OLG München
Az: 10 U 3074/13
Urteil vom 14.02.2014
Tenor
1. Auf die Berufung des Klägers vom 01.08.2013 wird das Endurteil des LG Landshut vom 12.07.2013 (Az. 71 O 2130/11) aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LG Landshut zurückverwiesen.
2. Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens bleibt dem LG Landshut vorbehalten.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
4. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
A.
Von der Darstellung der tatsächlichen Feststellungen wird abgesehen (§§ 540 II, 313 a I 1 ZPO i. Verb. m. § 26 Nr. 8 EGZPO).
Entscheidungsgründe
B.
Die statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung hat in der Sache jedenfalls vorläufig Erfolg.
I. Das Landgericht hat nach derzeitigem Verfahrensstand zu Unrecht einen Anspruch des Klägers auf Schadensersatz verneint und die Klage abgewiesen, ohne sämtliche angebotenen Beweise zu erheben.
1. Nach Auffassung des Senats hat das Landgericht verfahrensfehlerhaft von der Anhörung der Zeugin A. S. (D.) abgesehen, deren Einvernahme mit Beschluss vom 02.03.2012 (Bl. 63/64 d.A.) angeordnet worden war.
a) Der Kläger hat mehrfach auf Befragen seitens des Gerichts ausdrücklich erklärt, auf die Zeugin nicht zu verzichten (Bl. 57 d.A.), das Einverständnis mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren nach Erholung des Gutachtens genügt daher nicht für die Annahme eines „stillschweigenden“ Verzichts, zumal das Landgericht dem Kläger mit Beschlussfassung betreffend die Anberaumung eines Verkündungstermins lediglich durch begleitende Verfügung mitteilte, wie es seine Zustimmung werte. Eine Verzichtserklärung des Klägers kann in der unterbliebenen Äußerung angesichts der vormaligen ausdrücklichen Erklärung, dass auf die Zeugin nicht verzichtet wird, nicht gesehen werden, es hätte vielmehr einer erneuten Anfrage bedurft.
b) Das Beweismittel ist auch im Hinblick auf das Ergebnis des Gutachtens nicht als völlig ungeeignet anzusehen. Die Kollisionsgeschwindigkeit des BMW betrug 23 km/h. Die Einlassung des Klägers, wie er sie auch anlässlich seiner polizeilichen Einvernahme = Bl. 22 d.A. vortrug und die durch Einvernahme der Zeugin unter Beweis gestellt wurde, ist damit widerlegt. Hinsichtlich des behaupteten Stillstandes des BMW mag die Zeugin wegen der Feststellungen des Sachverständigen auch ein völlig ungeeignetes Beweismittel sein, aber es kommt eine Überzeugungsbildung dahin in Betracht, dass es auf Grund eines kollisionsbedingten Zurückschleuderns des Pkw Audi zum Unfall kam.
2. Hinsichtlich des Anscheinsbeweises teilt der Senat ebenfalls nicht die Ansicht des Landgerichts:
a) Bei einem typischen Auffahrunfall haftet der Auffahrende grundsätzlich allein und in voller Höhe. Im Allgemeinen spricht der Beweis des ersten Anscheins gegen denjenigen, der auf ein vor ihm (vorwärts) fahrendes oder stehendes Fahrzeug fährt, weil der Auffahrende in diesen Fällen entweder zu schnell, mit unzureichendem Sicherheitsabstand oder unaufmerksam gefahren ist (§ 1 II StVO) (vgl. BGH VersR 1964, 263, 264; VersR 1982, 672; NZV 1989, 105). Der Auffahrende kann den gegen ihn sprechenden Anscheinsbeweis erschüttern oder ausräumen, wenn er Umstände darlegt und beweist (nicht etwa nur behauptet), die die ernsthafte Möglichkeit eines anderen atypischen Geschehensablaufs ergeben (BGH NJW 1982, 1595, 1596; NZV 1989, 105).
Erschüttert bzw. ausgeräumt ist der Anscheinsbeweis nach Ansicht des KG, Urt. v. 20.01.1994, Az. 12 U 4863/93 [juris] etwa dann, wenn der Auffahrende nachweist, dass der Vorausfahrende unter Verstoß gegen § 4 I 2 StVO ohne zwingenden Grund plötzlich stark gebremst hat. Jedenfalls mit einem „ruckartigen“ Stehenbleiben muss der Hintermann nicht ohne weiteres rechnen, etwa einem Abwürgen des Motors mit sofortigem Stillstand des Fahrzeugs (BGH NJW 1987, 1075; OLG Düsseldorf, Urt. v. 10.11.2003, Az. I-1 U 28/02 [juris]). Es fehlt dann der gegen den Auffahrenden sprechende und den Anscheinsbeweis begründende typische Geschehensablauf (BGHZ 192, 84 = NJW 2012, 608 = NZV 2011, 177 f.; OLG Naumburg NJW-RR 2003, 809 = VRS 104 [2003] 417; OLG Düsseldorf 08.03.2004 – 1 U 97/03; OLG Hamm NJW-RR 2004, 173; Senat, Urt. v. 04.09.2009 – 10 U 3291/09; KG NZV 2011, 185 f.).
