Hessisches Landessozialgericht
Az.: L 4 VG 3/07 ZVW
Urteil vom 28.05.2008
Vorinstanz: Sozialgericht Frankfurt, Az.: S 24 VG 834/03, Entscheidung vom 24.09.2003
Entscheidung:
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 24. September 2003 aufgehoben und der Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 25. Oktober 2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. Februar 2003 verurteilt, der Klägerin Versorgungsleistungen nach dem OEG wegen der Folgen der Gewalttat vom 21. September 2000 (Fraktur des ersten Lendenwirbelkörpers, Handgelenksfraktur links und Ellenbogengelenksluxation rechts) zu gewähren.
Der Beklagte hat der Klägerin die Kosten des Rechtsstreits in allen Rechtszügen zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Versorgungsleistungen (dem Grunde nach) wegen der Folgen der Gewalttat vom 21. September 2000.
Die 1977 (nicht 1971) in B. geborene Klägerin besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit, lebt aber seit ihrer Kindheit bei ihrer Familie in Neuseeland, die sich dort aus beruflichen Gründen aufhält. Nach Beendigung ihres Kunststudiums in C. reiste sie am 29. Juli 2000 nach Deutschland, um dort Verwandte zu besuchen und eine Arbeitsstelle – eventuell beim Film – zu finden. Mitte September 2000 reiste sie nach K., um bei Verwandten bei der Weinlese zu helfen und um B-Stadt kennen zu lernen. Am 19. September 2000 fuhr sie erstmals nach B-Stadt, wo sie bei einem Schaufensterbummel auf der Zeil auf zwei Männer (darunter der spätere Täter – T.) und eine Frau traf, die dort Tarot-Karten legten. Sie ließ sich ebenfalls die Karten legen und kam mit T. in englischer Sprache über Neuseeland ins Gespräch, der angab, sich ebenfalls viele Jahre u. a. in Neuseeland aufgehalten zu haben (was auch zutraf) und ebenfalls Künstler zu sein. Er lud die Klägerin mit dem Hinweis in sein Studio ein, er habe dort Marihuana vorrätig, welches sie rauchen könnten. Beide begaben sich hierauf in die in der R. Innenstadt gelegene Wohnung des T., wo sie gemeinsam Marihuana rauchten und sich über Kunst und Film unterhielten. Hierbei erweckte der T. bei der Klägerin die Hoffnung, er könne ihr möglicherweise Arbeit verschaffen. Ferner bot er der Klägerin an, während seines bevorstehenden Aufenthaltes in Malaysia in seiner Wohnung zu wohnen. Vor dem Verlassen der Wohnung übergab die Klägerin dem T. eine Visitenkarte mit ihrer Anschrift bei Verwandten in Deutschland und kündigte an, sie werde möglicherweise am nächsten Tage wiederkommen. Als sie jedoch am nächsten Tag bei T. nicht erschien, rief dieser die Tante der Klägerin an und bat sie, der Klägerin auszurichten, sie solle ihn sofort nach ihrer Rückkehr anrufen, weil es um einen Job für sie gehe. Da die Tante aufgrund des Telefongesprächs einen negativen Eindruck von dem T. gewonnen hatte, versuchte sie in der Folgezeit vergeblich, die Klägerin telefonisch zu erreichen, um sie von einem weiteren Kontakt zu T. abzuhalten. Am Tattag, dem 21. September 2000, fuhr die Klägerin über PU. nach B-Stadt und traf gegen 11:45 Uhr in der Wohnung des T. ein, um ihn zum Mittagessen einzuladen und dabei näher kennen zu lernen. Außerdem hoffte sie nach wie vor auf einen Job beim Film. Auf entsprechende Bitte des T. betrat sie dessen Wohnung. Gemeinsam mit T. rauchte sie auf dessen Angebot hin zunächst eine Marihuana-Zigarette und unterhielt sich über