Schockschaden für mittelbar Geschädigte
LG Limburg – Az.: 2 O 177/18 – Urteil vom 22.03.2019
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits hat die Klägerin zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags.
Tatbestand
Die Klägerin nimmt die Beklagten aus einem Verkehrsunfall auf Schadensersatz in Anspruch.
Die Klägerin querte zusammen mit Frau … (im Folgenden: die Getötete) am 14.09.2016 um 20.45 Uhr bei Dunkelheit außerorts nie Landstraße B.. Die Getötete ist die Ehefrau des Bruders des Ehemanns der Klägerin. Eine Straßenbeleuchtung war an dieser Stelle nicht vorhanden. Es bestand kein Fußgängerüberweg o. ä. Die Getötete war dunkel gekleidet und ging hinter der Klägerin. Der Beklagte zu 1) befuhr mit dem bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten Kraftfahrzeug die Landstraße mit jedenfalls 80 km/h. Sein Abblendlicht hatte der Beklagte zu 1) eingeschaltet. Er erfasste die Getötete, die schwer verletzt wurde und noch am selben Tag im Krankenhaus verstarb. Die Klägerin wurde von dem Fahrzeug nicht erfasst. Der Zusammenstoß ereignete sich hinter ihrem Rücken.
Am 29.08.2017 begab sich die Klägerin wegen psychischer Beschwerden in die Ambulanz der L.-D.-Kliniken in D.
Vorgerichtlich hat die Klägerin durch ihre Prozessbevollmächtigten die Beklagten mehrfach erfolglos aufgefordert, ihre Einstandspflicht anzuerkennen. Ihre vorgerichtlichen Anwaltskosten berechnet sie anhand einer 1,5-Gebühr aus dem Streitwert der Klage (s. Bl. 24 d. A.).
Die Klägerin behauptet, dass der Beklagte zu 1) zu schnell gefahren sei und er die Getötete noch rechtzeitig hätte erkennen können, um den Unfall zu vermeiden. Durch den Unfall habe sie, die Klägerin, erhebliche psychische Beeinträchtigungen erlitten. So würden sie die Bilder des Unfalls noch heute begleiten. Sie leide unter einer tiefgreifenden seelischen Beeinträchtigung. Es liege eine schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome sowie eine posttraumatische Belastungsstörung vor. Sie bedürfe einer fachärztlichen Behandlung. Gegenwärtig befinde sie sich bei einem Neurologen in Behandlung. Sie werde psychologisch therapiert. Seit dem September 2016 sei sie medikamentös mit Paroxetin behandelt worden und später mit Paroxedura und Quetiapin. Dadurch habe sie an Körpergewicht zugelegt, was sich negativ auf ihre psychische Verfassung auswirke. Es habe auch ein erfolgloser Behandlungsversuch in der Türkei stattgefunden. Sie sei sozial isoliert und könne ihren Alltag als Hausfrau kaum absolvieren. Ihre Stelle bei der Firma … habe sie infolge des Unfalls nicht mehr ausüben können. Ihre Verfassung habe sich negativ auf ihre Tochter ausgewirkt.
Sie ist der Ansicht, es liege das nach der Rechtsprechung erforderlich besondere Näheverhältnis zur Getöteten vor. Dazu behauptet sie, mit dieser nicht nur freundschaftlich, sondern auch durch den besonders engen Familienverbund verbunden gewesen zu sein. Man habe viel gemeinsame Zeit verbracht und große Teile der Freizeitgestaltung und des familiären Alltags gemeinsam begangen.
Die Klägerin beantragt,
1. die Beklagten zu verurteilen, als Gesamtschuldner an die Klägerin einen angemessenen Schmerzensgeldbetrag nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 15.09.2016, der die Mindestsumme von 25.000,00 € nicht zu unterschreiten hat, der im Übrigen in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, zu zahlen;
2. festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin alle weiteren ihr aus dem Unfall vom 14.09.2016 noch entstehenden Schäden zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind;
3. die Beklagten zu verurteilen, als Gesamtschuldner an die Klägerin außergerichtliche Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von 1.564,26 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 21.04.2018 zu zahlen.
Die Beklagten beantragen, die Klage abzuweisen.
Die Beklagten behaupten, die Getötete sei schlecht wahrnehmbar gewesen, diese hätte den herannahenden Beklagten zu 1) bereits aus einer Entfernung von 150 Metern sehen können. Dieser habe nicht mehr rechtzeitig bremsen können. Dazu sind sie der Ansicht, der Beklagte zu 1) habe nicht gegen das Sichtfahrgebot verstoßen, da er nicht mit Hindernissen oder Gefahren habe rechnen müssen. Fernlicht habe er nicht anschalten müssen. Die Klägerin müsse sich jedenfalls ein Mitverschulden der Getöteten anspruchsausschließend anrechnen lassen.
