Sozialgericht Speyer
Az.: S 7 KR 44/05
Urteil vom 29.09.2006
1. Es wird festgestellt, dass die Klägerin ab dem 1.6.2003 bis zum 30.9.2004 Mitglied bei der Beklagten und bei dieser krankenversichert war.
2. Die Beklagte hat der Klägerin deren außergerichtliche Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darum, ob die Klägerin im Zeitraum vom 1.6.2003 bis zum 30.9.2004 bei der Beklagten oder der Beigeladenen krankenversichert war.
Die am 1958 geborene Klägerin kündigte am 31.3.2003 ihre bis dahin bestehende Mitgliedschaft bei der Beigeladenen zum 31.5.2003. Die Beigeladene stellte am 20.4.2003 eine Kündigungsbestätigung aus und die Klägerin übte ihr Wahlrecht gegenüber der Beklagten aus.
Die Beklagte stellte der Klägerin keine Mitgliedsbescheinigung aus. Sie nahm aber ab dem 1.6.2003 die Gesamtsozialversicherungsbeiträge für die Klägerin entgegen.
Nachdem die Klägerin keine Versichertenkarte von der Beklagten erhalten hatte, kündigte sie ihre Mitgliedschaft bei der Beklagten zum 30.9.2004. Mit Schreiben vom 11.10.2004 teilte die Beklagte mit, sie könne die Kündigung nicht bearbeiten, weil die Klägerin nie Mitglied geworden sei.
Mit Schreiben vom 1.12.2004 forderte die Klägervertreterin die Beklagte auf, die Mitgliedschaft der Klägerin zu bestätigen. Auf dieses Schreiben erfolgte keine Reaktion der Beklagten. Mit Schreiben vom 11.01.2005 erinnerte die Klägervertreterin die Beklagte an die Bearbeitung und drohte unter Fristsetzung eine Klage vor dem Sozialgericht an. Auch darauf erfolgte keine Reaktion.
Am 14.2.2005 erhob die Klägerin Klage vor dem Sozialgericht Speyer.
Am 16.2.2005 übersandte die Beklagte der Klägerin eine Versichertenkarte.
Die Klägerin meint, sie sei aufgrund des ausgeübten Wahlrechts zugunsten der Beklagten ab 1.6.2003 Mitglied der Beklagten geworden. Dies werde nicht zuletzt auch daran deutlich, dass die Beklagte die Gesamtsozialversicherungsbeiträge entgegen genommen habe und ihr eine Versichertenkarte erteilt habe. Zudem habe die Klägerin bis 9.6.2005 Krankengeld von der Beklagten erhalten. Dass die Beklagte keine Mitgliedsbescheinigung ausgestellt hatte, könne nicht von Belang sein, weil sie dazu gem. § 175 Abs. 2 Satz 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) verpflichtet gewesen sei. Aus rechtswidrig unterlassenem Verwaltungshandeln könne sie nun keine Rechte herleiten.
Die Klägerin beantragt, festzustellen, dass die Klägerin ab dem 1.6.2003 bis zum 30.9.2004 Mitglied bei der Beklagten und bei dieser krankenversichert war.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Die Beklagte meint, die Klägerin sei nicht Mitglied der Beklagten, sondern Mitglied der Beigeladenen. Mangels Ausstellung einer Mitgliedsbescheinigung, sei kein Versicherungsverhältnis zwischen der Klägerin und der Beklagten entstanden. Dies ergebe sich aus § 175 Abs. 4 Satz 4 SGB V. Warum die Mitgliedsbescheinigung nicht ausgestellt wurde, sei dabei unerheblich.
Die Beteiligten haben am 16.6.2006 bzw. 29.6.2006 ihr Einverständnis zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gegeben.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten.
Entscheidungsgründe:
Die Kammer konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erklärt haben, § 124 Absatz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Die Klage ist zulässig und begründet.
Die Klägerin wurde durch Kündigung bei der Beigeladenen und Ausübung ihres Wahlrechts gegenüber der Beklagten gem. §§ 173 Abs. 1 Satz 1, 175 Abs. 1 SGB V ab 1.6.2003 Mitglied der Beklagten.
Es spielt dabei entgegen der Ansicht der Beklagten keine Rolle, dass die Beklagte der Klägerin keine Mitgliedsbescheinigung ausgestellt hat.
