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Tierhalterhaftung – Berücksichtigung Tiergefahr

OLG München – Az.: 10 U 4894/20 – Urteil vom 13.01.2021

1. Die Berufung des Klägers vom 15.05.2020 gegen das Endurteil des LG Traunstein vom 21.07.2020 (Az. 9 O 139/20) wird zurückgewiesen.

Auf die Berufung der Beklagten vom 17.08.2020 wird das vorgenannte Endurteil des LG Traunstein aufgehoben und die Klage insgesamt abgewiesen.

2. Der Kläger trägt die Kosten des Rechtsstreits.

3. Das Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.

4. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

A.

Von der Darstellung der tatsächlichen Feststellungen wird abgesehen (§§ 540 II, 313 a I 1 ZPO i. Verb. m. § 544 II Nr. 1 ZPO).

B.

Die statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung der Beklagten hat in der Sache Erfolg. Hingegen hat die ebenfalls statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung des Klägers in der Sache keinen Erfolg.

I. Das Landgericht hat zu Unrecht einen Anspruch des Klägers auf Schadensersatz aus § 833 S. 1 BGB bejaht.

1. Der Senat ist nach § 529 I Nr. 1 ZPO an die Beweiswürdigung des Erstgerichts gebunden, weil keine konkreten Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der Beweiswürdigung vorgetragen werden.

a) Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der Beweiswürdigung sind ein unrichtiges Beweismaß, Verstöße gegen Denk- und Naturgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze, Widersprüche zwischen einer protokollierten Aussage und den Urteilsgründen sowie Mängel der Darstellung des Meinungsbildungsprozesses wie Lückenhaftigkeit oder Widersprüche, vgl. BGH VersR 2005, 945; Senat, Urt. v. 9.10.2009 – 10 U 2965/09 [juris] und v. 21.6.2013 – 10 U 1206/13). Konkreter Anhaltspunkt in diesem Sinn ist jeder objektivierbare rechtliche oder tatsächliche Einwand gegen die erstinstanzlichen Feststellungen (BGHZ 159, 254 [258]; NJW 2006, 152 [153]; Senat, a. a. O.); bloß subjektive Zweifel, lediglich abstrakte Erwägungen oder Vermutungen der Unrichtigkeit ohne greifbare Anhaltspunkte genügen nicht (BGH, a. a. O.; Senat, a. a. O.). Ein solcher konkreter Anhaltspunkt für die Unrichtigkeit der erstinstanzlichen Beweiswürdigung ist in der Berufung nicht aufgezeigt worden.

b) Ein Verschulden der Beklagten am Zustandekommen des Unfalls lässt sich nicht feststellen. Ein solches wäre in Betracht zu ziehen, wenn sie ihren Hund unbeaufsichtigt frei umherlaufen ließ oder derart weit von ihrem Hund entfernt war, dass sie ihrer Aufsichtspflicht bei Ansichtigwerden der Kutsche nicht mehr nachkommen konnte. Davon ist nach der Beweiswürdigung des Landgerichts, an die der Senat insoweit gebunden ist, nicht auszugehen. Der Kläger gab in erster Instanz nur an, die Beklagte zunächst nicht gesehen zu haben. Zwar hat der Zeuge H. die Entfernung der Beklagten bei Auftauchen des Hundes auf 50 m bis 80 m geschätzt, während die Beklagte angab und händisch demonstrierte, einerseits nur 3 bis 6 m von ihrem Hund, mit dem sie spielte, entfernt gewesen zu sein (vgl. Protokoll vom 07.07.2020, S. 5 =Bl. 41 d.A.), andererseits aber meinte, sie und ihr Hund wären „weit“ von der Unfallstelle entfernt gewesen. Das Landgericht ging bei der Beweiswürdigung davon aus, dass die Beklagte im Spiel mit ihrem Hund war, erachtete jedoch ihre Angaben, sowohl Sie als auch ihr Hund seien sehr weit von der Unfallstelle entfernt gewesen für nicht glaubhaft. Eine sichere Überzeugungsbildung gemäß § 286 I 1 ZPO, die Beklagte sei zum Zeitpunkt des Erscheinens ihres Hundes an der Kuppe von diesem so weit entfernt gewesen, dass sie ihrer Aufsichtspflicht nicht mehr nachkommen konnte, ist daher nicht möglich, da das Landgericht seiner Entscheidung nicht die Entfernungsangaben des Zeugen H. zugrunde legte und davon ausging, dass die Beklagte in dem von ihr demonstrierten Spiel mit dem Hund in dessen unmittelbarer Nähe befindlich war. Da die Berufung des Klägers keine konkreten Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit dieser Würdigung aufzeigt, ist der Senat hieran gebunden und es bedarf in Abweichung der vorläufigen Auffassung in der Terminsverfügung keiner neuerlichen Beweisaufnahme.

