KG Berlin – Az.: 22 U 33/18 – Urteil vom 22.08.2019
Die Berufung des Klägers gegen das am 22. Mai 2018 verkündete Urteil des Landgerichts Berlin, Az.: 41 O 155/16, wird auf seine Kosten zurückgewiesen.
Dieses und das angefochtene Urteil sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
Gründe
Der Kläger begehrt Schmerzensgeld nach einem Verkehrsunfall vom 28. Oktober 2015 auf der Kreuzung Bahnhofstraße/Berliner Straße/Pasewalker Straße/Rosenthaler Straße in Berlin, wo der Kläger in nördlicher Richtung fahrend und aus der Pasewalker Straße kommend mit dem Kraftfahrzeug Typ Opel Corsa, amtliches Kennzeichen … in die Kreuzung einfuhr und dort mit der rechten Seite des aus der Berliner Straße in südlicher Richtung kommenden, nach links in die Bahnhofstraße abbiegenden, von der Beklagten zu 1) geführten und bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten Kraftfahrzeug Typ Mercedes-Benz, amtliches Kennzeichen … kollidierte.
Der Kläger erlitt infolgedessen eine HWS-Distorsion, ein stumpfes Thoraxtrauma, ein stumpfes Bauchtrauma und eine Femurschaftsfraktur links mit Weichteilschaden ersten Grades und befand sich deshalb vom 28. Oktober 2015 bis zum 06. November 2015 in stationärer Behandlung.
Wegen des Parteivorbringens erster Instanz, der dort durchgeführten Beweisaufnahme und gestellten Anträge wird im Übrigen auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils Bezug genommen.
Das Landgericht hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugen … und … und durch Einholung des schriftlichen Sachverständigengutachtens des Sachverständigen … vom 19. Oktober 2017. Dieses Unfallrekonstruktionsgutachten kommt zu dem Ergebnis, dass sich das Klägerfahrzeug im Kollisionszeitpunkt mit einer Geschwindigkeit von 85 km/h bis 105 km/h bewegt habe, während das Beklagtenfahrzeug zu diesem Zeitpunkt mit etwa 5 km/h bis 10 km/h gefahren sei. Der Kläger habe sich der Unfallstelle zuvor mit mindestens 103 km/h genähert, bevor er 44 m und 1,6s vor der Kollision das Beklagtenfahrzeug als gefahrdrohend erkannt habe. Bei Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h sei die Kollision für den Kläger mit hoher Sicherheit räumlich und wahrscheinlich auch zeitlich vermeidbar gewesen.
Das Landgericht hat die Klage mit Urteil vom 22. Mai 2018 abgewiesen. Wegen der Begründung wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils verwiesen.
Gegen das seinem Prozessbevollmächtigten am 29. Mai 2018 zugestellte Urteil hat der Kläger am 29. Juni 2018 Berufung eingelegt und begründet.
Der Kläger verfolgt mit seiner Berufung seine Ansprüche nur noch nach einer Haftungsquote von 33% weiter. Er meint, das Landgericht habe die Verursachungsanteile im Rahmen der nach § 17 StVG vorzunehmenden Abwägung unzutreffend gewürdigt und das grobe Verschulden der Beklagten zu Unrecht hinter dem Verkehrsverstoß des Klägers zurücktreten lassen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens im Berufungsverfahren und der gestellten Anträge wird auf den vorgetragenen Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
II. Die zulässige, insbesondere frist- und formgerecht eingelegte (§§ 511 ff. ZPO) Berufung ist unbegründet.
Eine Berufung kann nach § 513 ZPO nur darauf gestützt werden, dass die Entscheidung auf einer fehlerhaften Anwendung oder der Nichtanwendung einer Rechtsnorm beruht oder die nach § 529 ZPO der Entscheidung zugrunde zu legenden Tatsachen eine andere Entscheidung rechtfertigen. Unter Anwendung dieses Maßstabs hat die Berufung des Klägers auch unter Berücksichtigung des Berufungsvorbringens keinen Erfolg.
