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Geschwindigkeitsmessung durch Nachfahren


Kammergericht Berlin

Az: 3 Ws (B) 467/14

Beschluss vom 27.10.2014


Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 20. Juni 2014 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde – an das Amtsgericht zurückverwiesen.


Gründe

Das Amtsgericht hat den Betroffenen wegen einer fahrlässig begangenen Geschwindigkeitsüberschreitung um 62 km/h nach den §§ 3 Abs. 3 (Satz 1 Nr. 1), 49 (Abs. 1 Nr. 3) StVO, § 24 StVG zu einer Geldbuße von 480,- Euro verurteilt und nach § 25 Abs. 1 StVG ein dreimonatiges Fahrverbot angeordnet. Hiergegen wendet sich der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde. Er beanstandet das Verfahren und führt zwei gegen die Beweiswürdigung sowie gegen die Festsetzung des Fahrverbots gerichtete Sachrügen aus, ohne die allgemeine Sachrüge zu erheben. Das Rechtsmittel hat mit der gegen die Beweiswürdigung gerichteten Sachrüge Erfolg.

1. Zwar ist die Beweiswürdigung Sache des Tatrichters, dessen Überzeugungsbildung das Rechtsbeschwerdegericht nur darauf prüft, ob sie auf rechtsfehlerhaften Erwägungen beruht. Dies ist namentlich der Fall, wenn sie mit gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen oder unbezweifelbarem Erfahrungswissen unvereinbar ist, Widersprüche oder sonstige Verstöße gegen die Gesetze der Logik enthält oder Lücken aufweist, sich insbesondere nicht mit nahe liegenden alternativen Geschehensabläufen befasst, obwohl sich dies nach dem Beweisergebnis aufdrängt (vgl. BGH NJW 2007, 384). Für die Geschwindigkeitsmessung durch Nachfahren ist anerkannt, dass sie als Beweis für eine Geschwindigkeitsüberschreitung auch dann ausreichen kann, wenn der Tachometer des nachfahrenden Fahrzeugs ungeeicht und nicht justiert war. Wie der zumindest überwiegende Teil der oberlandes-gerichtlichen Rechtsprechung hält der Senat die Geschwindigkeitsmessung durch Nachfahren mit ungeeichtem Tachometer allerdings nicht für ein standardisiertes Messverfahren (vgl. König in Hentschel/König/Dauer, § 3 StVO 42. Aufl., Rn. 56b) im Sinne der Rechtsprechung (vgl. BayObLG DAR 1996, 323; OLG Hamm DAR 1998, 75; OLG Koblenz DAR 1994, 248; Thüringisches OLG VRS 111, 195; a. A. wohl BGH NJW 1993, 3081), so dass sich der Tatrichter in jedem Einzelfall mit der Zuverlässigkeit der Messung und der Einhaltung der Voraussetzungen für die Verwertbarkeit auseinandersetzen muss. Insoweit hat die Rechtsprechung Richtlinien für die beweissichere Feststellung einer durch Nachfahren ermittelten Geschwindigkeitsüberschreitung entwickelt. Danach müssen die Messstrecke ausreichend lang und der Abstand des nachfolgenden Fahrzeugs gleich bleibend und möglichst kurz sein; zugleich muss die Geschwindigkeitsüberschreitung wesentlich sein (vgl. Zusammenstellung und Nachweise bei Burhoff, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche Owi-Verfahren, 3. Aufl., Rn. 1369, 1540). Bei in Dunkelheit oder schlechten Sichtverhältnissen durchgeführter Messung sind zusätzlich Angaben über die Beobachtungsmöglichkeiten der Polizeibeamten erforderlich (BayObLG DAR 2000, 320; OLG Hamm DAR 2002, 176). Für die hier festgestellten Rahmenbedingungen gilt im Einzelnen: Bei Geschwindigkeiten von 100 km/h und mehr sollen die Urteilsfeststellungen belegen, dass die Messstrecke nicht kürzer als 500 Meter war (vgl. Senat, Beschluss vom 22. Oktober 2001 – 3 Ws (B) 516/01 – [juris]; OLG Bamberg DAR 2006, 517; OLG Braunschweig DAR 1989, 110). Bei Geschwindigkeiten über 90 km/h soll der Verfolgungsabstand nicht mehr als 100 Meter betragen (vgl. BayObLG DAR 1996, 288; OLG Düsseldorf NZV 1990, 318; Thüringisches OLG aaO). Je kürzer die Messstrecke ist, desto genauere Angaben sind im Urteil über den Abstand zu machen (vgl. Hanseatisches OLG Hamburg DAR 1977, 52; Schleswig-Holsteinisches OLG VerkMitt 1974, Nr. 42).

