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Erwerbsausfallschaden – ärztlicher Behandlungsfehler bei einem Schwerbehinderten

OLG Stuttgart, Az.: 14 U 20/97, Urteil vom 25.11.1997

I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 14.03.97 – 15 O 497/95 – wie folgt abgeändert:

1. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger 30.528,00 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 08.12.95 zu bezahlen.

2. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger monatlich zum Ende eines Monats, beginnend ab Januar 1996 eine Rente von 1.828,00 DM bis zum Ablauf des 30.11.2038 zu bezahlen.

Erwerbsausfallschaden – ärztlicher Behandlungsfehler bei einem Schwerbehinderten
Symbolfoto: Rido81/Bigstock

Im übrigen wird die Klage abgewiesen. Die weitergehende Berufung des Klägers und die Berufung der Beklagten werden zurückgewiesen.

II. Von den Kosten in beiden Rechtszügen tragen der Kläger 1/3, die Beklagten als Gesamtschuldner 2/3.

III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Beklagten dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 105.000,00 DM abwenden, wenn nicht der Kläger vor Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Wert der Berufung – des Klägers (rückständige Beträge) 14.666,72 DM

(Rente gem. § 17 Abs. 2 GKG) 55.000,20 DM – der Beklagten (rückständige Beträge) 29.333,28 DM

(Rente) 109.999,80 DM insgesamt

209.000,00 DM

Beschwer

– des Klägers (rückständige Beträge) 14.666,72 DM (Rente gem. § 9 ZPO) 38.500,14 DM

Insgesamt 53.166,86 DM

– der Beklagten über 60.000,00 DM.

Tatbestand

Der am 16.11.1973 geborene Kläger macht gegenüber den Beklagten Schadensersatzansprüche wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung geltend.

Der Kläger kam mit einem Hydrocephalus zur Welt, der in der Folgezeit mit einem Druckentlastungsventil versorgt wurde. Ferner hatte der Kläger eine Mißbildung des Gehirns im Sinne porencephaler Zysten, welche sich in einer Hemisymptomatik rechts und einem cerebralen Anfallsleiden äußerte. Folge war ferner ein mentaler Entwicklungsrückstand, auch in der Sprachfindung. Seit 1980 befand er sich u.a. in Behandlung von Ärzten des O, das von der Beklagten Ziff. 3 getragen wird. Im Rahmen eines Behandlungsabschnitts vom 04. – 06.05.84 kam es zu einer cerebralen Einklemmung, die eine Stammhirnschädigung zur Folge hatte. Der Kläger ist seitdem in hohem Maße pflege- und betreuungsbedürftig. Er ist nicht in der Lage, ein selbständiges Leben zu führen und seinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen.

Durch rechtskräftiges Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 26.11.93 – 15 O 213/88 – wurde u.a. festgestellt, daß die Beklagten dem Kläger als Gesamtschuldner sämtlichen materiellen Schaden zu ersetzen haben, der ihm aufgrund seiner in der Zeit vom 4. – 6. Mai 1984 im O in S erfolgten Behandlung künftig erwächst, soweit die Ansprüche nicht auf Dritte übergegangen sind.

Die Parteien streiten darüber, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang er ohne die fehlerhafte ärztliche Behandlung einen Beruf hätte ausüben und was er hierdurch hätte verdienen können.

Der Kläger hat hierzu vorgetragen:

Trotz seiner Behinderung hätte er ohne die fehlerhafte Behandlung bis zum Jahre 1991 die 10-jährige Förderklasse der W absolvieren und danach eine 3-jährige Ausbildung in einem Werkhof durchlaufen können. Im Anschluß daran hätte er im Architekturbüro seines Vaters angestellt werden und nachfolgende Tätigkeiten ausführen können:

Herstellen von Kopien und Lichtpausen

Ablage

Botengänge

Büroreinigung

Telefondienst

einfache zeichnerische Arbeiten

Pflege von Zeichengeräten

Mitwirkung beim Modellbau

Kolorieren von Zeichnungen

Zusammenstellung von Planmappen für Bauanträge.