Das angefochtene Urteil hält den Berufungsangriffen stand. Das Landgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen.
1. Zutreffend ist das Landgericht davon ausgegangen, dass der Verkehrsunfall weder durch höhere Gewalt (§ 7 Abs. 2 StVG) verursacht wurde, noch für eine der Parteien unabwendbar (§ 17 Abs. 3 StVG) war.
Das Landgericht hat ebenfalls zutreffend erkannt, dass der Beklagten zu 1) ein Verstoß gegen § 9 Abs. 3 Satz 1 StVO und dem Kläger ein Verstoß gegen § 3 Abs. 3 Nr. 1 StVO unfallverursachend vorzuwerfen war.
a) Dabei folgt der Senat allerdings der landgerichtlichen Auffassung, der gegen die Beklagten zu 1) als Linksabbiegende streitende Anscheinsbeweis sei erschüttert, nicht.
Nach § 9 Abs. 3 Satz 3 StVO muss, wer links abbiegen will, entgegenkommende Fahrzeuge durchfahren lassen. Wenn der Linksabbieger der hiernach bestehenden Wartepflicht nicht genügt und es deshalb zu einem Unfall kommt, spricht ein Anscheinsbeweis für das Verschulden des Abbiegenden (BGH, Urteil vom 13. Februar 2007 – VI ZR 58/06 -, juris Rdn. 8). Der Entgegenkommende verliert auch durch eine Geschwindigkeitsüberschreitung seinen Vorrang gegenüber dem Linksabbiegenden nicht (BGH, Urteil vom 25. März 2003 – VI ZR 161/02 -, juris Rdn. 9), vielmehr hat der Abbiegende jedenfalls mit möglichen mäßigen, wenngleich nicht unvernünftig hohen Geschwindigkeitsüberschreitungen des Entgegenkommenden zu rechnen (BGH, Urteil vom 14. Februar 1984 – VI ZR 229/82 -, juris Rdn. 15). Der Wartepflichtige darf aber insoweit auf die Einhaltung einer angemessenen oder üblicherweise bei vernünftiger Verkehrserwartung noch tolerierten Geschwindigkeit des entgegenkommenden bevorrechtigten Kraftfahrers nur solange vertrauen, als er bei sorgfältiger Beobachtung der Fahrbahn nicht erkannte oder erkennen musste, dass dieser sich mit einer höheren Geschwindigkeit nähert (BGH. a.a.O.).
b) Hier hat sich das Klägerfahrzeug der Unfallstelle zwar mit einer um mehr als 100% über der maximal zulässigen Höchstgeschwindigkeit liegenden und damit mit einer im konkreten Fall der hier im Innenstadtbereich an einer Straßenbahnhaltestelle liegenden Unfallstelle nicht mehr zu erwartenden unvernünftig hohen Geschwindigkeit genähert, es ist aber nicht ersichtlich, wieso dies die Beklagte nicht hätte erkennen müssen. Zwar kann aufgrund der Dunkelheit zum Unfallzeitpunkt und der möglicherweise sichtbeeinträchtigenden Straßenbahnhaltestelle an der Unfallstelle von einer erschwerten Einschätzbarkeit ausgegangen werden, dies befreit den Linksabbiegenden aber nicht von der Pflicht, sich im Zweifel (etwa dann, wenn bei vollkommener Dunkelheit nur Scheinwerferlicht sichtbar ist) durch längeres Beobachten Gewissheit über die Annäherungsgeschwindigkeit des Bevorrechtigten zu verschaffen. Dass dies hier nicht möglich gewesen wäre, ist nicht ersichtlich, zumal die im Innenstadtbereich gelegenen streitgegenständlichen Straßen durch Straßenbeleuchtung hinreichend ausgeleuchtet waren.
2. Der danach weiter bestehende Vorwurf einer Sorgfaltspflichtverletzung beim Linksabbiegen führt hier gleichwohl aber nicht zu einer Haftung der Beklagten.