ihre beruflichen Möglichkeiten beim Film. T. bat ihr an, eines der vielen Frauenkleider, die in der Wohnung umher lagen, anzuziehen, was sie aber ablehnte, weil sie ihr nicht gefielen. Ferner äußerte T., ihre Frisur sei für eine Filmkarriere nicht vorteilhaft und bot sich an, ihr die Haare zu schneiden. In der Annahme, der T. verfüge über entsprechende Fähigkeiten, erlaubte ihm die Klägerin die bisher schulterlangen Haare im Nacken abzuschneiden. Als sie sich hierauf einen Spiegel ausbat, lehnte dies T. zunächst ärgerlich ab und verwies sie auf einen Spiegel in der Toilette. Nach dortiger Besichtigung des Ergebnisses verspürte die Klägerin den dringenden Wunsch, sofort einen professionellen Friseur aufzusuchen und äußerte dies auch gegenüber dem T., was dieser jedoch ebenso ablehnte wie das Angebot der Klägerin, zusammen mit ihr zum Friseur zu gehen. Als die Klägerin daraufhin ihre Schuhe wieder anziehen und die Wohnung verlassen wollte, stellte sich T. an der Wohnungstür in den Weg und schubste sie in die Wohnung zurück, wo sie sich nach seiner Anweisung wieder setzte. T. erklärte, sie sei jetzt zu nervös, um zum Friseur zu gehen. Bei dem Vorgang zitterte die Klägerin bereits an Armen und Händen, was T. auf den vorangegangenen Marihuana-Konsum zurückführte. Kurze Zeit später stand die Klägerin wieder auf, begann ihre Schuhe anzuziehen und machte, nachdem sie einen Schuh an hatte, Anstalten, die Wohnung zu verlassen. Erneut trat ihr der T. in den Weg und verhinderte ein Verlassen der Wohnung, indem er sie zurückstieß. Er teilte ihr mit, sie müssen noch eine halbe Stunde bleiben, dann können Sie die Wohnung verlassen, und drückte ihr einen Wecker in die Hand, auf dessen Ziffernblatt sie die Zeit sehen konnte. T. ließ nicht zu, dass sich die Klägerin auf einen neben der Tür stehenden Stuhl setzte sondern veranlasste, dass sie sich auf einer Matratze niederließ, während er selbst auf einem Stuhl auf der anderen Seite des Raumes Platz nahm. Inzwischen hatte die Klägerin ihren zweiten Schuh sowie ihre Jacke angezogen und ihrer Handtasche an sich genommen. Ihre Angst, der T. werde ihr etwas antun, versuchte sie zu verbergen, was ihr aber nur unvollkommen gelang, weil sie ihr Zittern nicht vollständig unterdrücken konnte. Der T., der die Nervosität und das Zittern der Klägerin noch immer auf den Marihuana-Konsum zurückführte, versuchte, sie zu beruhigen und bot ihr an, einen Brandy aus der neben der Matratze stehenden Flasche zu trinken, worauf die Klägerin sich selbst einen Brandy in ein Glas eingoss und trank. Während dessen war sie aufgestanden und konnte aus dem offenen Fenster des großen Raumes im dritten Obergeschoss blicken, wobei ihr die Idee kam, sie könne die Wohnung durch das Fenster verlassen. Sie drohte daraufhin dem T., sie werde aus dem Fenster springen, wenn er sie nicht aus der Wohnung lasse, woraufhin dieser lachte und sagte, sie sei wohl verrückt. Sodann entwickelte sich zwischen der Klägerin und dem T. eine verbale Auseinandersetzung über den Ablauf der vorgegebenen Wartezeit von einer halben Stunde, von der inzwischen nur noch 10 Minuten übrig waren. Wenig später erhob sich der Angeklagte von seinem Stuhl und äußerte, in 5 Minuten werde eine andere Frau kommen, der die Klägerin entweder gefallen oder die sie in Stücke reißen werde. Der T. trank sodann selbst einen Brandy, ging zu der Klägerin und