Skip to content

Verkehrssicherungspflicht – Anforderungen an die Räum- und Streupflicht bei Geh- und Überwegen

OLG Jena – Az.: 4 U 610/10 – Beschluss vom 22.12.2010

Die Parteien werden darauf hingewiesen, dass der Senat beabsichtigt, die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Landgerichts Meiningen vom 15.06.2010 – 3 O 1316/09 (486) – durch einstimmigen Beschluss nach § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO zurückzuweisen.

Die Klägerin erhält Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 11.01.11.

Gründe

Die Berufung (der Klägerin) hat nach einstimmiger Auffassung des Senats keine Aussicht auf Erfolg. Der Rechtssache kommt auch keine grundsätzliche Bedeutung über den Einzelfall hinaus zu; erforderlich ist auch keine Entscheidung des Senats im Urteilsverfahren zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 522 Abs. 2 Satz1 Nr. 1 – 3 ZPO).

Im Ergebnis zu Recht hat das Landgericht die Schadensersatzklage der Klägerin wegen ihres Sturzes am 23. 01. 2006 in Folge von Glätte abgewiesen. Ob dem Landgericht im Einzelnen beizupflichten ist, dass im gegebenen Fall an der behaupteten Unfallstelle keine Räum- und Streupflicht bestanden hat, kann letztlich dahingestellt bleiben (das Landgericht hat hierzu den Klägervortrag als wahr unterstellt, aber keinen Beweis erhoben). In jedem Fall scheidet eine Haftung der Beklagten (auch) aus dem Gesichtspunkt des überwiegenden Mit- bzw. Alleinverschuldens der Klägerin aus.

Verkehrssicherungspflicht - Anforderungen an die Räum- und Streupflicht bei Geh- und Überwegen
(Symbolfoto: Von ND700/Shutterstock.com)

Der erkennende Senat hat im Einklang mit der obergerichtlichen Rechtsprechung für die aus § 49 Abs. 3 ThürStrG abzuleitende Räum- und Streupflicht auf Gehwegen im innerörtlichen Bereich folgende Grundsätze aufgestellt (vgl. dazu grundlegend OLG Jena v. 09.03.2005, juris mit weiteren Hinweisen; OLG Jena Beschl. v. 23.12.2009, 4 U 779/09):

Die Verpflichtung, innerörtliche Gehwege und Überwege für Fußgänger von Schnee und Eis zu räumen, besteht zunächst nicht uneingeschränkt; sie steht vielmehr unter dem Vorbehalt des Zumutbaren, ausgehend von der (jeweiligen) Leistungsfähigkeit der Gemeinde. Schon hieraus folgt – wie bei der Verkehrssicherungspflicht ganz allgemein – dass maßgeblich darauf abzustellen ist, ob die Fußgänger bei vernünftiger Sicherheitserwartung mit der Sicherung des Gehwegs rechnen durften oder nicht (so auch OLG Hamm OLGR 2004, 38, 39). Zwar bestehen bei der Sicherungserwartung des Fußgängerverkehrs höhere – strengere – Anforderungen als im Straßenverkehr. Jedoch folgt eine Beschränkung auch im Bereich der Gehwege auf „verkehrswichtige“ Bereiche. Dieser Begriff ist jedoch nicht gleichbedeutend mit dem der Verkehrswichtigkeit bei Fahrbahnen, was oft verkannt wird. Aus dem Kreis der zu bestreuenden Gehflächen sind vielmehr lediglich die tatsächlich entbehrlichen Wege, für die ein echtes, jederzeit zu befriedigendes Verkehrsbedürfnis nicht besteht, herauszunehmen. Andererseits hat der Senat ausgeführt, dass grundsätzlich gewährleistet sein muss, dass wenigstens zu Fuß jede Wohnung – auch von älteren und gebrechlichen Menschen – einigermaßen sicher erreicht werden kann (in Anlehnung an  Schmid NJW 1988, 3177, 3181; OLG Ffm. Urt. v. 19.11.2003, 1 U 62/03, juris).