Dem Landgericht ist darin zuzustimmen, dass der Verkehrsverstoß der Beklagten zu 1) ebenso wie die Betriebsgefahr ihres Kraftfahrzeugs (§ 7 Abs. 1 StVG) hinter dem besonders schweren Verkehrsverstoß des Klägers zurücktreten, so dass dieser für seinen Schaden allein einzustehen hat.
a) Nach den Feststellungen des Sachverständigengutachtens des Sachverständigen … vom 19. Oktober 2017, denen die Berufung insoweit nicht mehr entgegentritt, befuhr der Kläger die Pasewalker Straße in Berlin, die vor der Unfallstelle keine Fahrstreifenmarkierungen aufweist und deren rechter Fahrbahnrand als Parkstreifen benutzt wird, in nördlicher Richtung bei Dunkelheit und trockenen Straßenverhältnissen mit einer Geschwindigkeit von mindestens 103 km/h und damit mit einer Geschwindigkeit, die um mehr als das Doppelte über der unter günstigsten Umständen zulässigen Höchstgeschwindigkeit in geschlossenen Ortschaften (§ 3 Abs. 3 Nr. 1 StVO) lag.
b) Wenn – wie hier – innerorts das Doppelte der maximal zulässigen Geschwindigkeit überschritten wird und wenn die tatsachlich gefahrene Geschwindigkeit gleichzeitig auch absolut 100 km/h überschreitet, ist nach Auffassung des Senats regelmäßig davon auszugehen, dass leichte Verkehrsverstöße Dritter – wie hier – hinter einem solchen besonders schwerwiegenden erheblichen Verstoß gegen § 3 Abs. 3 Nr. 1 StVO regelmäßig zurücktreten.
Dem steht nicht entgegen, dass bislang teilweise in ähnlichen Fällen bei einem Zusammentreffen eines Verstoßes gegen § 9 Abs. 3 Satz 1 StVO bzw. gegen § 8 Abs. 1, Abs. 2 Satz 2 StVO und eines erheblichen Verstoßes gegen § 3 Abs. 3 StVO in der Rechtsprechung regelmäßig eine Abwägung der Verursachungsanteile nur dann zu einer Alleinhaftung des Vorfahrtsberechtigten führte, wenn die erhebliche Geschwindigkeitsüberschreitung von mehr als 100% mit weiteren, besonderen Umständen zusammentraf (vgl. etwa KG, Urteil vom 04. September 2000 – 12 U 4373/99 -, juris Rdn. 12; OLG Stuttgart, Urteil vom 16. November 1993 – 10 U 13/93 -, juris = NZV 1994, 194; KG, Urteil vom 11. März 1982 – 12 U 2669/81 -, juris = VerkMitt 1982, 94; KG, Urteil vom 22. Juni 1992 – 12 U 7008/91 -, juris = VRS Bd. 83, 407; OLG Hamm, Urteil vom 14. August 1996 – 3 U 150/95 -, juris = VRS Bd. 93, 253).
Zwar lassen sich keine allgemeingültigen Richtwerte in Bezug auf das berechtigte Vertrauen eines Wartepflichtigen dahingehend, dass der Bevorrechtigte die Geschwindigkeit nicht in grober und außergewöhnlicher Weise überschreiten werde, aufstellen (BGH, Urteil vom 14. Februar 1984 – VI ZR 229/82 -, juris Rdn. 15). Im Rahmen der Abwägung nach § 17 Abs. 1 StVG ist aber dann regelmäßig von einer Alleinhaftung des Bevorrechtigten auszugehen, wenn dieser sowohl die maximal zulässige Geschwindigkeit um das Doppelte und gleichzeitig absolut 100 km/h überschreitet.
