus dem Umstand, dass der Zeuge sie bei beiden Arztbesuchen nicht körperlich untersuchte, nicht die Fehlerhaftigkeit der Diagnose ableiten. Gerade bei einer psychischen Erkrankung, deren Ursachen unter Umständen – wie bei Erkrankung aus dem depressiven Formenkreis – (weit) in der Vergangenheit liegen können, muss sich das Gericht jeder laienhaften Beurteilung enthalten, etwa derart, dass die Feststellung einer Erkrankung stets einer körperlichen Untersuchung bedürfe oder eine reaktive psychische Erkrankung den sie auslösenden Ereignissen stets unverzüglich auf dem Fuße folgen müsse.

ee) Es ist auch nicht davon auszugehen, dass der Zeuge den Begriff der Arbeitsunfähigkeit verkannt und die Klägerin allein schon wegen des Vorliegens einer Krankheit, ohne die hierdurch ausgelöste Arbeitsunfähigkeit zu prüfen, krankgeschrieben hat. Denn er hat sehr plausibel geschildert, weswegen er es bei der von ihr gegebenen Information, sie sei bei einem Zeitarbeitsunternehmen beschäftigt und habe aufgrund von Vorwürfen, die ihr nicht gerechtfertigt erschienen und zu schaffen machten, wahnsinnig viel Ärger gehabt, beließ. Bei der Art der vom Zeugen festgestellten Erkrankung kam es nicht auf weitere Details der von der Klägerin zu erledigenden Arbeit an. Auch insoweit ist auf die Internationale Klassifikation psychischer Störungen zu verweisen, wonach die Anpassungsstörung ein Zustand von subjektivem Leiden und emotionaler Beeinträchtigung … nach einem belastenden Lebensereignis ist, der die sozialen Funktionen und Leistungen behindert. Es ist demnach für die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit bei einem solchen Leiden nicht zwingend bzw. ausnahmslos geboten festzustellen, ob die Behinderung der „sozialen Funktion“ der Arbeitsleistung, beispielsweise eine körperliche oder eine Bürotätigkeit, eine Sachbearbeiter- oder eine Führungsfunktion betrifft.

Auch die Art des Arbeitsplatzkonflikts erscheint, geht man von den vom Zeugen wiedergegebenen ärztlichen Feststellungen bei den Arztbesuchen der Klägerin aus, weder für die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit als solcher noch deren mutmaßlicher Dauer wesentlich. Denn es lag aufgrund der vom Zeugen festgestellten Symptomatik in der pflichtgemäßen Beurteilung des Arztes zu bestimmen, welche Mindestzeit die Klägerin mutmaßlich benötigen werde, um ihren psychischen Zustand zu stabilisieren und wann frühestens mit der Fähigkeit zu rechnen sei, jegliche Form von Arbeitsleistung in einem Arbeitsverhältnis zu erbringen.

Unbeachtlich ist auch, dass sich der Zeuge seiner Aussage zufolge nicht erinnern konnte, ob die Klägerin ihre Arbeitsfreistellung unter Urlaubsanrechnung seit 17.10.2007 bis 30.11.2007 mitteilte. Zu Recht hat er darauf hingewiesen, dass dies für ihn nicht relevant gewesen wäre. Denn eine Beurlaubung beseitigt die Unfähigkeit zur geschuldeten Arbeitsleistung in einem Arbeitsverhältnis nicht. Dies folgt schon aus § 9 BUrlG. Insoweit geht nicht der Urlaub der Krankheit vor, sondern die Krankheit dem Urlaub.

ff) Die Aussage des Zeugen erschien der Berufungskammer glaubhaft. Sie ist in sich stimmig und frei von Widersprüchen. Auch stimmt sie, soweit sie sich auf reale, objektivierbare Ereignisse wie den Arbeitskonflikt bezieht, mit den äußeren Geschehnissen überein. Der Zeuge hat sich auch nicht allein auf sein Gedächtnis verlassen, sondern sich zulässigerweise auf seine ärztlichen Aufzeichnungen gestützt und damit die Gefahr der Verwechslung oder Fehlinterpretation der mehr als 1 1/2 Jahre zurückliegenden Vorwürfe vermindert.