drückte ihr seine Hand – in der Absicht sie hierdurch zu beruhigen – fest auf den Hinterkopf und sodann auf den Nacken, lockerte schließlich den Griff und kündigte an, er wolle sie massieren und forderte sie auf, ihre Jacke auszuziehen, was sie auch tat. Die hierdurch noch mehr beunruhigte Klägerin ging beim Ablegen der Jacke in Richtung des offenen Fensters, aus dem sie im Bewusstsein kletterte, dass es sich im dritten Obergeschoss befand. Vor dem Fenster befand sich in Höhe des ersten Obergeschosses eine überdachte Passage. Die Klägerin war so aus dem Fenster geklettert, dass sie sich mit ihren Händen am Fensterrahmen festhalten konnte und versuchte, mit den Füßen auf ein Fenster des unteren Stockwerkes zu kommen, was aber misslang. Als der T. dies bemerkte und zum Fenster lief, an dessen Rahmen die Klägerin hing, und rief „Bist du verrückt?“, ließ sich die Klägerin freiwillig fallen, weil sie aus Angst vor dem T. flüchten wollte. Hierbei fiel sie auf das Dach der im Erdgeschoss befindlichen Passage, wobei hier Hinterkopf auf eine der in dem Dach befindlichen Lichtkuppeln fiel. Sie erlitt hierbei einen Bruch des ersten Lendenwirbelkörpers (LWK1), der mittels Verschraubung stabilisiert werden musste, einen Bruch des linken Handgelenks und eine Luxation des rechten Ellenbogengelenkes. Infolgedessen befand sie sich zur stationären Behandlung etwa zwei Monate in der BG Unfallklinik in B-Stadt und einer Reha-Klinik. Im ärztlichen Verlängerungsantrag für ambulante und stationäre Rehabilitationsleistungen des Klinikums G. vom 6. Dezember 2000 wurden folgende Diagnosen beschrieben:
„1. Dorsoventrale Spondylodese am 22. September 2000 bei LWK1 Fraktur
2. Osteosynthetische Versorgung einer Handgelenksfraktur links mit darauffolgender Metallentfernung
3. Ellenbogengelenksluxation rechts im Rahmen eines Sturzes am 22. September 2000“. Als Aufnahmebefund wurde u. a. ein sicherer, langsamer, aufrechter Barfußgang mit deutlicher Haltungsschwäche beschrieben. Es habe eine deutliche Dysbalance und reduzierte Kraft der die Wirbelsäulen stabilisierenden Muskulatur bei fortbestehender Schmerzsymptomatik im Sinne eines Belastung- als auch Ruheschmerzes im Frakturbereich bestanden. Zur Traumabewältigung wurde eine begleitende Psychotherapie während der Anschlussheilbehandlung durchgeführt. Die Klägerin ist inzwischen wieder nach Neuseeland abgereist. Neuere Erkenntnisse über ihren Gesundheitszustand liegen nicht vor.
Mit Urteil vom 16. August 2001 verurteilte das Amtsgericht Frankfurt am Main (Geschäftsnummer 914 A Ls – 3250 Js 231771/00) den T. wegen der zuvor beschriebenen Tat zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr wegen Freiheitsberaubung gemäß § 239 Strafgesetzbuch (StGB) allerdings ohne die Folge schwerer Gesundheitsbeschädigung im Sinne des § 239 Abs. 3 StGB, weil er nicht damit habe rechnen müssen, dass die Klägerin aus dem Fenster flüchten würde. Mit Berufungsurteil vom 10. Juli 2003 hat das Landgericht Frankfurt am Main dieses Urteil bestätigt.
Am 24. Oktober 2000 stellte die Klägerin beim Beklagten einen Antrag auf Versorgung nach dem OEG, den der Beklagte mit Bescheid vom 25. Oktober 2002 ablehnte, weil die Freiheitsberaubung kein tätlicher Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 OEG sei. Den dagegen eingelegten Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 27. Februar 2003 zurück.