Gem. § 175 Abs. 4 Satz 4 wird die Kündigung bei der früheren Krankenkasse – hier der Beigeladenen – zwar erst wirksam, wenn ihr die Mitgliedschaft bei einer anderen Krankenkasse durch Vorlage einer Mitgliedsbescheinigung nachgewiesen wird. Die Beklagte kann sich hier aber nicht auf diese Vorschrift berufen.
Sinn und Zweck dieser Regelung ist einerseits, dass versicherungspflichtige Mitglieder der Gesetzlichen Krankenversicherung nicht durch einen misslungenen Krankenkassenwechsel ihren Versicherungsschutz (vorübergehend) verlieren und andererseits, dass die grundsätzlich bestehende 18monatige Bindungsfrist des Versicherten an eine Krankenkasse eingehalten wird (vgl. zu den Prinzipien des Kassenwahlrecht Kasseler Kommentar / Peters, 49. EL, § 175 SGB V Rn. 4, 32 f.; vgl. auch die Begründung des Entwurfs BT-Drucks 14/5957 S. 5 zu Art. 1 Nr. 1 lit. a). Die Vorschrift dient hingegen gerade nicht dem Schutz der gewählten Krankenkasse.
Insbesondere, wenn – wie hier – nicht erkennbar ist und nicht vorgetragen wird, aus welchen Gründen die Ausstellung einer Mitgliedsbescheinigung durch die gewählte Krankenkasse unterbleibt, wäre durch eine rein formale Anwendung des § 175 Abs. 4 Satz 4 SGB V die Vorschrift des § 175 Abs. 1 Satz 2 SGB V letztlich disponibel. Die gewählte Krankenkasse hätte es alleine in der Hand, neue (möglicherweise unliebsame) Mitglieder abzulehnen, in dem sie keine Mitgliedsbescheinigungen ausstellt. Eine derartige Verwaltungspraxis wäre wegen des Verstoßes gegen § 175 Abs. 2 Satz 1 SGB V zwar rechtswidrig, aber faktisch möglich. Die in § 175 Abs. 1 Satz 2 SGB V verankerte freie Krankenkassenwahl und die daraus resultierende Verpflichtung der Gesetzlichen Krankenkassen jeden Versicherten, der die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt, aufzunehmen (Diskriminierungsverbot) ist aber eine tragende Säule der Gesetzlichen (sozialen) Krankenversicherung. Einer formaljuristischen Aushöhlbarkeit dieses Grundsatzes darf kein Raum gelassen werden. Ansonsten könnten insbesondere (chronisch) Kranke und ältere Menschen an einer freien Wahl ihrer Krankenkasse behindert werden (im Ergebnis mit teilweise abweichender Begründung für den Fall der unterlassenen Ausstellung einer Kündigungsbestätigung auch Bundessozialgericht – BSG – Urteil vom 2.12.2004, Aktenzeichen B 12 KR 23/04 R – zitiert nach Juris Rn. 26).
Letztlich ist in diesem Fall nahe liegend, dass die Mitgliedsbescheinigung ohnehin nicht vorsätzlich nicht ausgestellt wurde, sondern dies nur versehentlich unterblieben ist. Die Verweigerung der Ausstellung einer Mitgliedsbescheinigung hätte nämlich durch Verwaltungsakt geschehen müssen (Kasseler Kommentar / Peters, 49. EL, § 175 SGB V Rn. 19). Dies ist nicht vorgetragen. Ein solcher verweigernder Verwaltungsakt ist auch nicht in der Verwaltungsakte der Beklagten dokumentiert.
§ 175 Abs. 4 Satz 4 SGB V ist daher im Lichte des § 175 Abs. 1 Satz 2 SGB und vor dem Hintergrund seines Sinn und Zwecks in seinem Anwendungsbereich zu beschränken. Er findet dann keine Anwendung, wenn die Nichtausstellung der Mitgliedsbescheinigung auf rechtswidrigem Verwaltungshandeln beruht. Seine Anwendbarkeit beschränkt sich damit auf Fälle, in denen das versicherungspflichtige Mitglied nach der Kündigung keine neue Krankenkasse wählt oder die Wahl aus Gründen, die nicht in der Sphäre der gewählten Krankenkasse liegen, misslingt.
Nach alldem war die Mitgliedschaft der Klägerin bei der Beklagten ab 1.6.2003 bis mindestens 30.9.2004 festzustellen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Verfahrens.