gg) Der Zeuge erschien der Berufungskammer auch glaubwürdig. Er hat seine Aussage ruhig und überlegt gemacht, ohne bei Nachfragen und Vorhalten ungehalten zu reagieren oder Einwände gegen Teile seiner Aussage abzuwehren. Auch hat er nicht versucht, sich auf ein für Laien nur schwer oder nicht verständliches ärztliches Fachidiom zurückzuziehen, sondern ruhig und geduldig medizinische Zusammenhänge erklärt. Denkbare Angriffspunkte gegen das Ergebnis seiner ärztlichen Beurteilung des damaligen Gesundheitszustandes der Klägerin und ihrer Arbeitsunfähigkeit wie z. B. das Fehlen einer körperlichen Untersuchung und die Unterlassung einer näheren Nachfrage nach der Art ihrer Tätigkeit hat er nicht zu bagatellisieren oder überdecken versucht, sondern erläutert, warum es ihm aus seiner damaligen Sicht nicht darauf ankam, insoweit nähere Feststellungen zu treffen.

Insgesamt hatte die Berufungskammer keinen Anlass, an der Richtigkeit der Aussage des Zeugen zu zweifeln.

hh) Aus dieser Aussage ergibt sich jedoch nach dem bisher Ausgeführten, dass die Klägerin jedenfalls im attestierten Zeitraum infolge Krankheit arbeitsunfähig war. Wenn sie nach dem 16.11.2007 nicht erneut den Zeugen aufsuchte, entspricht dies der beim Arztbesuch an diesem Tag besprochenen Vorgehensweise, dass sie sich erneut vorstellen sollte, falls keine deutliche Besserung in der Symptomatik eintrete, wobei dann eine Überweisung zur Facharztbehandlung und eine medikamentöse oder Psychotherapie bzw. Gesprächstherapie in Frage stehe. Dass sie sich nach dem Krankschreibungszeitraum stabil genug fühlte, um wieder arbeitstätig zu werden, spricht im Übrigen für die Richtigkeit der Diagnose des Arztes und seiner Vorgehensweise.

d) Da die Klägerin nach allem trotz der oben genannten Zweifel an der Richtigkeit der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen im November 2007 infolge Krankheit arbeitsunfähig war und diese Arbeitsunfähigkeit auch ärztlich attestiert ist, können die Krankheitstage gem. § 9 BUrlG nicht auf den Erholungsurlaub angerechnet werden mit der Folge, dass bei Ende des Arbeitsverhältnisses am 30.11.2007 jedenfalls noch 22 Urlaubstage offen und abzugelten waren.

3. Der Urlaubsabgeltungsanspruch ist nicht gem. § 7 Abs. 3 Satz 1 BUrlG wegen fehlender Geltendmachung im Urlaubsjahr 2007 verfallen. Denn angesichts der ernstlichen und endgültigen Weigerung der Urlaubsabgeltung durch die Beklagte mit Schreiben vom 05.11.2007 war eine solche Geltendmachung entbehrlich (Rechtsgedanke des § 162 Abs. 1 BGB sowie § 286 Abs. 2 Nr. 3 BGB).

4. Da die Erfüllung des Urlaubs – und damit auch des Urlaubsabgeltungsanspruchs als dessen Surrogat – jedoch mit Ablauf des Urlaubsjahres unmöglich geworden ist, hat die Klägerin in Höhe des Abgeltungsanspruchs einen Schadensersatzanspruch gem. §§ 280 Abs. 1, 286 Abs. 1, 287 Satz 2, 249 BGB (vgl. z. B. BAG 22.10.1991, AP Nr. 57 zu § 7 BUrlG Abgeltung; BAG 21.09.1999, AP Nr. 77 zu § 7 BUrlG Abgeltung).

5. Die Berechnung des Urlaubsabgeltungs- und damit auch des Schadensersatzanspruchs ist unstreitig und im Übrigen auch zutreffend.

6. Der Anspruch auf die geltend gemachten Zinsen beruht auf § 288 Abs. 1 BGB.

7. Die Beklagte hat gem. § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

8. Die Revision wird nicht zugelassen. Auf die Möglichkeit, Nichtzulassungsbeschwerde zum Bundesarbeitsgericht zu erheben (§ 72 a ArbGG), wird hingewiesen.

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