In Innenstadtlagen mit dem dort typischen komplexen Verkehrsgeschehen ist bei einer Geschwindigkeit von mehr als 100 km/h davon auszugehen, dass sich der Kraftfahrer bewusst außerstande setzt, unfallverhütend zu reagieren (KG, Urteil vom 31. Januar 1994 – 12 U 3121/92 -, juris Rdn. 28, dort mind. 72 km/h statt 50 km/h mit hälftiger Schadensteilung) und damit entgegen § 1 Abs. 1 StVO für ihn keine hinreichende Möglichkeit mehr besteht, bei entsprechendem Anlass auf das Fehlverhalten Dritter zu reagieren. Ebensowenig bestehen bei einer für Innenstadtlagen außergewöhnlich hohen Geschwindigkeit von absolut mehr als 100 km/h noch hinreichende zeitliche und räumliche Möglichkeiten, unvorhergesehen auftretende Veranlassungen zur Anpassung der eigenen Fahrweise außerhalb von Verkehrsverstößen Dritter gefahrverhütend wahrzunehmen (beispielsweise Kinder am Fahrbahnrand, vgl. BGH, Urteil vom 02. Juli 1985 – VI ZR 22/84 -, juris Rdn. 10), so dass ein besonders hohes abstraktes Gefährdungspotential für Dritte geschaffen wird. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass eine derart hohe Geschwindigkeitsüberschreitung nicht mehr mit Fahrlässigkeit erklärbar ist, sondern regelmäßig vorsätzliches Handeln angenommen werden muss (vgl. dazu KG, Beschluss vom 31. Mai 2019 – 3 Ws (B) 161/19 -, juris Rdn. 4).
c) Entgegen der Ansicht der Berufung ist damit hier nach Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge davon auszugehen, dass der Kläger für den ihm entstandenen Schaden allein haftet.
Ob in Bezug auf den hier geltend gemachten Schmerzensgeldanspruch daneben auch wegen Mitverschuldens durch bewusste vorwerfbare Selbstgefährdung von einer Anspruchsreduzierung auf Null auszugehen wäre, kann damit offen bleiben.
Damit besteht auch kein Anspruch auf Ersatz vorgerichtlicher Rechtsverfolgungskosten.
III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
IV. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 708 Nr. 10, § 713 ZPO in Verbindung mit § 26 Nr. 8 Satz 1 EGZPO.
V. Die Revision war nicht zuzulassen. Die Rechtssache hat weder grundsätzliche Bedeutung, noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung hier eine Entscheidung des Revisionsgerichts, § 543 Abs. 2 ZPO.
Die Revision ist gemäß § 543 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 ZPO nicht zuzulassen. Grundsätzliche Bedeutung kann nicht angenommen werden, da hier keine klärungsbedürftige Rechtsfrage betroffen ist, zu der unterschiedliche Ansichten vertreten werden. Soweit der Senat mit dieser Entscheidung teilweise abweichend von anderen obergerichtlichen Entscheidungen eine grundsätzliche Abwägungsregel skizziert, ist die Entscheidung nicht revisionsfähig. Die Abwägung nach § 17 Abs. 1 StVG obliegt grundsätzlich dem Tatrichter (BGH, Urteil vom 14. Februar 1984 – VI ZR 229/82 -, juris Rdn. 18).
Eine Entscheidung durch das Revisionsgericht zur Rechtsfortbildung (§ 543 Abs. 2 Nr. 2 ZPO) ist nicht erforderlich. Weder bestehen Gesetzeslücken, noch gibt der Einzelfall Veranlassung, Leitsätze für die Auslegung von Gesetzesbestimmungen deswegen aufzuzeigen, weil es für die rechtliche Beurteilung typischer oder verallgemeinerungsfähiger Lebenssachverhalte an einer richtungweisenden Orientierungshilfe ganz oder teilweise fehlt (vgl. BGH., Beschluss vom 04. Juli 2002 – V ZB 16/02 -, juris Rdn. 6). Im vorliegenden Fall ist nicht die Gesetzesauslegung betroffen, sondern die dem Tatrichter obliegende Abwägung nach § 17 Abs. 1 StVG (s.o.).
Auch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordert hier keine Revisionszulassung, da nicht über eine Rechtsfrage zu entscheiden war, welche ober- oder höchstrichterlich anders beantwortet wurde, und hier insbesondere kein Rechtssatz aufgestellt wird, der von einem eine Vergleichsentscheidung tragenden Rechtssatz abweicht (BGH, a.a.O., juris Rdn. 8).