Für diese Tätigkeiten sei eine monatliche Bruttovergütung von 2.750,– DM angemessen, so daß er diesen Betrag von den Beklagten als Schadensersatz verlangen könne. Für die Zeit von September 1994 bis Dezember 1995 ergebe dies einen Betrag von 44.000,– DM.

Der Kläger hat beantragt:

1. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger 44.000,– DM nebst 4 % Prozeßzinsen hieraus zu zahlen.

2. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger monatlich zum Ende eines Monats, beginnend ab Januar 1996, einen monatlichen Schadensersatzbetrag von DM 2.750,– bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres zu zahlen.

Die Beklagten haben beantragt:

Abweisung der Klage.

Die Beklagten haben vorgetragen:

Der Kläger wäre nicht in der Lage gewesen, bei der gegenwärtigen Arbeitsmarktlage seine Arbeitskraft wirtschaftlich einzusetzen und zu verwerten. Er hätte allenfalls in einer beschützenden Werkstatt und damit unter ständiger Anleitung und Aufsicht manuelle Verrichtungen ausführen können. Eine solche Tätigkeit erbringe jedoch fast keinen wirtschaftlichen Ertrag. Außerdem seien monatlich 2.750,– DM brutto nur angemessen bei dauerhafter, zuverlässiger und im großen und ganzen selbständig ausgeführter Arbeit. Eine solche hätte der Kläger nicht befriedigend ausführen können.

Wegen des weiteren Vorbringens in erster Instanz wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen. Das Landgericht hat durch Einholung eines Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. V vom 02.09.96 Beweis darüber erhoben, ob der Kläger trotz seiner mitgebrachten Behinderung die behaupteten Tätigkeiten hätte ausführen können.

Das Landgericht hat durch Urteil vom 14.03.97 der Klage in Höhe eines Betrags von 29.333,28 DM nebst 4 % Zinsen hieraus seit dem 08.12.95 zugesprochen und die Beklagten als Gesamtschuldner verurteilt, vom 01.01.96 bis 31.12.2007 eine monatliche Rente von 1.833,33 DM zu bezahlen. Im übrigen hat es die Klage abgewiesen. Die Kammer hat angenommen, daß der Kläger ohne die fehlerhafte ärztliche Behandlung im Mai 1984 in der Lage gewesen wäre, ganztägig Hilfsarbeitern im Büro seines Vaters auszuführen und hierfür eine monatliche Bruttovergütung von 2.750 DM zu erzielen. Im Hinblick darauf, daß der Kläger seine Arbeitskraft im Betrieb seines Vaters allenfalls zu 2/3 hätte sinnvoll einsetzen können, hat es einen entsprechenden Abzug vorgenommen.

Den Zeitraum des Rentenbezugs hat es bis zum 67. Lebensjahr des Vaters des Klägers – seinem mutmaßlichen Ausscheiden aus dem Erwerbsleben – zeitlich begrenzt. Im übrigen wird auf das Urteil des Landgerichts Bezug genommen.

Gegen das den Parteien am 19.03.97 zugestellte Urteil hat der Kläger am 16.04.97 Berufung eingelegt und diese am 13.05.97 begründet. Die Beklagten haben am 18.04.97 Berufung eingelegt und diese am 16.05.97 begründet.

Die Berufung des Klägers richtet sich gegen die Kürzung der Bruttovergütung um ein 1/3 sowie die zeitliche Begrenzung bis zum Jahr 2007. Hierzu bringen sie vor, der Kläger hätte sowohl im Betrieb seines Vaters als auch in anderen Betrieben und Branchen einer sinnvollen Vollzeitbeschäftigung nachgehen können. Sein Vater hätte über seinen Ruhestand hinaus für seine Fortbeschäftigung im gleichen oder einem anderen Betrieb sorgen können. Hierfür bestehe eine ausreichende Wahrscheinlichkeit. Er ist ferner der Auffassung, daß der Kläger bei eigenem Einkommen aus der Krankenversicherung der Eltern ausscheide und sich selbst versichern müsse.

