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Ausgleichszahlung nach FluggastrechteVO bei Annullierung des Hinfluges

Rechtsprechung zur FluggastrechteVO: Gericht urteilt für Klägerin in Annullierungsfall

Bei der Durchsetzung von Rechten im Luftverkehr stößt man häufig auf die FluggastrechteVO, die Regelungen für Ausgleichszahlungen bei Flugannullierungen oder erheblichen Verspätungen vorsieht. Ein zentrales Thema in diesem Kontext ist die Frage, unter welchen Umständen ein Luftverkehrsunternehmen verpflichtet ist, eine Ausgleichszahlung zu leisten und wann es sich auf sogenannte „außergewöhnliche Umstände“ berufen kann, um dieser Verpflichtung zu entgehen. Dabei spielen sowohl die konkreten Gründe für die Annullierung oder Verspätung des Fluges als auch die Rechtsprechung zur FluggastrechteVO eine entscheidende Rolle. Ein weiterer Aspekt ist die Frage, inwieweit wirtschaftliche Entscheidungen des Luftfahrtunternehmens, wie beispielsweise die Vermeidung von Verspätungen des Vorfluges, die Pflicht zur Zahlung beeinflussen können. Insgesamt geht es um das Spannungsfeld zwischen den Rechten der Fluggäste und den betrieblichen Herausforderungen der Fluggesellschaften.

Weiter zum vorliegenden Urteil Az.: 4 C 2578/22 (2)  >>>

Das Wichtigste in Kürze


Das Gericht entschied, dass die Annullierung des Fluges nicht auf „außergewöhnlichen Umständen“ beruhte, sondern auf einer wirtschaftlichen Entscheidung des Luftfahrtunternehmens. Die Klägerin hat Anspruch auf eine Ausgleichszahlung.

Die zentralen Punkte aus dem Urteil:

  1. Annullierung des Fluges: Ein Flug von Berlin nach Marseille wurde annulliert, wodurch ein Passagier betroffen war.
  2. Informationszeitpunkt: Der Passagier wurde weniger als 7 Tage vor dem geplanten Abflug über die Annullierung informiert.
  3. Rechtsabtretung: Der Passagier trat seine Rechte an die Klägerin ab, die daraufhin die Beklagte zur Zahlung aufforderte.
  4. Verspätete Landung: Die Annullierung erfolgte aufgrund der verspäteten Landung eines Vorflugs in Berlin.
  5. Nachtflugverbot: Aufgrund der Verspätung wäre ein Rückflug von Marseille nach Berlin am selben Tag nicht möglich gewesen.
  6. Wirtschaftliche Entscheidung: Das Gericht stellte fest, dass die Annullierung auf einer wirtschaftlichen Entscheidung des Luftfahrtunternehmens beruhte, nicht auf „außergewöhnlichen Umständen“.
  7. Ausgleichszahlung: Die Klägerin hat Anspruch auf eine Ausgleichszahlung von 250,00 € nebst Zinsen.
  8. Rechtsprechung: Das Urteil betont, dass Luftfahrtunternehmen nicht einfach Flüge annullieren können, ohne eine Ausgleichszahlung zu leisten, es sei denn, es gibt einen klaren und unmittelbaren „außergewöhnlichen Umstand“.

Auslöser des Rechtsstreits: Flugannullierung

Die Klägerin, ein Unternehmen, das sich auf die Beitreibung von Ansprüchen nach der FluggastrechteVO spezialisiert hat, verklagte das beklagte Luftfahrtunternehmen auf Zahlung einer Ausgleichszahlung. Der Auslöser für diese rechtliche Auseinandersetzung war die Annullierung eines Fluges von Berlin nach Marseille, für den ein Passagier namens C. eine bestätigte Buchung hatte. Dieser Flug sollte von der Beklagten durchgeführt werden. Der Passagier wurde jedoch weniger als 7 Tage vor dem geplanten Abflug über die Annullierung informiert. Daraufhin trat der Passagier seine Rechte an die Klägerin ab, die daraufhin die Beklagte zur Zahlung aufforderte.