Mit der am 6. März 2003 beim Sozialgericht Frankfurt am Main hiergegen erhobenen Klage hat die Klägerin Versorgungsleistungen nach dem OEG dem Grunde nach geltend gemacht. Mit Urteil vom 24. September 2003 hat das Sozialgericht die Klage als unbegründet abgewiesen, weil ein tätlicher Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 OEG nicht vorgelegen habe. Die Verhinderung des Verlassens der Wohnung sei keine Gewalttat im Sinne des OEG gewesen. Eine solche Gewalttat habe auch nicht konkret gedroht. Dass die Klägerin aus dem Fenster geklettert sei, sei als Überreaktion zu bewerten, die möglicherweise auf den vorangegangenen Drogenkonsum zurückzuführen sei.
Gegen das ihr am 2. Januar 2004 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 13. Januar 2004 Berufung zum Hessischen Landessozialgericht eingelegt. Mit Urteil vom 17. November 2005 hat der 8. Senat des Hessischen Landessozialgericht (Az.: L. 8/5 VG 2/04) die Berufung als unbegründet zurückgewiesen, weil die Freiheitsberaubung keine Gewalttat im Sinne des OEG darstelle. Der vom T. ausgeübte psychische Druck sei kein tätlicher Angriff gewesen. Auch habe kein Anhalt dafür bestanden, dass körperliche Gewalt oder ein Angriff auf die sexuelle Ehre unmittelbar bevorgestanden hätten.
Auf die Revision der Klägerin hat das Bundessozialgericht (BSG) mit Urteil vom 30. November 2006 (Az.: B 9a VG 4/05 R) das Urteil des Landessozialgerichts aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen. In seinen tragenden Entscheidungsgründen hat es ausgeführt, dass neben Angriffen auf die körperliche Unversehrtheit einer anderen Person auch ein Angriff auf deren körperliche Bewegungsfreiheit als tätlicher Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 OEG zu behandeln sei. Ob daran auch für Fälle von Freiheitsberaubung ohne aggressives Einwirken auf das Opfer festzuhalten sei, könne hier offen bleiben. Denn die Grenze zur Gewalttat nach § 1 Abs. 1 OEG sei jedenfalls überschritten, wenn eine Person durch Mittel körperlicher Gewalt ihrer Freiheit beraubt und/oder dieser Zustand durch Tätlichkeiten aufrechterhalten werde. Ein solcher Fall liege hier vor. T. habe die Klägerin zwei Mal tätlich angegriffen und dadurch am Verlassen seiner Wohnung gehindert. Beim ersten Versuch, entsprechend (nicht „entgegen“) ihrer Bitte zum Friseur zu gehen, habe sich T. der Klägerin an der Tür in den Weg gestellt und sie ins Zimmer zurückgedrängt. Beim zweiten Versuch habe er sie zurückgestoßen und erklärt, sie müsse bleiben. Im Einzelnen betrachtet und für sich genommen hätten diese Tätlichkeiten nicht gravierend gewesen sein mögen. Damit aber wäre der opferentschädigungsrechtliche Kern des Geschehens nicht erfasst gewesen. Die bis dahin verübten Tätlichkeiten hätten gezeigt, dass T. sein Verbot, die Wohnung zu verlassen als Dauerdelikt einer Freiheitsberaubung mit körperlicher Gewalt weiterhin habe durchsetzen wollen. Damit habe die konkrete Gefahr weiterer Tätlichkeiten und Körperverletzungen für den Fall gedroht, dass die Klägerin entschieden und nachhaltig versucht haben sollte, die Wohnung durch die Tür zu verlassen, um so ihr Recht auf Bewegungsfreiheit durchzusetzen. Der durch den tätlichen Angriff auf die Klägerin in Gang gesetzte schädigende Vorgang habe nicht mit der Vollendung der Freiheitsberaubung geendet, sondern schließe grundsätzlich die Flucht der Klägerin und als schädigendes Ereignis deren