Die Akte der Staatsanwaltschaft Limburg zum Az. 3 Js 14715/16 ist beigezogen und zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist unbegründet.
I.
Der Klägerin steht kein Anspruch auf Zahlung von Schmerzensgeld gegen die Beklagten zu (Antrag zu 1).
1.
Der Anspruch folgt nicht aus § 7 Abs. 1 StVG bzw. § 7 Abs. 1 StVG i.V.m. § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG.
Etwaige Schäden, die die Klägerin infolge des Unfalls zwischen dem Beklagten zu 1) und der Getöteten erlitten haben mag, sind den Beklagten nicht zurechenbar.
Da die Klägerin nicht selbst unmittelbar an dem Unfall beteiligt war, sondern eine psychisch vermittelte Beeinträchtigung durch den Unfall der Getöteten erlitten haben will, ist sie „mittelbar“ Geschädigte (zum direkten Unfallbeteiligten etwa. BGH, Urt. v. 22.05.2007 – VI ZR 17/06, Rn. 14, juris). Sie könnte Schadensersatz daher nur nach den Grundsätzen der sogenannten Schockschäden ersetzt verlangen, die der Bundesgerichtshof zur Begrenzung der Deliktshaftung aufgestellt hat. Danach setzt die Zurechnung psychischer Beeinträchtigungen wie Trauer und Schmerz nicht nur eine pathologisch fassbare Gesundheitsbeschädigung voraus, sondern auch eine besondere personale Beziehung des solcherart „mittelbar“ Geschädigten zu einem schwer verletzten oder getöteten Menschen. Bei derartigen Schadensfällen dient die enge personale Verbundenheit dazu, den Kreis derer zu beschreiben, die den Integritätsverlust des Opfers als Beeinträchtigung der eigenen Integrität und nicht als „normales“ Lebensrisiko der Teilnahme an den Ereignissen der Umwelt empfinden (BGH, NJW 2012, 1730 Rn. 8). Eine solche Beziehung nimmt der Bundesgerichtshof nur bei einem äußerst engen verwandtschaftlichen Verhältnis an (BGH, Urt. v. 11.05.1971 – VI ZR 78/70, BeckRS 2009, 20953: Ehemann; BGH. NJW 1976, 673; Ehefrau; BGH. NJW 1984, 1405: Ehemann; BGH, NJW 1989, 2317: Sohn; BGH, Urteil vom 18.06.2006 – X ZR 142/05, Rn. 33, juris: Eltern und Brüder, BGH, NJW-RR 2013, 140: Kind; BGH, NJW 2015, 1451 Rn. 7: Ehefrau). Dem hat sich die obergerichtliche Rechtsprechung angeschlossen (vgl. etwa OLG Stuttgart, NJW-RR 1989, 477: Mutter). Außerhalb einer derartigen Beziehung zählt das bloße Miterleben eines Unfalls zum allgemeinen Lebensrisiko (BGH, NJW 2007, 2764 Rn. 17). Sonstige Dritte wie etwa Großeltern, Geschwister, Stiefkinder, geschiedene oder getrennt lebende Ehegatten, Fahrzeuginsassen oder Nachbarn gehören nicht zum anspruchsberechtigten Personenkreis (Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, 25. Aufl. 2018. Vor § 249 Rn. 130). Lediglich in einer vereinzelt gebliebenen Entscheidung aus dem Jahr 1969 ist die Zurechnung auf eine bloße Begleiterin eines Getöteten ohne verwandtschaftliche Nähebeziehung ausgedehnt worden (LG Frankfurt a. M., NJW 1969, 2286). Die zuletzt genannte Entscheidung überzeugt jedoch nicht. Sie steht im Widerspruch zur höchstrichterlichen und obergerichtlichen Rechtsprechung und deren überzeugendem Bestreben, die deliktische Haftung zu begrenzen und so eine uferlose Haftung zu vermeiden.
Die Getötete ist die Ehefrau des Bruders des Ehemanns der Klägerin. Damit ist sie mit der Getöteten weder verwandt, noch i.S.v. § 1590 Abs. 1 BGB verschwägert (vgl. BeckOGK/Haßfurter, BGB, 1.11.2018, § 1590 Rn. 12; „Nicht verschwägert sind: die Ehegatten zweier Geschwister miteinander [sog. Schwippschwager]“).
Sofern die Klägerin behauptet, mit der Getöteten nicht nur freundschaftlich, sondern auch durch den besonders engen Familienverbund verbunden gewesen zu sein und mit dieser viel gemeinsame Zeit verbracht und große Teile der Freizeitgestaltung und des familiären Alltags gemeinsam begangen zu haben, so genügt dies nicht, um das erforderliche Näheverhältnis zu begründen.
2.
Der Anspruch folgt auch nicht aus §§ 7 Abs. 1, 10 Abs. 3 StVG bzw. §§ 7 Abs. 1, 10 Abs. 3 StVG iV.m. § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG.