Unterstellt man zugunsten der Klägerin, dass ihr (und Ihres Ehemannes) Hausgrundstück nur über den Seitenarm der S.-Gasse fußläufig erreicht werden kann, also nur über diese Stichstraße, so ist immerhin auch zu berücksichtigen, dass es sich bei dem Hausgrundstück der Klägerin um das letzte Grundstück am Ende der Stichstraße handelt, für das ein Verkehrsbedürfnis also nur für die Bewohner dieses Hausgrundstücks besteht. Ob man in diesem Fall noch von einem nicht ganz unbedeutenden Verkehrsbedürfnis sprechen kann, braucht aber nicht entschieden zu werden.

Denn ist – wie hier – allenfalls von einem sehr geringfügigen Verkehrsbedürfnis auszugehen, kommt dem Umstand, dass der Klägerin ihre eigene Unachtsamkeit vorzuwerfen ist (§ 254 BGB), eine derart haftungsbegründende Bedeutung zu, dass eine Mithaftung der Beklagten ausscheidet. Das bedeutet, dass im gegebenen Fall die Klage unbegründet ist, weil die Klägerin ganz überwiegend selbst die haftungsrechtliche Verantwortung für ihren Sturz am 23.01.2006 trägt, hinter der eine – eventuelle – Pflichtverletzung der Beklagten völlig zurücktritt.

Auf die durch winterliche Witterung entstehenden Gefahren muss sich nämlich grundsätzlich jeder Verkehrsteilnehmer selbst einstellen und in eigenem Interesse Unfall verhütende Maßnahmen ergreifen bzw. Unfall trächtige Gefahren – wenn möglich – ganz vermeiden. Dazu gehört es auch, erkannte (besondere) Gefahren nach Möglichkeit zu umgehen. Lässt sich einer solchen Gefahr nicht ausweichen, muss man sich bei verkehrsgerechtem Verhalten die Frage gefallen lassen, ob es notwendig war, sich dieser Gefahr auszusetzen, wobei die Chancen, die Gefahr gleichwohl zu meistern (Grad der Beherrschbarkeit), und die Intensität der drohenden Rechtsgutverletzung (Grad der Gefährlichkeit) zu berücksichtigen sind. Im Rahmen der Haftungsabwägung kommt es entscheidend darauf an, ob das Verhalten des Schädigers oder das des Geschädigten den Schadenseintritt nach den konkreten Umständen des Einzelfalls in wesentlich höherem Maß wahrscheinlich gemacht hat (vgl. dazu OLG Hamm NZV 1999, 127).

Unstreitig hatte die Beklagte bereits 14 Tage lang diesen Bereich nicht (mehr) bestreut. Zwar herrschten nach dem eigenen Vortrag der Klägerin nur am 19.01.2006 winterliche Verhältnisse; die Klägerin hatte aber Kenntnis davon, dass an diesem Tag die S.-Gasse nicht geräumt und bestreut wurde. Am darauf folgenden Tag, dem 20.01.2006 herrschte – wieder nach Klägervortrag –Tauwetter. Schon aus diesem Grund bestand an diesem Tag keine Streupflicht, wenn es nicht zu einer allgemeinen Glätte kam. Eine solche – durch überfrierende Nässe – trägt die Klägerin aber erst für den Unfalltag, den 23.01.2006, vor. Unabhängig von einer eventuell bestehenden Streupflicht wusste die Klägerin, dass der Bereich der S.-Gasse schon seit Tagen nicht mehr bestreut worden war.