Vorliegend ist durch das Gutachten bewiesen, dass es zur Kollision kam, weil der Audi durch die vorangegangene Kollision plötzlich zum Stillstand kam oder – was im Übrigen wahrscheinlicher ist – zurückgeschleudert wurde, wobei er sich zum Kollisionszeitpunkt noch in Rückwärtsfahrt befand (Gutachten S. 16 = Bl. 104 d.A.), während der Kläger bei Fortführung des Abbiegevorganges ohne Abbremsung am Audi vorbeigelangt wäre. Damit ist für die Annahme eines Anscheinsbeweises kein Raum mehr, weil auf Grund bewiesener Umstände ein anderer Geschehensablauf in Betracht zu ziehen ist.
b) Das Landgericht hat weiter die Beweisaufnahme vorzeitig abgebrochen, weil es dem Sachverständigen die nach Ausführung des erteilten Auftrages noch offen gebliebenen entscheidungserheblichen Fragen nicht stellte. Gutachten hat das Gericht kritisch zu würdigen, erforderliche Anordnungen gem. § 404 a ZPO unterblieben vorliegend. Maßgeblich für ein Verschulden des Klägers ist nicht, ob er hinter dem Audi hätte vorbeifahren können, wenn dieser die Vorfahrt des Geradeausverkehrs beachtet und auf der rechten Fahrbahnhälfte weiter abgebremst hätte, sondern, ob der Kläger in Anbetracht des dann gänzlich anderen Verzögerungsverhaltens (weder ein plötzlicher Stillstand noch eine kollisionsbedingte Rückwärtsfahrt mit Bremswegverkürzung) des Audi sein Fahrzeug ebenfalls rechtzeitig hätte abbremsen können (vgl. Ergänzungsgutachten S. 2, 3 = Bl. 124 d.A) und weiter, ob gegebenenfalls auf eine erkennbare Gefahrsituation eine frühere Reaktion erforderlich war. Für die Beurteilung des Fahrverhaltens des Beklagten zu 1) ist ebenfalls die Erkennbarkeit des Gegenverkehrs relevant, auf eine eventuelle Blendung durch die Sonne hatte er sich einzustellen.
II. Der Senat hat eine eigene Sachentscheidung nach § 538 I ZPO erwogen, sich aber – entgegen seiner sonstigen Praxis – aus folgenden Gründen dagegen entschieden: Ein unberechtigtes Übergehen eines Beweisantrags stellt einen Verstoß gegen die Pflicht zur Erschöpfung der Beweismittel als Ausfluss der Pflicht zur Gewährung rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 I GG dar (BVerfGE 50, 32= NJW 1979, 413) und begründet, da es sich bei dem Gebot der Ausschöpfung der angebotenen Beweise um das Kernstück des Zivilprozesses handelt (Senat NJW 1972, 2048 [2049]), einen wesentlichen Verfahrensmangel im Sinne § 538 II 1 Nr. 1 ZPO (BGH VersR 2011, 1392 [1394 unter Tz. 21]; Senat Urt. v. 10.02.2012 – 10 U 4147/11 [juris, dort Rz. 8]; OLG München, Urt. v. 25.04.2012 – 3 U 4323/11 [juris, dort Rz. 60]; OLG Frankfurt a. M., Urt. v. 28.04.2010 – 9 U 133/09 [juris, dort Rz. 29]; NJW-RR 2010, 1689; KG, Urt. v. 14.02.2010 – 12 U 67/10 [juris]; Beschl. v. 02.08.2010 – 12 U 49/10 [juris, dort Rz. 52]; OLG Zweibrücken NJW-RR 2011, 496 [498]; NZV 2012, 295 [296 a. E.]; OLG Jena NJW 2012, 2357 f.; OLG Naumburg NJW-RR 2012, 1535 [1536]; Wieczorek/Schütze/Gerken, ZPO, 3. Aufl. 2004, § 538 Rz. 27; Zöller/Heßler, ZPO, 30. Aufl. 2014, § 538 Rz. 25). Eine Beweisaufnahme in dem vorstehend beschriebenen Umfang wäre umfangreich i. S. d. § 538 II 1 Nr. 1 ZPO und würde den Senat zu einer mit der Funktion eines Rechtsmittelgerichts unvereinbaren weitgehenden Wiederholung des erstinstanzlichen Verfahrens (Senat VersR 2011, 549 ff.) zwingen.
Die Frage der Zurückverweisung wurde auch in der mündlichen Verhandlung mit den Parteivertretern ausführlich erörtert. Beide Parteivertreter sind einer Zurückverweisung nicht entgegengetreten, seitens des Klägervertreters wurde sie beantragt.