Der Kläger beantragt, unter Abänderung des angefochtenen Urteils,

1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an den Kläger 44.000,00 DM nebst 4 % Zinsen hieraus seit 08.12.95 zu bezahlen.

2. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an den Kläger ab 01.01.96 bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres zum Ende eines Monats jeweils 2.750,00 DM zu bezahlen.

Die Beklagten beantragen, die Berufung des Klägers zurückzuweisen, ferner unter Abänderung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Die Beklagten sind der Auffassung, daß keine ausreichend sichere Grundlage für die vom Landgericht vorgenommene Schätzung vorliege. Auch bei einem Einsatz des Klägers im Büro seines Vaters hätte seine Arbeitskraft keinen Wert von monatlich 2.565,07 DM monatlich oder von 1.833,33 DM monatlich gehabt. Ferner hätte die Rente bis zum 65. Lebensjahr des Vaters, also bis zum Jahr 2004, begrenzt werden müssen.

Wegen des Vorbringens der Parteien im zweiten Rechtszug wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen. Der Senat hat ergänzend Beweis erhoben durch Einholung einer Auskunft des Arbeitsamtes S zu den Erfahrungen über die Vermittlung von Schülern der W mit Werkerabschluß und den allgemeinen Chancen von behinderten Jugendlichen und Erwachsenen am Arbeitsmarkt; er hat ferner den Mitarbeiter des Arbeitsamtes S, Herrn W P, den Geschäftsführer des Berufsbildungswerks W, Herrn H H und Prof. Dr. S als Zeugen gehört. Wegen ihrer Angaben wird auf die Niederschrift der Sitzung vom 05.08.97 verwiesen.

Entscheidungsgründe

Beide Rechtsmittel sind zulässig. Die Berufung des Klägers hat hinsichtlich des Bewilligungszeitraums der Erwerbsausfallrente Erfolg, diejenige der Beklagten hinsichtlich der seit 01.01.96 zuzusprechenden Rente geringfügig Erfolg. Dem Kläger steht für die Zeit von September 1994 bis Dezember 1995 eine monatliche Rente von 1.908.00 DM und ab dem 01.01.96 eine solche von 1.828.00 DM zu. die bis zu seinem 65. Lebensjahr zu gewähren ist. Die Rückstände betragen bis zum 31.12.95 30.528,00 DM.

I.

1.

Aufgrund Urteils des Landgerichts Stuttgart vom 26.11.93 – 15 O 213 88 – steht rechtskräftig fest, daß die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger den materiellen Schaden zu ersetzen, der ihm infolge seiner fehlerhaften Behandlung im O in der Zeit vorn 04.-06.05.84 entstanden ist bzw. künftig erwächst. Danach haften die Beklagten auch für einen Erwerbsausfallschaden des Klägers.

2.

Der Kläger hat ferner hinreichend wahrscheinlich gemacht, daß er ohne das schädigende Ereignis in der Lage gewesen wäre, eine berufliche Tätigkeit zu ergreifen und regelmäßige Einkünfte zu erzielen. Der Senat geht insoweit von einem dauerhaft erzielbaren Bruttoeinkommen von 1.900,00 DM aus.