Die Argumente beider Seiten

 Ausgleichszahlung FluggastrechteVO bei Hinflug-Annullierung
FluggastrechteVO: Klägerin siegt in Ausgleichszahlungsfall (Symbolfoto: Lenar Nigmatullin /Shutterstock.com)

Das rechtliche Problem in diesem Fall dreht sich um die Frage, ob die Beklagte verpflichtet ist, eine Ausgleichszahlung zu leisten, da sie den Flug annulliert hat. Die Beklagte argumentierte, dass die Annullierung aufgrund von „außergewöhnlichen Umständen“ erfolgte, da der Vorflug des für den betroffenen Flug vorgesehenen Flugzeugs in Berlin mit einer erheblichen Verspätung gelandet war. Diese Verspätung war auf Slot-Zuweisungen durch Eurocontrol zurückzuführen. Aufgrund dieser Verspätung wäre der Rückflug von Marseille nach Berlin nicht mehr am selben Tag möglich gewesen, da dies gegen das Nachtflugverbot in Berlin und die zulässige Arbeitszeit der Crew verstoßen hätte. Daher entschied sich die Beklagte, den gesamten Flug zu annullieren, um zu verhindern, dass das Flugzeug über Nacht in Marseille bleibt.

Entscheidung des Gerichts

Das Gericht musste entscheiden, ob diese Annullierung tatsächlich auf „außergewöhnlichen Umständen“ beruhte oder ob es sich um eine unternehmerische Entscheidung der Beklagten handelte. Das Gericht kam zu dem Schluss, dass die Annullierung nicht unmittelbar auf einem außergewöhnlichen Umstand beruhte, sondern auf einer wirtschaftlichen Entscheidung der Beklagten. Das Gericht stellte fest, dass die Beklagte den Flug, wenn auch verspätet, hätte durchführen können. Die Entscheidung, den Flug zu annullieren, wurde getroffen, um zu verhindern, dass das Flugzeug über Nacht in Marseille bleibt.

Das Urteil des Gerichts war, dass die Klägerin einen Anspruch auf Ausgleichszahlung aus abgetretenem Recht nach der FluggastrechteVO hat. Die Beklagte wurde verurteilt, an die Klägerin 250,00 € nebst Zinsen zu zahlen und die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

Folgen und Schlussfolgerungen des Urteils

Die Auswirkungen dieses Urteils könnten weitreichend sein, insbesondere für Luftfahrtunternehmen, die Flüge annullieren. Es stellt klar, dass Unternehmen nicht einfach Flüge annullieren können, ohne eine Ausgleichszahlung zu leisten, es sei denn, es gibt einen klaren und unmittelbaren „außergewöhnlichen Umstand“. Es betont auch die Bedeutung der Fluggastrechte und stellt sicher, dass Passagiere bei Annullierungen oder großen Verspätungen von Flügen entschädigt werden.

Das Fazit dieses Urteils ist, dass Luftfahrtunternehmen vorsichtig sein sollten, wenn sie Flüge annullieren und sicherstellen sollten, dass sie einen klaren und unmittelbaren Grund dafür haben. Andernfalls könnten sie verpflichtet sein, Ausgleichszahlungen an die betroffenen Passagiere zu leisten.

Wichtige Begriffe kurz erklärt


FluggastrechteVO (Verordnung (EG) Nr. 261/2004)

Die FluggastrechteVO, auch bekannt als Verordnung (EG) Nr. 261/2004, ist eine EU-Verordnung, die die Rechte von Fluggästen bei Annullierungen und großen Verspätungen von Flügen regelt. Sie gilt für alle Flüge, die von einem in der EU gelegenen Flughafen abgehen, unabhängig davon, wo die ausführende Fluggesellschaft ihren Sitz hat. Für Flüge von einem Drittstaat zu einem Flughafen in der EU gilt sie nur, wenn sie von einer Fluggesellschaft mit Sitz in der EU durchgeführt werden.

Rechte bei Flugannullierungen

Im Falle einer Flugannullierung muss die Fluggesellschaft den Passagieren die Wahl zwischen der Erstattung des Flugscheinpreises und – bei einem Anschlussflug – Rückflug zum Startflughafen zum frühestmöglichen Zeitpunkt oder anderweitiger Beförderung zum Zielort zum frühestmöglichen Zeitpunkt oder zu einem späteren, dem Passagier genehmen Zeitpunkt unter vergleichbaren Beförderungsbedingungen und vorbehaltlich verfügbarer Plätze einräumen. Wenn die Fluggesellschaft die Wahl zwischen Erstattung und anderweitiger Beförderung nicht einräumt, sondern einseitig entscheidet, den Preis des ursprünglichen Flugscheins zu erstatten, haben Passagiere zusätzlich Anspruch auf Erstattung des Preisunterschieds zwischen den beiden Flugscheinen (bei vergleichbaren Beförderungsbedingungen).