2. Auch unter Zugrundelegung der Angaben des Klägers vor dem Senat, die Beklagte sei jedenfalls 60 m vom Hund entfernt gewesen, ergibt sich keine Haftung der Beklagten aus Verschulden. Art. 56 II Nummer 9 BayJG – unterstellt der Unfall ereignete sich in einem Jagdgebiet – begründet keine Anleinpflicht.  Eine mangelnde Beaufsichtigung durch die Beklagte hätte sich auf das Unfallgeschehen nicht kausal ausgewirkt. Der Kläger hat nämlich vorgetragen, dass sich beide Tiere zunächst nicht sehen konnten und der Hund an der Kuppe nur „abrupt abbremste“, weil er sich bei Ansichtigwerden der Pferde erschrocken hat. Ein umsichtiger Hundehalter hätte nach Auffassung des Klägers „Stopp“, „Platz“ oder „Bei Fuß“ gerufen. Aus Sicht der Pferde macht es aber keinen Unterschied, ob der Hund, als sich die Tiere erstmals sehen konnten, abbremst, weil er erschrocken ist oder weil er von seinem Halter hierzu aufgefordert wird. Der Hund der Beklagten hat sich nach eigenen Angaben des Klägers genauso verhalten, wie wenn die Beklagte ihm ein Stoppzeichen zugerufen hätte. Das Fehlverhalten, das der Kläger der Beklagten vorwirft, hat sich im Unfallgeschehen mithin nicht ausgewirkt, da der Hund von selbst das tat, was veranlasst war, nämlich stehen zu bleiben. Daran ändert auch nichts, dass es sich nach Angaben des Klägers hierbei um ein „dynamisches“ Geschehen dergestalt handelte, dass der Hund nach seinem Auftauchen und Abbremsen gleich wieder verschwunden sein soll. Zu einer Haftung der Beklagten käme man nur, würde man fordern, dass der Hund wegen der Geländebeschaffenheit sich gar nicht auf die Kuppe hätte zubewegen dürfen, um dort nicht wegen anderer sich möglicherweise erschreckender Tiere oder Verkehrsteilnehmer „aufzutauchen“. Diese Auffassung teilt der Senat nicht, da sich ein derartiges Auftauchen letztlich nur dadurch verhindern ließe, dass der Hundeführer vorangeht oder der Hund sich nur so bewegen dürfte, dass er für andere Tiere stets aus größerer Entfernung sichtbar ist.

3. Weiter bedarf es keiner Erholung eines Sachverständigengutachtens zur Tiergefahr des Hundes, da es dahingestellt bleiben kann, ob sich in dem Verhalten des Hundes L. der Beklagten vorliegend die Tiergefahr verwirklichte.

a) Für eine die Tierhalterhaftung gemäß § 833 BGB auslösende typische Tiergefahr genügt grundsätzlich ein – durchaus natürliches – tierisches Verhalten, in welchem die eine Gefährdung der Gesundheit Dritter hervorrufende Unberechenbarkeit von Tieren zum Ausdruck kommt (vgl. BGH VersR 1976, 1090/1091; NJW 1982, 763; NJW 1999, 3119). Maßgeblich ist, ob der Hund, mag er auch ein normales Hundeverhalten an den Tag gelegt haben, ein Bewegungsverhalten zeigte, das über die bloße physische Anwesenheit hinausging und geeignet war, eine Schreckreaktion auszulösen. So wird etwa das Umherlaufen eines „geballten“ Hunderudels nach der Rechtsprechung als typische Tiergefahr angesehen (vgl. OLG Oldenburg OLGR 2002, 108/109; OLG Düsseldorf VersR 1993, 1496) oder auch das unkontrollierte Annähern aus einer Hofeinfahrt an einen auf der Straße befindlichen Radfahrer auf 3 m (Brandenburgisches OLG, DAR 2008, 647). Der Zurechnungszusammenhang ist dann unterbrochen, wenn die Reaktion des Betroffenen als nicht mehr durch das Gebaren des Tieres verursacht angesehen werden kann, weil sie völlig ungewöhnlich und damit durch das haftungsbegründende Ereignis nicht mehr herausgefordert ist (OLG Koblenz VersR 1999, S. 508). Abzustellen ist dabei auf die Bevölkerungsgruppe, der der Verletzte angehört. Insbesondere bei Kindern, Kranken oder sehr alten Menschen kann bereits das Anbellen durch einen Hund adäquat kausal für eine zum Schaden führende Schreckreaktion sein.

Auf die von der Berufung zitierte Entscheidung BGH VI ZR 23/15 kann sich die Klagepartei vorliegend nicht berufen, da in dem vom BGH entschiedenen Fall der Wolfshund des dortigen Beklagten über den Zaun sprang und dem Jack Russell Mischling des dortigen Klägers erhebliche Verletzungen zufügte.

b) Nach den Feststellungen des Landgerichts stoppte der rechts des Feldweges in der Wiese laufende Hund der Beklagten auf das erste Ansichtigwerden der Kutsche. Auch nach den Angaben des Klägers sah er den Hund nicht rennen, der Hund bellte nicht, er lief nicht auf den Feldweg und er zeigte kein aggressives Verhalten gegenüber den Pferden. Der Hund erschien nach Angaben des Klägers eben genau dort, wo die Kuppe war und er bremste „abrupt“ ab. Es erscheint daher fraglich, ob allein ein „Abbremsen“ des Hundes, also letztlich die physische Anwesenheit des Hundes in einiger Entfernung bereits die Tiergefahr verwirklicht.

Tierhalterhaftung - Berücksichtigung Tiergefahr
(Symbolfoto: Photonaturepaysage/Shutterstock.com)

4. Jedenfalls tritt die Tierhalterhaftung der Beklagten vorliegend wegen der überwiegenden Mitverursachung des Sturzes durch die eigenen Pferde des Klägers (§ 254 BGB) zurück. Insoweit findet eine entsprechende Anwendung des § 254 BGB nicht nur dann statt, wenn Tiere verschiedener Halter sich gegenseitig verletzen, sondern auch, wenn ein fremdes und ein eigenes Tier zusammen einen Schaden an einem anderen Rechtsgut als dem eigenen Tier, etwa an der eigenen Gesundheit, verursacht haben (vgl. OLG Düsseldorf NJW-RR 1994, 92/93 m.w.N.). Im Rahmen des § 254 BGB ist daher auch eine Tiergefahr zu berücksichtigen, für die der Geschädigte einzustehen hat. Denn dieser Vorschrift liegt der allgemeine Rechtsgedanke zu Grunde, dass der Geschädigte für jeden Schaden mitverantwortlich ist, bei dessen Entstehung ihm zuzurechnende Umstände, etwa eine Sach- oder Betriebsgefahr, mitgewirkt haben (vgl. OLG Hamm NJW-RR 1995, 598). Überwiegt die dem Geschädigten in dieser Weise zuzurechnende Tiergefahr im Einzelfall erheblich, führt dies zur Kürzung, ggf. zum Entfallen der Tierhalterhaftung für das andere beteiligte Tier (vgl. OLG Frankfurt NJW-RR 1999, 1255; OLG Hamm NJW-RR 1995, 599/600).

Davon ausgehend, dass nach klägerischer Darstellung erst die Schreckreaktion der eigenen Pferde den Unfall und die weitergehenden Folgen ausgelöst haben, steht außer Frage, dass sich in dem streitgegenständlichen Sturzgeschehen auch die Tiergefahr der klägerischen Pferde verwirklicht hat. Ein solches Scheuen eines Pferdes stellt ein typisches, unberechenbares Tierverhalten dar, auf Grund dessen den Pferdehalter schon bei einem normal empfindlichen Tier regelmäßig ein Mitverschulden trifft (vgl. OLG Düsseldorf NJW-RR 1999, 1622/1623). Die eigene Schilderung des Klägers im Rahmen seiner Anhörung zu Grunde gelegt, kam es zum Sturz, weil der Hund auf der Kuppe auftauchte und stehen blieb. Der Hund begab sich nicht auf den Feldweg, bellte die Pferde nicht an und zeigte auch kein aggressives Verhalten. Die Pferde selbst sollen an Hunde gewöhnt gewesen sein. Sie scheuten nach dem erstinstanzlichen Beweisergebnis und nach den Angaben des Klägers vor dem Senat nicht wegen eines heranrennenden, sondern wegen eines abbremsenden Hundes. Der Kläger selbst führte das Verhalten seiner Pferde darauf zurück, dass der Hund plötzlich erschien und zwar genau dort, wo die Kuppe war. Dieses bloße Erscheinen als Tier ist gegenüber dem Verhalten der Pferde nach Auffassung des Senats dahin zu werten, dass es zum vollständigen Zurücktreten der Tiergefahr des Hundes kommt (vgl. auch OLG Saarbrücken, NJW-RR 2006, 969-970).

II. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 91 I, 97 I ZPO.

III. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO i. Verb. m. § 544 II Nr. 1 ZPO.

IV. Die Revision war nicht zuzulassen. Gründe, die die Zulassung der Revision gem. § 543 II 1 ZPO rechtfertigen würden, sind nicht gegeben. Mit Rücksicht darauf, dass die Entscheidung einen Einzelfall betrifft, ohne von der höchst- oder obergerichtlichen Rechtsprechung abzuweichen, kommt der Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung zu noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.

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