a) Die maßgebliche Beweisfrage ist nach § 252 S. 2 BGB bzw. § 287 ZPO zu beurteilen. Als entgangener Gewinn gilt, was nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge oder nach den besonderen Umständen, insbesondere nach den getroffenen Anstalten und Vorkehrungen, mit Wahrscheinlichkeit erwartet werden konnte (vgl. OLG Karlsruhe VersR 1989, 1101). Dabei dürfen an die Beweisführung keine zu hohen Anforderungen gestellt werden; denn prinzipiell hat der Schädiger die Prognoseschwierigkeiten zu tragen, vor die der Verletzte gestellt wird, wenn er ex ante beurteilen soll, ob die Verletzungen ihm die Weiterverfolgung seiner ursprünglichen Pläne erlaubt haben würden (vgl. Steffen DAR 1984, 1, 4, der in diesem Zusammenhang von einem gewissen Schätzungsbonus für den Verletzten spricht: ähnlich der BGH im Urt. v. 17.01.95 – VI ZR 62/94 = VersR 1995, 422 zum Fall eines zur Zeit des Schadensereignisses „noch wenig strukturierten Erwerbslebens“). Der haftungsbegründende Zwischenfall hat den Kläger im Alter von 10 Jahren getroffen, also weit vor dem Eintritt in das Erwerbsleben (vgl. dazu grundsätzlich Steffen DAR 1984. 1 ff.: OLG Karlsruhe VersR 1989, 1101; zu einem ähnlichen Fall auch OLG Frankfurt VersR 1989, 48). Die Beurteilung wird weiter dadurch erschwert, daß Kläger seit seiner Geburt behindert ist und der Entwicklungsgang durch den Zwischenfall beendet worden ist. Der Kläger kam am 16.11.73 mit einem connatalen Hydrocephalus zur Welt. Es lag ferner eine Mißbildung des Gehirns vor, die eine Behinderung des Klägers zur Folge hatte (Anfallsleiden, teilweise Lähmung im Sinne einer Hemisymptomatik sowie motorischer und mentaler Entwicklungsrückstand, auch in der Sprachfindung).

b) Aufgrund des in erster Instanz eingeholten Sachverständigengutachtens von Prof. Dr. V (vom 02.09.96, Bl. 39 ff.) ist als überwiegend wahrscheinlich (§ 287 ZPO) anzusehen, daß der Kläger trotz dieser Behinderung ohne den Zwischenfall vom 06.05.84 in der Lage gewesen wäre, die Förderklasse der W und anschließend eine dreijährige Werkerausbildung zu durchlaufen und mit den dabei erworbenen Fähigkeiten auch einen Beruf mit manuell ausgerichteter Tätigkeit zu ergreifen. Der Sachverständige hat dabei die gesundheitliche Entwicklung und den Werdegang des Klägers bis zu dem Zwischenfall sowie seine tatsächliche weitere Entwicklung sorgfältig erhoben und daraus auch Rückschlüsse darauf gezogen, ob er die Befähigung zur Ausübung eines einfachen Berufs erreicht hätte (vgl. Gutachten Bl. 46). Er hat ferner die Stellungnahmen der Personen verwertet, welche vor dem Zwischenfall engen Umgang mit dem Kläger hatten (Gegenstand der Beweisaufnahme vom 06.10.94 im Ausgangsverfahren vor dem Senat). Er war bereits damals zu dem Ergebnis gekommen, daß der Kläger auf einem guten Weg war, die vorhandene Behinderung zu kompensieren und Rückstände aufzuholen und daß er und letztlich „ohne vernünftige Zweifel“ in der Lage gewesen wäre, eine nicht allzu differenzierte, manuell ausgerichtete Tätigkeit auszuüben und sein Leben selbständig zu meistern (vgl. Bl. 49 ff., und Ausführungen vor dem Senat im Termin vom 06.10.94, dort S. 25 ff.). Der Sachverständige hat sich zwar zum Grad der Wahrscheinlichkeit eher zurückhaltend geäußert (mit „einiger Wahrscheinlichkeit sei anzunehmen …“, Bl. 51). hatte aber letztlich keine vernünftigen Zweifel daran, daß der Kläger diese Entwicklung genommen hätte (Bl. 54). Der Senat kann sich diese Einschätzung zu eigen machen, die bei der nach § 287 ZPO zu treffenden Entscheidung eine überwiegende Wahrscheinlichkeit begründet.