Absturz aus dem dritten Stockwerk ein. Im wieder eröffneten Berufungsverfahren werde das Landessozialgericht zu beachten haben, dass entschädigungsrechtlich jedermann im Allgemeinen nach seinem individuellen (auch psychischen) Zustand geschützt sei. Es komme deshalb – anders als im Strafverfahren – nicht darauf an, ob die Ereignisse in der Wohnung des T. am 21. September 2000 „objektiv geeignet“ gewesen seien, bei der Klägerin „die Entstehung eines derart starken Angstzustandes nachvollziehbar erscheinen zu lassen“. Sofern die Klägerin allerdings noch zu einer Risikoabwägung in der Lage gewesen sei, sei zu prüfen, ob sie grob vernunftwidrig, ohne begründete Hoffnung, unverletzt zu bleiben oder sich nur leicht zu verletzen, gleichsam „kopflos“ aus dem Fenster im dritten Stock gestiegen sei. Für den Fall, dass der Angriff des T. eine wesentliche Bedingung für den Sturz der Klägerin gewesen sei, stelle sich noch die Frage des Vorliegens eines Versagungsgrundes im Sinne von § 2 OEG.
Die in Neuseeland lebende Klägerin hat auf ausdrückliche Nachfrage durch den Senat weder verbleibende Folgeschäden der Tat beschrieben noch medizinische Unterlagen vorgelegt oder Ärzte benannt, die hierzu weitere Auskunft geben könnten.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 24. September 2003 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 25. Oktober 2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheid vom 27. Februar 2003 zu verurteilen, ihr Versorgungsleistungen nach dem OEG wegen der Folgen der Gewalttat vom 21. September 2000 (Fraktur des ersten Lendenwirbelkörpers, Handgelenksfraktur links und Ellenbogengelenksluxation rechts) zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er ist der Auffassung, es lägen Versagungsgründe im Sinne von § 2 OEG vor, weil das gesamte Verhalten der Klägerin nur als grob vernunftwidrig angesehen werden könne. Bei der Situation in der Wohnung des T. am 21. September 2000 hätten sich keinerlei Anhaltspunkte für das unmittelbare Bevorstehend einer Gewalttat ergeben. Gleichwohl habe sich die Klägerin entschlossen, aus dem Fenster im dritten Stock zu steigern, obwohl ihr die Gefährlichkeit dieses Handelns bekannt gewesen sei. Dies aber sei grob vernunftwidrig gewesen.
Wegen weiterer Einzelheiten und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten sowie – insoweit insbesondere wegen der Aussagen der Klägerin und des T. in ihrer polizeilichen Vernehmung und als Zeugen bzw. Angeklagte im Strafgerichtsverfahren – der zum Verfahren beigezogenen Strafakten der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Frankfurt am Main (Geschäftsnummer 3250 Js 231771/00), die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist auch sachlich begründet. Der Klägerin steht dem Grunde nach ein Anspruch auf Versorgung gegen den Beklagten nach § 1 Abs. 1 S. 1 OEG wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Gewalttat vom 21. September 2000 zu. Weitergehende Ansprüche auf einzelne Leistungen oder Anerkennung bestimmter Schädigungsfolgen hat die Klägerin in diesem Verfahren nicht geltend gemacht. Mit den tragenden Gründen des zurückverweisenden Urteils des BSG, an die der erkennende Senat gebunden ist, lag in der Freiheitsberaubung, wie sie hier erfolgte, ein tätlicher Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 OEG, der grundsätzlich geeignet ist, einen Versorgungsanspruch