Entschädigungsansprüche

Passagiere haben Anspruch auf eine Entschädigung, wenn ihr Flug innerhalb der EU stattfindet, von einem Flughafen in der EU startet oder von einer Fluggesellschaft aus der EU durchgeführt wird und sich um mehr als drei Stunden verspätet oder annulliert wird. Die Höhe der Entschädigung variiert je nach Länge der Flugstrecke und kann zwischen 250 und 600 Euro betragen. Allerdings müssen Fluggesellschaften keine Entschädigung zahlen, wenn sogenannte „außergewöhnliche Umstände“ vorliegen, wie zum Beispiel Unwetter, Streik, Naturkatastrophen und politische Unruhen.

Rechte bei großen Flugverspätungen

Bei einer Flugverspätung von mehr als drei Stunden können Passagiere von der Fluggesellschaft eine Entschädigung verlangen, wenn der Flug in einem europäischen Land gestartet ist oder in einem EU-Mitgliedstaat gelandet ist und die Airline ihren Sitz in Europa hat. Die Höhe der Entschädigung hängt von der Flugstrecke ab und kann zwischen 250 und 600 Euro betragen. Bei einer Verspätung von mindestens zwei Stunden muss die Fluggesellschaft jedem Fluggast schriftliche Informationen über die Voraussetzungen und Höhe der ihm grundsätzlich zustehenden Ausgleichsansprüche nach der Fluggastrechteverordnung aushändigen.

In Bezug auf das Urteil ist es wichtig zu beachten, dass die FluggastrechteVO auch für zusammenhängende Buchungen gilt, bei denen mehrere Flüge von unterschiedlichen Gesellschaften durchgeführt wurden. Entscheidend ist, dass es sich um eine zusammenhängende Buchung handelt, also etwa ein Reisebüro die Flüge kombiniert, dafür einen Gesamtpreis in Rechnung stellt und ein einheitliches Ticket ausgibt. Darüber hinaus hat der Bundesgerichtshof (BGH) entschieden, dass Flugpassagiere Anspruch auf Erstattung der Ticketkosten für Hin- und Rückflug haben, wenn die Airline einen Teil der Flugreise annulliert. Dafür müssen die Flüge Teil einer einheitlichen Buchung sein, für die nur ein Ticket ausgestellt ist.

AG Königs Wusterhausen – Az.: 4 C 2578/22 (2) – Urteil vom 13.06.2023

1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 250,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 05.11.2021 zu zahlen.

2. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung der Klägerin durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.

4. Die Berufung wird zugelassen.

5. Der Streitwert wird auf 250,00 € festgesetzt.

Tatbestand

Die Klägerin, die ein Unternehmen zur Beitreibung von Ansprüchen nach der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 (im Folgenden: FluggastrechteVO) betreibt, nimmt das beklagte ausführende Luftfahrtunternehmen aus abgetretenem Recht auf Leistung einer Ausgleichszahlung in Anspruch.

Der Passagier C. (im Folgenden: Zedent) verfügte über eine bestätigte Buchung für den Flug U2 4547 am 19.09.2021 von Berlin (BER) nach Marseille (MRS). Der Flug sollte um 17:20 Uhr (hier und im Folgenden jeweils Ortszeit) starten und um 19:40 Uhr landen. Er sollte von der Beklagten durchgeführt werden.

Die Beklagte annullierte den streitgegenständlichen Flug. Der Zedent wurde über die Annullierung weniger als 7 Tage vor Abflug informiert.

Die Entfernung zwischen Abflugs- und Ankunftsort beträgt weniger als 1.500 km.

Der Zedent trat seine Rechte an die Klägerin ab.

Die Klägerin forderte die Beklagte unter Anzeige der Abtretung mit Schreiben vom 21.10.2021 unter Fristsetzung zum 04.11.2021 fruchtlos zur Leistung einer Ausgleichszahlung auf.