In Kenntnis der erkennbaren Gefahr unternahm die Klägerin zusammen mit Ehemann und den Kindern C. und E. einen Winterausflug, wobei die Klägerin nach eigenem Vortrag den Schlitten mit ihrem Sohn C. zog. Die Klägerin hat selbst vorgetragen, ihr und ihrem Mann sei die starke Glätte bewusst gewesen (s. S. 5 3. Absatz der Klageschrift v. 30.12.2009), weshalb sie auch beim Gehen und Ziehen des Schlittens jede erdenkliche Sorgfalt aufgewendet habe. Offensichtlich aber nicht genug, denn sie ist – nach ihrem eigenen Vortrag – schlagartig ausgerutscht und hingefallen. Daraus kann nur der Schluss gezogen werden, dass die Klägerin dem Straßenbelag an dieser Stelle, wahrscheinlich handelte es sich um eine besondere Glattstelle, nicht die nötige Aufmerksamkeit gewidmet hatte, die erforderlich war, diese Stelle sturzfrei zu überwinden oder diese ganz zu vermeiden, indem sie diese umging.

Schon nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist § 254 Abs. 1 BGB dahingehend auszulegen, dass es bei der Haftungsabwägung in erster Linie auf das Maß der Verursachung des Schadens ankommt, also das Maß, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben; ein weiterer Faktor der Abwägung ist danach das beiderseitige Verschulden (BGH VersR 1968, 1093). Für die Haftungsverteilung kommt es daher entscheidend darauf an, ob das Verhalten des Schädigers oder das des Geschädigten selbst den Schadenseintritt nach den konkreten Umständen in wesentlich höherem Maße wahrscheinlich gemacht hat. Der BGH hat ausgeführt, dass in besonderen Fallgruppen dann, wenn dem Verhalten eines der Beteiligten für die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts eine überragende Bedeutung zukommt, die dann vorzunehmende Abwägung dazu führt, dass dieser Beteiligte allein für den Schaden aufzukommen hat (so auch BGH DAR 1998, 192 zit. bei OLG Hamm aaO).

Im vorliegenden Fall steht auf Grund der eigenen Ausführungen der Klägerin fest, dass sie von vorne herein die Gefahr, die durch das unterlassene Streuen auf Grund der nach dem 20.01.2006 bestehenden Wetterlage (starker Frost) für die (einzige) Zugangsstraße, die auch als Weg zu benutzen war, bestand, kannte. Dieser Gefahr war sie sich auch bewusst, wie sie ausdrücklich in der Klageschrift vorgetragen hat. Die sich aus dem Straßenzustand ergebende Glättegefahr konnte und musste daher für sie beherrschbar sein, wenn sie sich ihr – ohne Not – aussetzte. Für den Ausflug bis in die – dunklen – Abendstunden hinein bestand kein notwendiger Anlass. Die Klägerin und ihre Familie hätten den Ausflug auch zu einer günstigeren Zeit oder jedenfalls bis zur einsetzenden Dämmerung (etwa 17.00 Uhr) durchführen oder auch ganz lassen können. Zudem zog die Klägerin den Schlitten, was erkennbar eine Gefahrsteigerung für sie bedeutete, weil sie noch auf den „müden“ Jungen (C.) achten musste. Sie hätte sich, wenn es sehr glatt war, bei ihrem Ehemann einhaken können oder sich von ihm stützen lassen oder ihm den Schlitten überlassen müssen.

Gegebenfalls hätte sie, wenn der Straßenbelag sehr glatt war, auch das anliegende Bankett der Straße nutzen können. Auf diesem war die Gefahr überfrierender Nässe, wie sie auf dem abgefahrenen Straßenbelag bestand, nicht in gleicher Weise – wenn überhaupt – gegeben (s. die überreichten Lichtbilder, Anlage K3). Hier bestand auch genügend Raum.