in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) auszulösen. Die Freiheitsberaubung war unzweifelhaft mangels Rechtfertigungsgrund auch rechtswidrig und sie erfolgte auch vorsätzlich, wobei sich der Vorsatz nicht auf das schädigende Ereignis oder dessen Folgen erstrecken muss. Die Flucht der Klägerin aus dem Fenster und ihr Absturz aus dem dritten Stockwerk beruhen wesentlich kausal auf der fortdauernden Freiheitsberaubung durch den T., denn ohne die Freiheitsberaubung wäre die Klägerin nicht aus dem Fenster geklettert und wäre auch nicht abgestürzt. Insoweit haben auch keine anderen – mindestens gleichgewichtigen – Ursachen am Eintritt des schädigenden Ereignisses mitgewirkt. Insbesondere hat die Klägerin die Schädigung nicht verursacht im Sinne des § 2 Abs. 1 S. 1 OEG, denn sie hat keinen mindestens gleichwertigen Beitrag zum Sturz aus dem Fenster geleistet. Nach dem feststehenden und insoweit auch nicht streitigen Sachverhalt drohte unzweifelhaft die Gefahr weiterer Tätlichkeiten und von Körperverletzungen für den Fall, dass die Klägerin entschieden und nachhaltig versucht haben sollte, die Wohnung durch die Tür zu verlassen, um so ihr Recht auf Bewegungsfreiheit durchzusetzen. Wenn die Klägerin sich dieser Gefahr nicht aussetzte sondern stattdessen einen Fluchtweg aus dem geöffneten Fenster suchte, so ist dies jedenfalls dann nicht als gleichwertige Mitbedingung für das schädigende Ereignis zu bewerten, wenn sie in ihrer individuellen Situation die begründete Hoffnung haben konnte, hierbei unverletzt zu bleiben oder sich nur leicht zu verletzen. Die Klägerin hat hierzu in ihrer polizeilichen Vernehmung am 27. September 2000 glaubhaft ausgeführt, dass sie durchaus „bei klaren Gedanken“ (und damit zumindest noch eingeschränkt zu einer Risikoabwägung in der Lage) war und die – nach Auffassung des erkennenden Senats nachvollziehbare – Vorstellung hatte, mit den Beinen auf einem Fenster des darunter liegenden zweiten Stockwerks Halt zu finden, während sie sich mit den Händen am Fensterrahmen festhielt. Ihre Hoffnung, hierbei keine ernsthafte Verletzung zu erleiden, war auch deshalb nicht unbegründet, weil sich unter ihr noch in Höhe des ersten Geschosses das Dach einer Passage befand und aufgrund ihrer Position am Fensterrahmen nicht mehr die volle Höhe eines Geschosses zu überwinden war. Soweit sie aufgrund der fortdauernden Freiheitsberaubung in Panik geraten und hierdurch in einer Risikoabwägung beeinträchtigt gewesen sein sollte, ist dies im wesentlichen auf die Tat zurückzuführen und damit nicht geeignet, deren wesentliche Kausalität für das schädigende Ereignis zu mindern. Hierbei muss auch die alters- und herkunftsbedingte Unerfahrenheit der Klägerin berücksichtigt werden, die gerade erst das 23. Lebensjahr vollendet hatte und in Neuseeland aufgewachsen war. Denn entschädigungsrechtlich ist jedermann im Allgemeinen nach seinem individuellen (auch psychischen) Zustand geschützt (so: BSG, a.a.O.). Dafür, dass der vorangegangene nicht durch die Tat bedingte Konsum von Marihuana zu einer grob vernunftwidrigen Verhaltensweise der Klägerin geführt hätte, gibt es keine ausreichenden Anhaltspunkte, denn nach den insoweit übereinstimmenden und glaubhaften Angaben der Klägerin und des T. im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren wurde nur eine Marihuana-Zigarette gemeinsam geraucht. Dies wird durch das Ergebnis der noch am Tattag um 14:20 Uhr