Die Klägerin beantragt, die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 250,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 05.11.2022 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Die Beklagte behauptet, der unmittelbare Vorflug des für den streitgegenständlichen Flug eingeplanten Flugzeugs, der Flug U2 5884 von Malpensa (MXP) nach Berlin, sei mit einer Verspätung von 2 Stunden und 37 Minuten in Berlin gelandet. Grund dafür seien eine Verspätung des wiederum vorausgegangenen Fluges aufgrund Slot-Zuweisungen durch Eurocontrol und Slot-Zuweisungen durch Eurocontrol für den Flug U2 5884 selbst gewesen.

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Nach der verspäteten Ankunft in Berlin sei planmäßig der streitgegenständliche Flug U2 4547 nach Marseille und noch am selben Tag der Rückflug U2 4548 nach Berlin auszuführen gewesen. Aufgrund der verspäteten Landung des Vorflugs U2 5884 in Berlin sei jedoch absehbar gewesen, dass der Rückflug U2 4548 nach Berlin wegen des dortigen Nachtflugverbots und einer Überschreitung der zulässigen Dienstzeit der Crew nicht mehr hätte am selben Tag durchgeführt werden können. Die Beklagte habe sich daher entschieden, die gesamte Rotation U2 4547 / U2 4548 am 19.09.2021 zu annullieren. Damit habe sie vermeiden wollen, dass das Flugzeug über Nacht in Marseille verweilen müsse, weil dies große Verspätungen der am Folgetag mit diesem Flugzeug geplanten Flüge nach sich gezogen hätte. Die Beklagte habe die Annullierungsentscheidung getroffen, um so viele Fluggäste wie möglich sicher befördern zu können.

Die Beklagte ist der Auffassung, (auch) die Annullierung des streitgegenständlichen Fluges beruhe auf außergewöhnlichen Umständen, weshalb sie keine Ausgleichszahlung leisten müsse. Bei dem sogenannten „Strandenlassen“ eines Flugzeugs über Nacht auf einen auswärtigen Flughafen handele es sich um eine für das Luftverkehrsunternehmen offensichtlich unzumutbare Maßnahme. Die Organisation des sektorenbezogenen und somit auch des kompletten standardisierten Kurz- und Mittelstreckenflugbetriebes sei de facto nicht mehr möglich, wenn Fluggesellschaften auferlegt würde, Teil-Umläufe durchzuführen, um sich von einer Ausgleichsverpflichtung nach der FluggastrechteVO zu befreien.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist begründet.

Gemäß § 495a ZPO bestimmt das Gericht das Verfahren nach billigem Ermessen. Innerhalb dieses Entscheidungsrahmens berücksichtigt das Gericht grundsätzlich den gesamten Akteninhalt.

1.

Die Klägerin hat einen Anspruch auf Ausgleichszahlung aus abgetretenem Recht nach Art. 5 Abs. 1 lit. c i. V. m. Art. 7 Abs. 1 lit. a Verordnung (EG) Nr. 261/2004 (im Folgenden kurz: FluggastrechteVO) i. V. m. § 398 ZPO.

a)

Die Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 1 lit. c FluggastrechteVO sind in der Person des Zedenten entstanden.

(1)

Der Zedent verfügte über eine bestätigte Buchung für den streitgegenständlichen Flug. Der Flug sollte von der Beklagten durchgeführt werden. Er wurde annulliert. Hierüber wurde der Zedent weniger als 7 Tage vor Abflug informiert.

(2)

Die Beklagte hat keinen außergewöhnlichen Umstand dargelegt, durch den sie gem. Art. 5 Abs. 3 FluggastrechteVO von der Verpflichtung zur Zahlung von Ausgleichsleistungen befreit wäre.

Dabei kann dahinstehen, ob die Verspätung des Vorfluges des streitgegenständlichen Fluges auf außergewöhnlichen Umständen beruht, denn auch wenn das der Falle wäre, würde die Annullierung des streitgegenständlichen Fluges nicht auf außergewöhnlichen Umständen beruhen, denn der streitgegenständliche Flug war nach der eigenen Einlassung der Beklagten noch durchführbar. Nur der hier nicht streitgegenständliche Folgeflug U2 4548 zurück nach Berlin soll nach der Behauptung der Beklagten aufgrund des Nachflugverbotes in Berlin und einer Überschreitung der Arbeitszeit der Crew wegen der bereits eingetretenen Verspätung am selben Tag nicht mehr durchführbar gewesen sein.