Nach alledem hatte es die Klägerin in der Hand, ob und wie sie im konkreten Fall der erkannten Gefahr begegnete. Sie traf durch ihr Verhalten die Entscheidung für die Möglichkeit des Schadenseintritts; ihr Verhalten war also maßgeblich für den Schadenseintritt. Demgegenüber wiegt eine eventuelle Pflichtverletzung der Beklagten im Hinblick auf den konkreten Schadenseintritt gering. Ihre (eventuelle) Pflichtverletzung bestand in einem Unterlassen, das gegenüber dem risikobelasteten aktiven Tun der Klägerin erheblich weniger wiegt. Zwar hat die Beklagte durch ihr Unterlassen eine Erstursache gesetzt, die die Klägerin auf Grund ihrer Kenntnis der Gefahr aber beherrschen konnte und musste. Selbst wenn in dem Unterlassen (der Beklagten) in Ansehung einer Streupflicht ein schuldhafter Verstoß gegen gesetzliche Pflichten (hier aus § 49 ThürStrG) lag, ändert dies nach Auffassung des Senats nichts an der Beurteilung, dass erst das bewusste und zielgerichtete Verhalten der Klägerin deren Sturz in entscheidender Weise wahrscheinlich gemacht hat. Daher hat die Klägerin – im gegebenen Fall – für die Folgen des Sturzes auch allein einzustehen.

Bleibt ihre Berufung –im Ergebnis – mithin erfolglos, rät der Senat der Klägerin, ihr aussichtsloses Rechtsmittel innerhalb der Erklärungsfrist zurück zu nehmen; auf die erhebliche Kostenersparnis sei vorsorglich hingewiesen.

Hinweis: Informationen in unserem Internetangebot dienen lediglich Informationszwecken. Sie stellen keine Rechtsberatung dar und können eine individuelle rechtliche Beratung auch nicht ersetzen, welche die Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalles berücksichtigt. Ebenso kann sich die aktuelle Rechtslage durch aktuelle Urteile und Gesetze zwischenzeitlich geändert haben. Benötigen Sie eine rechtssichere Auskunft oder eine persönliche Rechtsberatung, kontaktieren Sie uns bitte.

Soforthilfe vom Anwalt!

Jetzt Hilfe vom Anwalt!

Rufen Sie uns an um einen Beratungstermin zu vereinbaren oder nutzen Sie unser Kontaktformular für eine unverbindliche Beratungsanfrage bzw. Ersteinschätzung.

Ratgeber und hilfreiche Tipps unserer Experten.

Lesen Sie weitere interessante Urteile.

Unsere Kontaktinformationen.

Rechtsanwälte Kotz GbR

Siegener Str. 104 – 106
D-57223 Kreuztal – Buschhütten
(Kreis Siegen – Wittgenstein)

Hier finden Sie uns!

Telefon: 02732 791079
(Tel. Auskünfte sind unverbindlich!)
Telefax: 02732 791078

E-Mail Anfragen:
info@ra-kotz.de
ra-kotz@web.de

zum Kontaktformular

Ersteinschätzungen nur auf schriftliche Anfrage per Anfrageformular.

Rechtsanwalt Hans Jürgen Kotz
Fachanwalt für Arbeitsrecht

Rechtsanwalt und Notar Dr. Christian Kotz
Fachanwalt für Verkehrsrecht
Fachanwalt für Versicherungsrecht
Notar mit Amtssitz in Kreuztal

Über uns

Bürozeiten:
MO-FR: 8:00-18:00 Uhr
SA & außerhalb der Bürozeiten:
nach Vereinbarung

Für Besprechungen bitten wir Sie um eine Terminvereinbarung!

Das sagen Kunden über uns
Unsere Social Media Kanäle

 

Termin vereinbaren

02732 791079

Bürozeiten:
Mo-Fr: 08:00 – 18:00 Uhr

Kundenbewertungen & Erfahrungen zu Rechtsanwälte Kotz. Mehr Infos anzeigen.

Ersteinschätzung

Wir analysieren für Sie Ihre aktuelle rechtliche Situation und individuellen Bedürfnisse. Dabei zeigen wir Ihnen auf, wie in Ihren Fall sinnvoll, effizient und möglichst kostengünstig vorzugehen ist.

Fragen Sie jetzt unverbindlich nach unsere Ersteinschätzung und erhalten Sie vorab eine Abschätzung der voraussichtlichen Kosten einer ausführlichen Beratung oder rechtssichere Auskunft.

Aktuelles Jobangebot

Juristische Mitarbeiter (M/W/D)
als Minijob, Midi-Job oder in Vollzeit.

mehr Infos