Da der Unfall nach dem 31.07.2002 stattfand, ist die Vorschrift des § 10 Abs. 3 StVG gemäß Art. 229 § 8 Abs. 1 EGBGB vorliegend anwendbar. Der Ersatz des sog. Schockschadens (dazu oben 1.) geht dem Anspruch auf Hinterbliebenengeld nur vor, sofern ersterer besteht (Regierungsentwurf, BT-Drucksache 127/17, S. 10 f. und S. 16 f.).
Nach § 10 Abs. 3 StVG hat im Fall der Tötung der Ersatzpflichtige dem Hinterbliebenen, der zur Zeit der Verletzung zu dem Getöteten in einem besonderen persönlichen Näheverhältnis stand, für das dem Hinterbliebenen zugefügte seelische Leid eine angemessene Entschädigung in Geld zu leisten. Ein besonderes persönliches Näheverhältnis wird vermutet, wenn der Hinterbliebene der Ehegatte, der Lebenspartner, ein Elternteil oder ein Kind des Getöteten war.
Für das Vorliegen eines besonderen persönlichen Näheverhältnisses ist die Intensität der tatsächlich gelebten sozialen Beziehung erheblich. Die Beziehung muss eine Intensität aufweisen wie sie in den in § 10 Abs. 3 S. 2 StVG aufgeführten Fällen typischerweise besteht. Die Verbundenheit zwischen dem Getöteten und seinen Hinterbliebenen muss folglich den gesetzlich vermuteten besonderen persönlichen Näheverhältnissen entsprechen. Wenn dies vorliegt, können zum Beispiel Partner einer ehe- oder lebenspartnerschaftsähnlichen Gemeinschaft, Verlobte (auch im Sinne des Lebenspartnerschaftsgesetzes), Stief- und Pflegekinder sowie Geschwister des Getöteten zum Kreis der Anspruchsberechtigten gehören (Regierungsentwurf, BT-Drucksache 127/17, S. 11 f. und S. 16 f.). Dabei ist das besondere persönliche Näheverhältnis eng zu verstehen, wie die Zielsetzung des Gesetzes zeigt. Danach soll mit dem Gesetz in Abweichung zu der oben dargelegten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu den sog. Schockschäden das rein seelische Leid entschädigt werden, auch wenn es nicht über die gesundheitlichen Beeinträchtigungen hinausgeht, denen Hinterbliebene im Todesfall erfahrungsgemäß ausgesetzt sind. Es soll das seelische Leid wegen der Tötung eines „besonders nahestehenden Menschen“ anerkannt werden (Regierungsentwurf, BT-Drucksache 127/17, S. 1). Damit sollte der Kreis derjenigen, die § 10 Abs. 3 StVG und seinen Parallelvorschriften unterfallen, in persönlicher Hinsicht nicht über denjenigen hinaus erweitert werden, der von der Rechtsprechung zu den sog. Schockschäden umfasst wird.
Sofern die Klägerin behauptet, mit der Getöteten nicht nur freundschaftlich, sondern auch durch den besonders engen Familienverbund verbunden gewesen zu sein und mit dieser viel gemeinsame Zeit verbracht und große Teile der Freizeitgestaltung und des familiären Alltags gemeinsam begangen zu haben, so genügt dies auch im Rahmen von § 10 Abs. 3 StVG nicht, um das erforderliche Näheverhältnis zu begründen. Die Klägerin und die Getötete sind weder verwandt noch verschwägert, sie lebten nicht in einem gemeinsamen Haushalt und unterstützten einander nicht finanziell (vgl. dazu BeckOGK/Walter, StVG, 1.7.2018, § 10 Rn. 23; Wagner, NJW 2017, 2641, 2644). Die vorgetragene gemeinsame Freizeitgestaltung hebt die Beziehung nicht auf die Intensität des Verhältnisses von Ehegatten, der Lebenspartnern. Elternteilen oder Kindern.
3.
Im Übrigen muss sich die Klägerin auch analog § 254 BGB (BGH, NJW 1971, 1883) bzw. nach § 846 BGB ein anspruchsausschließendes Mitverschulden der Getöteten anrechnen lassen. Diese trug dunkle Kleidung, überquerte die Landstraße außerorts ohne Fußgängerüberweg o. ä. und vergewisserte sich offensichtlich nicht, ob Fahrzeuge herannahen. Die vom Beklagten ausgehende Betriebsgefahr tritt dahinter zurück (vgl. OLG Saarbrücken, SVR 2011, 422).
II.
Aus den vorgenannten Gründen steht der Klägerin auch kein Anspruch auf Ersatz weitergehender Schäden gegen die Beklagten zu (Antrag zu 2).
III.
Mangels Hauptanspruchs kann die Klägerin nicht Ersatz ihrer vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten von den Beklagten verlangen (Antrag zu 3).
IV.
Die Nebenentscheidungen folgen aus §§ 91 Abs. 1, 709 S. 1, 2 ZPO.