Der Begriff des „außergewöhnlichen Umstands“ i. S. d. Art. 5 Abs. 3 FluggastrechteVO bezeichnet ein Vorkommnis, das – kumulativ – (1) seiner Natur oder Ursache nach nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betroffenen Luftfahrtunternehmens ist und (2) von ihm tatsächlich nicht zu beherrschen ist (vgl. Schmidt, in: BeckOK-FluggastrechteVO, 26. Edition, Stand: 01.04.2023, Art. 5 Rn. 50, m.w.N.). Der außergewöhnliche Umstand muss für die Annullierung oder große Verspätung unmittelbar kausal geworden sein. Dabei ist nach der Rechtsprechung des EuGH zwar nicht erheblich, ob der Flug von dem außergewöhnlichen Umstand selbst betroffen ist oder ob dieser am selben Tag bei einem der vorausgegangenen Flüge des für den annullierten oder verspäteten Flug vorgesehenen Flugzeugs eingetreten ist. Ein Luftfahrtunternehmen kann sich auch auf einen außergewöhnlichen Umstand berufen, der einen vorangegangenen Flug betroffen hat, den es selbst mit demselben Luftfahrzeug durchgeführt hat, sofern ein unmittelbarer ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Auftreten dieses Umstands und der Flugunregelmäßigkeit des späteren Fluges besteht (EuGH, Urt. v. 11.06.2020 – C-74/19 – Juris, Rn. 55).

Dagegen fehlt es an einem unmittelbaren ursächlichen Zusammenhang, wenn das Luftfahrtunternehmen die aufgrund eines außergewöhnlichen Umstandes zu erwartende Nichtdurchführbarkeit des Rückfluges einer Rotation zum Anlass nimmt, schon den Hinflug zu annullieren. Dann nämlich beruht die Annullierung des Hinflugs nicht mehr unmittelbar auf dem außergewöhnlichen Umstand, sondern auf der unternehmerischen Entscheidung des Luftfahrtunternehmens, nicht nur den Rückflug, sondern die gesamte Rotation zu annullieren (im Ergebnis wie hier z.B. LG Düsseldorf, Urt. v. 02.05.2022 – 22 S 514/21 – Juris; LG Berlin, Urt. v. 04.04.2022 – 12 S 19/21 – Juris).

Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass teilweise vertreten wird, dass im Falle komplexer Störungen des Flugbetriebs durch einen außergewöhnlichen Umstand auch eine Reorganisation des gesamten Flugplans noch unmittelbar auf dem außergewöhnlichen Umstand beruhen kann. Dies soll nach Auffassung des BGH z. B. dann der Fall sein, wenn aufgrund eines Streiks die normale Betriebstätigkeit des Luftfahrtunternehmens ganz oder zu wesentlichen Teilen zum Erliegen kommt und das Luftfahrtunternehmen daher zu einer Umplanung auch faktisch noch durchführbarer Flüge gezwungen ist, um überhaupt noch einen gewissen geordneten Flugbetrieb durchführen zu können (vgl. BGH, Urt. v. 21.08.2012 – X ZR 138/11 – Juris, Rn. 18 ff.). Es kann dahinstehen, ob dieser Auffassung des BGH im Hinblick auf den Ausnahmecharakter des Art. 5 Abs. 3 FluggastrechteVO zu folgen ist oder ob dem die Rechtsprechung des EuGH entgegensteht (vgl. EuGH, Urt. v. 04.10.2012 − C-22/11 − Juris, Rn. 38), denn eine solche extensive Auslegung kommt jedenfalls dann nicht in Betracht, wenn es – wie vorliegend – um einen Umstand geht, der nur ein einzelnes Flugzeug des Luftfahrtunternehmens betrifft.