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Zu den danach in Betracht kommenden Tätigkeiten gehören eine Reihe im Büro anfallender, eher einfacher Verrichtungen (Herstellung von Kopien und Lichtpausen. Belegablage. Botengänge, Büroreinigung, teilweise mit Telefondienst), die der Kläger auch über einen normalen Arbeitstag zu erbringen in der Lage gewesen wäre (Bl. 52 f.). Nur mit Einschränkungen wollte dies der Sachverständige für zeichnerische Arbeiten, die Pflege von Zeichengeräten. Mitwirkung beim Modellbau, Kolorieren von Zeichnungen und die Zusammenstellung von Planmappen für Bauanträge bejahen. Hierzu läßt sich die erforderliche Gewißheit im Sinne einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit nicht gewinnen, auch nicht angesichts der vom Kläger vorgelegten Proben seines gegenwärtigen Leistungsvermögens auf diesem Gebiet (Schriftsatz vom 25.09.96. Anl. K 4, – kolorierte Zeichnungen).

Dieser – dem Urteil des Landgerichts zugrundeliegenden Auffassung – schließt sich der Senat an. Mit den beschriebenen Fähigkeiten hätte der Kläger eine Werkerausbildung – etwa als Büropraktiker – erfolgreich abschließen können. Dagegen kann der Senat nicht mit der erforderlichen Sicherheit feststellen, daß der Kläger in der Lage gewesen wäre, als Laborant im Ingenieurbüro des Zeugen Prof. Dr. S auf Dauer eine feste Anstellung zu finden. Die dort abverlangte Tätigkeit ist – wie der Zeuge selbst einräumte – in der Bezahlung stark leistungsorientiert. Dem hätte das Begabungsprofil des Klägers nicht entsprochen.

c) Ferner ist hinreichend wahrscheinlich, daß es dem Kläger gelungen wäre, mit dieser Ausbildung eine Vollzeitarbeitsstelle im Werkerbereich zu finden und ein regelmäßiges Einkommen zu erzielen. Auch diese Frage ist am Maßstab der § 287 ZPO. 252 BGB zu entscheiden, wobei – wie generell – der Plausibilität des Klägervorbringens besonderer Stellenwert zukommt.

Im Ausgangspunkt zutreffend hat das Landgericht angenommen, daß der Kläger im Architekturbüro seines Vaters eine bezahlte Anstellung gefunden hätte, er also den Übergang in das Erwerbsleben geschafft hätte. Ob die im Büro des Vaters anfallenden einfachen, manuell strukturierten Arbeiten wie Herstellung von Kopien und Lichtpausen. Belegablage, Botengänge, Büroreinigung, teilweise mit Telefondienst) eine Vollzeit- oder nur eine Teilzeitbeschäftigung erlaubt hätten, kann letztlich dahinstehen, weil es dem Kläger mit seinen erworbenen Fähigkeiten auch möglich gewesen wäre, außerhalb des väterlichen Betriebs, ggf. unter seiner Vermittlung, eine Vollzeitbeschäftigung zu finden. Aus diesem Grund ist der Prognosezeitraum nicht auf den Zeitraum beschränkt, in welchem der Vater des Klägers voraussichtlich aktiv beruflich tätig sein wird. Diese Beschränkung wäre rechtlich nur dann vertretbar, wenn gegenwärtig – mangels greifbarer Anhaltspunkte – über das Jahr 2007 hinaus nicht beurteilt werden könnte, ob der Kläger für die weitere Dauer des voraussichtlichen Erwerbslebens eine Beschäftigung hätte ausüben können bzw.. ausgeübt hätte. Dies trifft nicht zu. Vielmehr ist der Blick auf die gesamte Spanne des Arbeitslebens zu richten und die Prognose auf eine breitere Grundlage zu stellen (vgl. dazu auch Steffen DAR 1984, 1, 4 unter den Stichworten „übliches Berufsbild“, „generalisierendes Schadensbild“).