Für das weitere Verfahren wird auf folgendes hingewiesen:
1. Unerreichbarkeit eines Zeugen ist nur anzunehmen, wenn er länger als drei Monate vernehmungsunfähig ist (BGH NStZ 2003, 562; Hk-ZPO/Saenger § 284 Rz. 53), im Ausland lebt und sein Erscheinen definitiv abgelehnt hat (BGH NJW 1992, 1768 [1769]; OLG Saarbrücken NJW-RR 1998, 1685; Hk-ZPO/Saenger a.a.O. ) oder nicht am Gerichtsort erscheinen muß.
Ob eine Unerreichbarkeit eines Zeugen auch gegeben ist, wenn eine kommissarische Vernehmung im Rechtshilfeweg nach § 363 ZPO mangels persönlichem Eindruck von dem Zeugen für die Überzeugungsbildung und Wahrheitsfindung nicht genügt, ist strittig, wird aber – insbesondere in neuerer Zeit – zu Recht überwiegend verneint (so BGH, Urt. v. 07.05.1958 – V ZR 237/56 [unter 3 a. E.] = JurionRS 1958, 13614; BAG AP Nr. 1 zu § 355 ZPO = BB 1977, 1706 [nur Leitsatz]; OLG Nürnberg OLGR 2003, 352; OLG Stuttgart IPRspr. 2010, 627 ff. – und ihm folgend Oberheim, Erfolgreicher Taktik im Zivilprozess, 5. Aufl. 2011, Rz. 1784; Schneider, Beweis und Beweiswürdigung, 5. Aufl. 1994, Rz. 216; Stackmann, Der Einzelrichter im Verfahren vor den Land- und Oberlandesgerichten, 2006, Rz. 168; Hk-ZPO/Eichele § 363 Rz. 2; BL/Hartmann § 286 Rz. 33, 38; Dötsch MDR 2011, 269 ff., passim; MüKo-ZPO/Heinrich § 363 Rz. 3; a. A. RG WarnRspr. 1937, Nr. 162; OLG Saarbrücken NJW-RR 1998, 1685; WM 2001, 2055 [insoweit in OLGR 2001, 403 nicht abgedruckt]; OLG Düsseldorf, Urt. v. 18.3.2002 – 9 U 199/99 [juris, dort Rz. 37-40]; OLG Koblenz OLGR 2008, 362; Jäckel, Das Beweisrecht der ZPO, 2009, Rz. 280; Hk-ZPO/Saenger § 284 Rz. 53; HdbStraßenverkR/Burmann/Heß Kap. 3 B Rz. 390; Zöller/Greger, ZPO, 30. Aufl. 2014, Rz. 11 a vor § 284 [ohne Erwähnung der Gegenmeinung]; offengelassen von BGH NJW 1992, 1768).
2. Bevor eine Unerreichbarkeit bejaht wird, wird im Übrigen im Hinblick auf die Pflicht zur möglichst vollständigen Sachverhaltsaufklärung nach § 286 I 1 ZPO (BGH, Urt. v. 07.05.1958 – V ZR 237/56 [unter 3 a. E.] = JurionRS 1958, 13614; NJW 1992, 1768) und den in § 355 I 1 ZPO verankerten Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme gemäß §§ 363 II, 1073 II ZPO eine Vernehmung im Ausland nach Art. 17 des Haager Übereinkommens über die Beweisaufnahme im Ausland in Zivil- und Handelssachen vom 18.03.1970 (HÜB; BGBl. 1977 II, S. 1472; deutsches Ausführungsgesetz von 22.12.1977 [BGBl. 1977 I S. 3105]; vgl. zu diesem Abkommen eingehend Balzer, Beweisaufnahme und Beweiswürdigung im Zivilprozess, 3. Aufl. 2011, Rz. 418-426), welches im Verhältnis zu Staaten außerhalb der EU und zu Dänemark an Stelle der EuBeweisVO gilt (vgl. dort Art. 1, 21 I), sowie die Möglichkeit einer Videovernehmung nach § 128 a ZPO zu erwägen sein (Dötsch MDR 2011, 269 [272 f. unter II 3 b] zur Videovernehmung).
III. Die Kostenentscheidung war dem Erstgericht vorzubehalten, da der endgültige Erfolg der Berufung erst nach der abschließenden Entscheidung beurteilt werden kann (OLG Köln NJW-RR 1987, 1032; Senat in st. Rspr., zuletzt VersR 2011, 549 ff. und NJW 2011, 3729).
III. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 708 Nr. 10 ZPO. Auch im Falle einer Aufhebung und Zurückverweisung ist im Hinblick auf die §§ 775 Nr. 1, 776 ZPO ein Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit geboten (BGH JZ 1977, 232; Senat in st. Rspr., zuletzt u. a. VersR 2011, 549 ff. und NJW 2011, 3729), allerdings ohne Abwendungsbefugnis (Senat a.a.O. ).
IV. Die Revision war nicht zuzulassen. Gründe, die die Zulassung der Revision gem. § 543 II 1 ZPO rechtfertigen würden, sind nicht gegeben. Mit Rücksicht darauf, daß die Entscheidung einen Einzelfall betrifft, ohne von der höchst- oder obergerichtlichen Rechtsprechung abzuweichen, kommt der Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung zu noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.