Nach diesem Maßstab beruht die Annullierung des streitgegenständlichen Fluges U2 4547 nicht unmittelbar auf einem außergewöhnlichen Umstand, sondern auf einer wirtschaftlichen Entscheidung der Beklagten. Die Beklagte hätte den streitgegenständlichen Flug, wenn auch verspätet, ohne Weiteres noch durchführen können. Es ging ihr mit der Annullierung allein darum zu vermeiden, dass das Flugzeug über Nacht in Marseille „strandet“, was nach ihrer Darstellung erhebliche Verspätungen der am Folgetag mit diesem Flugzeug geplanten Flüge nach sich gezogen hätte. Die somit allenfalls bestehende mittelbare Kausalität eines außergewöhnlichen Umstandes erfüllt – jedenfalls wenn wie vorliegend nur ein einzelnes Flugzeug betroffen ist – den Ausnahmetatbestand des Art. 5 Abs. 3 FluggastrechteVO nicht. Insofern kommt es auch nicht darauf an, ob der Beklagten die Durchführung des streitgegenständlichen Flugs im Hinblick auf das zu erwartende Stranden in Marseille „wirtschaftlich zumutbar“ war (so aber LG Berlin, Urt. v. 17.03.2021 – 94a S 6/20–), denn die maßgebliche Frage der unmittelbaren Kausalität ist keine Frage der Zumutbarkeit, sondern nur eine Frage der faktischen Zwangswirkung. Die Frage der Zumutbarkeit stellt sich erst auf zweiter Ebene, wenn die unmittelbare Kausalität außergewöhnlicher Umstände feststeht und es darum geht, ob das Luftfahrtunternehmen alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen hat, um die Folgen der Annullierung oder großen Verspätung für die Fluggäste soweit wie möglich abzumildern.

Dagegen kann auch nicht eingewandt werden, dass die FluggastrechteVO die wirtschaftlichen und technischen Gegebenheiten des Luftverkehrs voraussetzt und weder unterbinden noch steuern möchte (BGH, Urt. v. 12.06.2014 – X ZR 121/13 – Juris, Rn. 16) und dass deshalb der übliche Sektorenbetrieb in die Betrachtung miteinzustellen sei. Es wäre mit dem von der Verordnung angestrebten hohen Schutzniveau für Fluggäste unvereinbar, wenn das Luftverkehrsunternehmen zwingende Hinderungsgründe für später durchzuführende Flüge zum Anlass nehmen könnte, den Kreis der unmittelbar kausal betroffenen Flüge durch eigene Entscheidung auf vorausgehende Flüge zu erweitern (in diesem Sinne auch LG Berlin, Urt. v. 04.04.2022, a.a.O.).

Zuletzt ist dieses Ergebnis auch nicht unbillig, denn wenn das Stranden des Flugzeugs in Marseille auf außergewöhnlichen Umständen beruht hätte, hätte sich die Beklagte hinsichtlich dadurch verursachter Unregelmäßigkeiten der Flüge am Folgetag auf außergewöhnliche Umstände berufen können, soweit sich solche Unregelmäßigkeiten nicht durch geeignete Maßnahmen hätten vermeiden lassen. Insofern hätte die Beklagte dann freilich für den Folgetag auch den Einsatz eines Ersatzflugzeugs prüfen müssen, denn am frühen Abend des streitgegenständlichen Tages, als die Probleme mit der Rotation U2 4547 / U2 4548 absehbar geworden sind, wäre noch genug Zeit für entsprechende Planungen für den Folgetag gewesen. Ein faktischer Zwang, die am Folgetag zu erwartenden Probleme einfach dadurch zu vermeiden, dass schon der streitgegenständliche, ohne Weiteres noch durchführbare Flug annulliert wird, bestand gerade nicht.

b)

Dem Zedenten stand damit ein Entschädigungsanspruch nach Art. 7 Abs. 1 lit. a FluggastrechteVO i.H.v. 250,00 € zu, denn die Entfernung zwischen Berlin und Marseille beträgt weniger als 1.500 km.

c)

Der Zedent hat seine Ansprüche gem. § 398 BGB an Klägerin abgetreten.

d)

Der Zinsanspruch ergibt sich aus §§ 286 Abs. 1, 288 Abs. 1 BGB. Die Beklage ist spätestens mit Ablauf der in dem Schreiben der Klägerin vom 21.10.2021 gesetzten Frist zum 04.11.2021 am 05.11.2021 in Verzug geraten.

2.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO.

3.

Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit hat ihre Rechtsgrundlage in den §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

4.

Die Zulassung der Berufung beruht auf § 511 Abs. 4 ZPO, denn die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordert eine Entscheidung des Berufungsgerichts.

5.

Der Gebührenstreitwert war gem. § 63 Abs. 1 GKG, § 3 ZPO festzusetzen. Er entspricht der bezifferten Klageforderung.

 

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