Bei dieser Prognose ist zu berücksichtigen, daß die Chancen von Absolventen der Werkerausbildung, in ein Arbeitsverhältnis übernommen zu werden nach der Auskunft des Arbeitsamtes S vom 27.06.97 durchaus nicht ungünstig sind (Bl. 162). Dies hat sich auch bei der Vernehmung des Zeugen P bestätigt. So sieht er noch heute für einen jungen Behinderten mit Werkerausbildung, etwa als Büropraktiker, durchaus eine Chance der Vermittlung, wenngleich die Aussichten, eine Stelle zu finden, für Praktiker im handwerklichen Bereich besser sind. Dabei spielt auch eine Rolle, daß nach Information der Berufsberater die Absolventen der M-B-Schule, die der Kläger besucht hatte, in der Regel von dieser selbst vermittelt werden. Nach der Aussage des Zeugen H lag die Vermittlungsquote von Behinderten mit Werkerausbildung, soweit sie die von ihm betreute Einrichtung betraf, bei immerhin 75 %. Auch das stützt die Annahme des Senats, daß der Kläger den Einstieg in eine Vollzeitarbeitsverhältnis geschafft hätte.

Die erzielbare Verdienstspanne liegt nach Auskunft des Zeugen P zwischen 2.300,00 und 2.700,00 DM brutto monatlich. Nach Auskunft des Zeugen H liegen die Bezüge vermittelter Fachwerker zwischen 2.500,00 und 3.000,00 DM. Für den Werker. der hinsichtlich seiner Ausbildung mit einem Hilfsarbeiter gleichzusetzen wäre, liegen die Beträge darunter. Nach Auskunft des Zeugen H sind derzeit die Stundenlöhne auf Beträge bis zu 12,00 DM pro Stunde gesunken. Bei der Schätzung des langfristig erzielbaren Einkommens geht der Senat daher im Fall des Klägers an die untere Grenze mit einem Einkommen von 2.300,00 DM brutto monatlich.

Freilich bestehen Unsicherheiten in der weiteren Entwicklung des Arbeitsmarkts gerade im Bereich des Bürowerkers; in diesem Bereich gehen durch Rationalisierungsmaßnahmen eher Arbeitsplätze verloren (vgl. die Auskunft des Zeugen H Bl. 184). Nach der schriftliche Auskunft des Arbeitsamtes S vom 27.06.97 ist die Gefahr, länger arbeitslos zu sein, für ungelernte oder gering qualifizierte Arbeitnehmer erheblich höher; auch wird sich die Beschäftigungssituation nach den gegenwärtigen Prognosen eher verschlechtern (Bl. 163). Wie der Zeuge P vom Arbeitsamt S ferner mitgeteilt hat. sind die Wiederbeschäftigungschancen eines Behinderten, der im Alter von über 45 Jahren arbeitslos wird, besonders schlecht (Bl. 182). Deshalb ist hinsichtlich des Einkommens ein weiterer Abzug zu machen (vgl. BGH v. 24.01.95 – VI ZR 354 93 = VersR 1995, 469, 470 und BGH v. 17.01.95 – VI ZR 62/94 = VersR 1995, 422, 424 zum Fall häufig wechselnder Arbeitsstellen vor dem schädigenden Ereignis bzw. zu Unsicherheiten bei der beruflichen Entwicklung). Dabei ist zu berücksichtigen, daß bei Arbeitslosigkeit der Anspruch auf Arbeitslosengeld oder -Hilfe das Ausfallrisiko begrenzt. Die Chance, aufgrund geregelter Beschäftigung eine Existenzsicherung über den Bezug von Arbeitslosengeld oder -Hilfe zu erhalten, gehört im erweiterten Sinne zum Erwerbsausfallschaden (vgl. BGH v. 20.03.84 – VI ZR 14/82 = VersR 1984, 639).

Der Senat geht im Fall des Klägers von einem dauerhaft erzielbaren Bruttoeinkommen von 1.900.00 DM monatlich aus. Das entspricht netto 1.431,00 DM monatlich.

3.

Hiervon sind keine weiteren Abzüge – etwa unter dem Gesichtspunkt ersparter Aufwendungen – zu machen.

Die Beklagten können nicht damit gehört werden, daß sie für den Pflegemehrbedarf derzeit monatlich 10.000 DM an den Kläger bezahlen und damit seinen täglichen Bedarf mit abdecken. Insoweit würde es sich um ersparte Aufwendungen handeln, die vom Pflegemehrbedarf abzuziehen wären.

Der Umstand, daß der Kläger infolge der Behinderung – über den Mehrbedarf hinaus – nur geringe persönliche Aufwendungen hat, kommt allein ihm zugute und entlastet die Beklagtenseite nicht (vgl. Lange Schadensersatz 2. Aufl., S. 502 zum vergleichbaren Fall ersparter Verpflegungskosten, wenn der ansonsten aufwendig lebende Geschädigte sich mit Krankenhauskost begnügen muß). Der Verdienstausfall ermäßigt sich nicht auf eine „Sparrate“, die der Geschädigte ohne das schädigende Ereignis hätte erzielen können.

4.

Hinsichtlich der Berechnung folgt der Senat der modifizierten Nettolohnmethode (vgl. BGH VersR 1958, 528; ferner BGH VersR 1988, 188; Wussow/Küppersbusch, Ersatzansprüche bei Personenschäden 5. Aufl., Rn. 52). Danach ist grundsätzlich von der Nettovergütung auszugehen und der so ermittelte Betrag um etwaige Sozialversicherungsabgaben und um die zu entrichtende Einkommensteuer zu erhöhen. Es ergibt sich für die Jahre 1994 und 1995 eine Verdienstausfallrente von DM 1.908,– für die Zeit ab dem 01.01.1996 eine solche von 18.828,– DM.

a) Beiträge zur Arbeitslosen- und Rentenversicherung muß der Kläger nicht leisten. Zwar droht dem Kläger, wenn er keine Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung bezahlt, ein Schaden insoweit, als er mit Erreichen der Altersgrenze keine Altersversorgung hat. Für den Fall eines drohenden Leistungsverkürzungsschadens hat der BGH zwar entschieden, daß dem Grundsatz nach das Entstehen von Beitragslücken vermieden werden soll. Ein Ersatzanspruch des Verletzten auf Erstattung von Rentenbeiträgen besteht aber nur insoweit, als das Rentenversicherungsrecht einen Weg zur Beitragsentrichtung eröffnet und auf diese Weise einem späteren Rentennachteil vorgebeugt werden kann. Dies trifft auf den Kläger nicht zu. Ihm ist daher – wie in den sonstigen Fällen der Rentenverkürzung – der Rentenschaden erst zu erstatten ist, wenn er sich – bei Eintritt des Versicherungsfalls – konkret berechnen läßt. Er hat in diesem Fall auch keinen Anspruch darauf, von dem Schädiger die Mittel zum Abschluß einer privaten Versicherung zu erhalten (vgl. BGH v. 19.10.93 – VI ZR 56/93 = VersR 1994, 186, 187; BGHZ 87. 181, 189). Der Kläger ist insoweit auf den Feststellungsantrag angewiesen.

b) Als ersatzfähiger Schaden ist jedoch anzusehen, daß der Kläger – bisher kostenlos im Rahmen des Familientarifs bei der Krankenversicherung (Technikerkrankenkasse) der Eltern mitversichert – mit dem Erwerb einer Verdienstausfallrente aus dieser Versicherung ausscheidet und sich selber versichern muß (vgl. die Auskunft der Krankenkasse Bl. 193, welche die im Termin erörterte Rechtslage zutreffend umschreibt). Der Senat legt für die Kosten der Krankenversicherung einen monatlichen Betrag von 228,00 DM zugrunde, was einem Beitragssatz von 12 % des Bruttoeinkommens von 1.900,00 DM entspricht.

c) Netto monatlich stehen dem Kläger als Grundbetrag 1.431.00 DM zu: das sind jährlich 17.172,00 DM. Er muß in dem Umfang erhöht werden, daß sich nach Abzug der Einkommensteuer der Grundbetrag ergibt. Hierzu ist im Wege des Abtastens anhand der Einkommensteuertabelle der Jahresrentenbetrag zu ermitteln, aus dem sich nach Abzug der abzuführenden Einkommensteuer der Grundbetrag ergibt (vgl. hierzu Kullmann VersR 1993, 385. 386). Die aus der erhöhten Rente abzuleitende monatliche Rente ist um weitere 228,00 DM als Beitrag zur Krankenversicherung zu erhöhen. Dieser Teil der Einkünfte unterliegt als Vorsorgeaufwendung nicht der Einkommensteuer.

Ein die Steuerpflicht mindernder Pauschbetrag für Körperbehinderte hat bei der Berechnung außer Betracht zu bleiben, da dieser Vorteil nicht zugunsten der Beklagten anrechenbar ist (vgl. BGH v. 10.11.87 – VI ZR 290/86 = VersR 1988. 464, 465).

Die Berechnung der Schadensrente hat dabei für die Jahre 1994 und 1995 und die Zeit ab dem 01.01.96 getrennt zu erfolgen, da sich die Steuertabelle seitdem verändert hat.

aa) 1994 und 1995: Jahresgrundrente (1.431 DM x 12 =) 17.172,00 DM erhöhte Jahresrente 20.150,00 DM Einkommensteuer nach Grundtabelle -2.980,00 DM ergibt 17.170,00 DM;

monatliche Schadensrente (20.150 DM : 12 =) gerundet 1.680.00 DM

Krankenversicherungsbeitrag 228.00 DM ergibt 1.908,00 DM

Es errechnen sich so als Rückstände für die Zeit von September 1994 bis Dezember 1995 (16 Monate) 30.528,00 DM.

bb) Ab 01.01.96:

Jahresgrundrente (1.431 DM x 12 =) 17.172.00 DM erhöhte Jahresrente 19.200.00 DM

Einkommensteuer nach Grundtabelle -1.890.00 DM

Solidaritätszuschlag -111.60 DM

Ergibt 17.198.40 DM:

monatliche Schadensrente (19.200 DM : 12 =) 1.600,00 DM

Krankenversicherungsbeitrag 228.00 DM

Ergibt 1.828,00 DM

Diese ist auf die Berufung der Beklagten ab Januar 1996 dem Kläger zuzuerkennen.

Soweit der Kläger mit der Berufung höhere Rentenzahlungen, die Beklagten einen darüber hinausgehenden Wegfall der Pflicht zur Zahlung von Rente verlangen, sind die Berufungen zurückzuweisen.

5.

Die Rente ist auf den Ablauf des Monats zu begrenzen, in welchem der Kläger 65 Jahre alt wird (BGH v. 19.10.93 – VI ZR 5693 = VersR 1994, 186; v. 27.06.95 – VI ZR 165/94 = VersR 1995, 1321; v. 26.09.95 – VI ZR 245/94 = VersR 1995, 1447). Das ist der 30.11.2038. Die Beklagten können nicht beweisen, daß der Kläger bereits mit 60 Jahren Altersrente bezogen haben würde. Auf die Berufung des Klägers ist das Urteil des Landgerichts entsprechend abzuändern.

II.

Die Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 92 Abs. 1. 97. 708 Ziff. 10 ZPO. Die Beklagten können die Vollstreckung des Urteils gem. § 711 ZPO gegen Sicherheitsleistung abwenden; im übrigen ist eine Abwendungsbefugnis gem. § 713 ZPO entbehrlich.

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