erfolgten Blutentnahme bei dem T. bestätigt, das nach dem Gutachten von Prof. Dr. K. zwar für eine längerfristig zurückliegende Cannabisaufnahme spricht, der T. zum Zeitpunkt der Blutentnahme aber nicht unter der Einwirkung psychotrop wirksamer Cannabisinhaltsstoffe stand. Die insbesondere im angegriffenen Urteil des Sozialgerichts hierzu angestellten Vermutungen entbehren daher einer ausreichenden Grundlage, wobei insoweit ohnehin die objektive Beweislast beim Beklagten liegt. Der hinzukommende Konsum eines Glases Brandy ist bereits wesentlich auf die zu diesem Zeitpunkt andauernde Freiheitsberaubung zurückzuführen, denn der T. hatte die in dieser Situation bereits erheblich eingeschüchterte und zitternde Klägerin aufgefordert, zur Beruhigung ein Glas Brandy zu trinken. Darüber hinaus ist aber auch nicht nachzuweisen, dass der Genuss eines Brandy wesentlich zu einer „kopflosen“ Reaktion der Klägerin beigetragen haben könnte. Die Klägerin war insbesondere auch entschädigungsrechtlich nicht verpflichtet, die rechtswidrige und vorsätzliche Freiheitsberaubung weiter geschehen zu lassen, sondern durfte unter Vermeidung einer körperlichen Auseinandersetzung mit dem T., in der sie zweifellos unterlegen gewesen wäre, den Versuch einer Flucht aus dem Fenster unternehmen. Dass sie aufgrund der vorangegangenen Ereignisse und unter Abwägung der konkreten Verletzungsgefahr bei Annäherung des T. dann schließlich den Fensterrahmen losließ, ist ebenfalls nicht grob vernunftwidrig gewesen, denn die einzige Alternative hätte in der Fortsetzung der aggressiven Freiheitsberaubung durch den T. bestanden. Eine wesentliche Mitverursachung durch die Klägerin liegt mithin nicht vor, weil sie sich nicht auffallend vernunftwidrig in eine selbstgeschaffene Gefahr begeben hat.
Auch aus sonstigen, insbesondere im eigenen Verhalten der Klägerin liegenden, Gründen wäre es nicht unbillig, eine Entschädigung zu gewähren (§ 2 Abs. 1 S. 1, 2. Alt. OEG). Ein gewisses Maß von Selbstverschulden bedingt noch nicht die ursächliche Mitwirkung im versorgungsrechtlichen Sinne. Vielmehr muss der Beitrag des Opfers zum schädigenden Ereignis wenigstens gleichwertig mit anderen Kausalfaktoren gewesen sein. In unsolidem Lebenswandel sind allein, ohne das Hinzutretenden besonderer gravierender Merkmale, keine Aspekte zu sehen, die eine Leistungsverweigerung nach § 2 OEG rechtfertigen. Für solche Gesichtspunkte müssen die Anforderungen hoch angesetzt werden und die öffentlichen Belange berühren (so: BSG, Urteil vom 7. November 1979, Az.: 9 RVg 2/78 in BSGE 49, 104-114). Dass die Klägerin möglicherweise leichtfertig mit einer fremden Person in deren Wohnung gegangen ist, führt nicht zur Unbilligkeit einer Leistungsgewährung, wobei auch insoweit die alters- und herkunftsbedingte Unerfahrenheit der Klägerin zu ihren Gunsten zu berücksichtigen ist. Die Klägerin gehörte aufgrund des hier gelegentlich erfolgten Konsums von Marihuana auch nicht etwa einem Milieu an, in dem sie die „Schutz- und Risikogemeinschaft redlicher Bürger“ bereits verlassen hätte (siehe: BSG, Urteil vom 7. November 1979, a.a.O.), weshalb auch unter diesem Aspekt eine Leistungsgewährung nicht unbillig ist. Versagungsgründe nach § 2 Abs. 1 S. 2 und Abs. 2 OEG liegen offensichtlich ebenfalls nicht vor.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Die Revision war nicht zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG).