LG Osnabrück – Az.: 7 S 25/19 – Urteil vom 11.06.2019
Auf die Berufung der Beklagten und die Anschlussberufung der Klägerin wird das am 13.12.2018 verkündete Urteil des Amtsgerichts Bad Iburg aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur weiteren Verhandlung und erneuten Entscheidung – auch über die Kosten des Berufungsverfahrens – an das Amtsgericht Bad Iburg zurückverwiesen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Die Parteien streiten um Ansprüche wegen eines Verkehrsunfalls, der sich am 07.03.2019 in D. ereignet hat.
Wegen der tatsächlichen Feststellungen und der Entscheidungsgründe wird auf das angefochtene Urteil Bezug genommen, § 540 Abs. 1 S. 1 ZPO/ § 522 Abs. 2 S. 4 ZPO.
Mit ihrer Berufung wendet sich die Beklagte gegen die Entscheidung des Amtsgerichts, das der Klage zu 80 % stattgegeben hat. Sie rügt vorrangig, dass das Amtsgericht dem Beweisantritt der Beklagten, zu dem von ihr geschilderten – zwischen den Parteien streitigen – Hergang des Unfallgeschehens ein unfallanalytisches Sachverständigengutachten einzuholen, nicht nachgegangen sei. Im Übrigen sei auch die rechtliche Bewertung des Amtsgerichts unzutreffend. Das Amtsgericht habe nicht hinreichend berücksichtigt, dass die das klägerische Fahrzeug führende Zeugin D. ihre aus § 1 Abs. 2 StVO folgende Pflicht, bei einer gegebenen Enge nicht rechts überholen zu dürfen, verletzt habe.
Die Beklagte beantragt, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Die Klägerin vertieft ihre erstinstanzlichen Ausführungen und verteidigt das angefochtene Urteil. Darüber hinaus hat die Klägerin mit am selben Tage beim Berufungsgericht eingegangenen Schriftsatz vom 18.04.2019 Anschlussberufung eingelegt, mit der sie – unter insoweit teilweiser Aufhebung der amtsgerichtsgerichtlichen Klageabweisung – die weitere Verurteilung zur Zahlung durch die Beklagte iHv 692,93 EUR in Bezug auf den Antrag zu Ziffer 1) und 66,30 EUR in Bezug auf den Antrag zu Ziffer 2) begehrt. Zur Begründung führt sie aus, dass die nach § 17 StVG vom Amtsgericht vorgenommene Abwägung unter Berücksichtigung der erstinstanzlichen Feststellungen unzutreffend sei.
Die Klägerin beantragt, die Beklagte auf die Anschlussberufung unter teilweiser Aufhebung der angefochtenen Entscheidung zu verurteilen, der Klägerin über den mit der angefochtenen Entscheidung zuerkannten Betrag weiteren Schadensersatz in Höhe von 692,93 € sowie weitere vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 66,30 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten seit dem 03.05.2019 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt, die Anschlussberufung zurückzuweisen.
Zur Begründung verweist sie auf ihr Berufungsvorbringen und ist ergänzend der Ansicht, dass eine volle Haftung der Beklagten selbst bei hypothetischer Unterstellung des klägerischen Vortrages ausscheide. Die Fahrerin des Klägerfahrzeugs falle nicht in den Schutzbereich des § 9 Abs. 5 StVO. Diese sei unter teilweiser Ausnutzung des neben der Fahrbahn gelegenen Rad- und Gehweges an dem auf der Fahrbahn stehenden Beklagtenfahrzeug vorbeigefahren und habe dabei zudem den Mindestabstand von 50 cm unterschritten.
Die Parteien haben übereinstimmend einen Antrag auf Aufhebung und Zurückverweisung nach § 538 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 ZPO gestellt.
II.
Sowohl die Berufung als auch die Anschlussberufung sind zulässig. Die Rechtsmittel haben in der Sache insoweit Erfolg, als der Rechtsstreit unter Aufhebung des landgerichtlichen Urteils zur weiteren Verhandlung und – erneuten – Entscheidung an die erste Instanz zurückzuverweisen ist, § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO. Denn die angefochtene Entscheidung leidet an einem Verfahrensmangel im Sinne der vorgenannten Vorschrift. Die Parteien haben den gemäß § 538 Abs. 2 S. 1 ZPO erforderlichen Antrag übereinstimmend gestellt.
Das Amtsgericht hat erhebliches Parteivorbringen übergangen und erforderlichen Beweis nicht erhoben. Aufgrund des Verfahrensmangels ist eine umfangreiche und aufwendige Beweisaufnahme notwendig. Eine Sachentscheidung durch die Kammer ist hier nicht sachdienlich, weil das Interesse an einer schnelleren Erledigung gegenüber dem Verlust einer Tatsacheninstanz nicht überwiegt. Der Rechtsstreit ist nicht entscheidungsreif. Im Einzelnen gilt Folgendes:
Das Amtsgericht ist einem zulässigen und erheblichen Beweisangebot der Beklagten nicht nachgegangen. Hierdurch ist der Anspruch der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs in entscheidungserheblicher Weise verletzt worden.
Vorliegend bestand eine Pflicht des Erstgerichts zur Einholung eines schriftlichen unfallanalytischen Sachverständigengutachtens zum Unfallhergang. Dem liegen folgende Erwägungen zugrunde:
Die Beklagte hat in ihrer Klageerwiderung zu dem von ihr behaupteten und zwischen den Parteien streitigen Geschehensablauf – neben dem Beweisantritt der Vernehmung des Zeugen Ö. – Beweis durch Einholung eines Sachverständigengutachtens angeboten. Diesem Beweisantritt zum Unfallhergang war nachzugehen.
Die Ablehnung eines Beweisantrags wegen Ungeeignetheit des Beweismittels kommt nur dann in Betracht, wenn es völlig ausgeschlossen erscheint, dass das Beweismittel – hier ein Sachverständigengutachten zum Unfallhergang – zu dem Beweisthema irgendwelche sachdienliche Erkenntnisse erbringen kann (BGH, Beschluss vom 10.04.2018 – VI ZR 378/17 = NJW 2018, 2803f., Rn. 9 mwN; BGH, Beschluss vom 12.09.2012 – IV ZR 177/11 = NJW-RR 2013, 9ff., Rn. 14; BVerfG: Beschluss vom 09.10.2007 – 2 BvR 1268/03 = BeckRS 2007, 28255). Danach können Beweisanträge auf Einholung eines unfallanalytischen Sachverständigengutachtens (sog. Unfallrekonstruktionsgutachten) nur in ganz seltenen Fällen abgelehnt werden. Denn bereits die Frage, welcher Umstand als Anknüpfungstatsache geeignet ist, kann im Regelfall nur von einem Sachverständigen beantwortet werden (vgl. OLG Jena, MDR 2012, 213f. = BeckRS 2012, 4774; Kaufmann in: Geigel, Haftpflichtprozess, 27. Auflage 2015, 25. Kapitel, Rn. 257 mwN). Computergestützte Unfallsimulationen liefern oftmals erhebliche Beiträge zur Unfallanalyse, was das Gericht aufgrund fehlender eigener Sachkunde regelmäßig nicht zu beurteilen vermag (Walter in: beck-online.GROSSKOMMENTAR GesamtHrsg: Gsell/Krüger/Lorenz/Reymann Hrsg: Spickhoff Stand: 01.07.2018, § 7 StVG, Rn. 244.2 mwN).
Gemessen an diesen Grundsätzen ist es vorliegend nicht (völlig) ausgeschlossen, dass ein unfallanalytisches Sachverständigengutachten weitere entscheidungserhebliche Erkenntnisse zum Unfallhergang ergeben kann. Es erscheint durchaus möglich, dass ein Sachverständiger – möglicherweise im Zusammenspiel mit den bisher getroffenen Feststellungen – aus den sich an den Fahrzeugen zeigenden Schadensbildern und der sachverständigen Analyse der Unfallörtlichkeit weitergehende Feststellungen treffen kann, die weiterbringende Erkenntnisse darstellen können. So kann ein fachkundiger Sachverständiger aus dem Schadensbild (etwa dem Anstoßwinkel, der Höhe des Schadensbildes am Pkw o.ä.) oftmals Feststellungen dazu treffen, wie sich die Fahrzeuge bei der Kollision aufeinander zu bewegt haben müssen oder ob ein Fahrzeug stand, während das andere in Bewegung war. Auch ergeben die Feststellungen eines Sachverständigen nach der Erfahrung der Kammer immer wieder den Schluss, dass ein bestimmter, von einer Partei behaupteter Geschehensablauf sich so wie von der Partei dargestellt jedenfalls nicht abgespielt haben kann. Dies kann wiederum für Rückschlüsse in Bezug auf die Glaubhaftigkeit oder Verlässlichkeit von Zeugenaussagen von Bedeutung sein.
Da das Amtsgericht nach der Vernehmung der Zeugen eine hinreichende Überzeugung für das Zutreffen der klägerischen Geschehensdarstellung gewonnen hatte, hätte es dem gegenbeweislichen Beweisantritt der Beklagtenseite zur Einholung eines Sachverständigengutachtens nachgehen müssen.
Die Begründetheit der Berufung als auch der Anschlussberufung hängen von den noch zu treffenden Feststellungen ab.
III.
Über die Kosten des Rechtsstreits und dieses Berufungsverfahrens wird die erste Instanz zu entscheiden haben.
IV.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 708 Ziffer 10 ZPO (vgl. Heßler in: Zöller, ZPO, 30. Aufl. 2014, § 538 Rn. 59; s.a.: BGH: Versäumnisurteil vom 24.11.1976 – IV ZR 3/75 = MDR 1977, 480).
V.
Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 ZPO nicht vorliegen. Die Rechtssache hat weder grundsätzliche Bedeutung noch rechtfertigt die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.