2. Diesen Anforderungen wird die Beweiswürdigung des angefochtenen Urteils nicht gerecht. Ob die mit „mindestens 400 – 500 Meter“ angegebene Messstrecke bei der hier ermittelten Nettogeschwindigkeit von 112 km/h (brutto: 140 km/h) für sich ausreichend ist oder ein eventuelles Manko gegebenenfalls durch weitere Feststellungen kompensiert werden könnte, kann hier ebenso offen bleiben wie die Frage, ob die Generalstaatsanwaltschaft mit ihrem Ansatz, die tatsächliche Messstrecke durch die Einbeziehung eines Navigationsprogramms (google maps) auf der Grundlage der Urteilsfeststellungen mit tatsächlich 700 Meter zu ermitteln, durchdringen kann. An letzterem bestehen Bedenken zumindest in Bezug auf die im Urteil mitgeteilten „Anknüpfungstatsachen“, denen zufolge die Messung „kurz vor der Einmündung Lindenthaler Allee, wo der Betroffene das Fahrzeug abgebremst habe, weil er dort links abbiegen wollte“ (UA S. 3), endete. Diese Feststellungen lassen letztlich offen, wie weit das voran fahrende Fahrzeug von der Kreuzung entfernt war, als die Messung beendet wurde, so dass die von der Generalstaatsanwaltschaft erstrebte Korrektur, zumindest aber Konkretisierung der vom Amtsgericht auf „mindestens 400 bis 500 Meter“ bezifferten Messstrecke kaum valide sein kann. Jedenfalls enthält das angefochtene Urteil, worauf die Rechtsbeschwerde zutreffend hinweist, keine Angaben zum Verfolgungsabstand, den das nachfahrende Polizeifahrzeug während der Messung vom Fahrzeug des Betroffenen hatte.

3. Der Senat wendet die von der Rechtsprechung entwickelten Richtlinien nicht starr an, und er verkennt nicht, dass etwa eine längere Messstrecke die Fehlerquelle beim (zu großen Abstand) ausgleichen kann (vgl. BayObLG DAR 1996, 288; OLG Düsseldorf NZV 1993, 280; OLG Stuttgart VRS 66, 467). Eine derartige Kompensation scheidet hier aber aus, weil die mitgeteilte Messstrecke die Mindestanforderungen jedenfalls nicht übersteigt und Angaben zum Abstand gänzlich fehlen. Auch die im Urteil mitgeteilte drastische Formulierung eines Zeugen, das Polizeifahrzeug „habe teilweise auf 170 bis 180 km/h beschleunigen müssen, um überhaupt am Fahrzeug des Betroffenen dranbleiben zu können“ (UA S. 3), enthält letztlich keine begreiflichen Angaben zu den Abstandsverhältnissen und kann deren Darstellung auch nicht ersetzen.

Ohne dass auf die erhobenen Verfahrenrügen eingegangen werden müsste, hebt der Senat daher das Urteil nach § 79 Abs. 6 OWiG auf und verweist die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde – an das Amtsgericht zurück.

4. Für die erneute Hauptverhandlung weist der Senat noch auf Folgendes hin:

a) Die Geschwindigkeitsmessung durch Nachfahren mit ungeeichtem Tacho ist im System der Messverfahren eine Ausnahme. Sie ist ungenau. Diesem Umstand hat der Tatrichter nach der Rechtsprechung des Senats (vgl. VRS 102, 104) zum einen regelmäßig durch einen Toleranzabzug von 20% des Ablesewertes Rechnung zu tragen, der weit höher ist als bei anderen Messverfahren (zu überwiegend geringeren Abzügen anderer Oberlandesgerichte vgl. Burhoff, aaO, Rn. 1540). Zum anderen hat der Bußgeldrichter die Grundlagen der Messung nicht nur in Bezug auf die Länge der Messstrecke und den Abstand zwischen den Fahrzeugen, sondern, wenn die Messung wie hier bei Nacht oder Dämmerung erfolgte, auch auf die Sicht- und Beleuchtungsverhältnisse ausführlicher und genauer als bei anderen Messverfahren darzustellen.

b) Auch wenn die Anforderungen an die Urteilsgründe im Bußgeldverfahren als Massenverfahren nicht überspannt werden dürfen, müssen die Feststellungen in der Regel doch auch in tatsächlicher Hinsicht erkennen lassen, ob der Betroffene die Tat vorsätzlich oder fahrlässig begangen hat. Das angefochtene Urteil würdigt die Tat als fahrlässig begangen, tatsächliche Ausführungen zur inneren Tatseite, die bei Geschwindigkeitsüberschreitungen naturgemäß knapp ausfallen können, fehlen indes.

c) Die Würdigung, der Betroffene habe die innerörtliche Geschwindigkeitsüberschreitung fahrlässig begangen, ist angesichts der festgestellten Überschreitung um 62 km/h zumindest zweifelhaft. Bei einem derart massiven Verstoß kommt regelmäßig nur Vorsatz in Betracht (vgl. etwa Senat, Beschluss vom 18. März 2002 – 3 Ws (B) 71/02 -).

d) Angesichts der hier vom Amtsgericht verhängten Geldbuße von 480,- Euro, die über der bei 250,- Euro anzusetzenden Geringfügigkeitsgrenze des 17 Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 2 OWiG liegt, hat der Tatrichter nach der ständigen Rechtsprechung des Senats genauere Feststellungen zu den wirtschaftlichen und persönlichen Verhältnissen des Betroffenen zu treffen (vgl. Senat, Beschlüsse vom 5. Dezember 2013 – 3 Ws (B) 637/13 – und 4. Juli 2013 – 3 Ws (B) 291/13 -; VRS 124, 338 mwN). Zwar kann auch in solchen Fällen von einer näheren Erörterung der wirtschaftlichen Verhältnisse abgesehen werden, wenn sie erkennbar nicht vom Durchschnitt abweichen und der Tatrichter eine Geldbuße festsetzt, die dem Bußgeldkatalog entspricht (vgl. Senat, Beschlüsse vom 16. September 2013 – 3 Ws (B) 429/13 – und 4. September 2012 – 3 Ws (B) 396/12 – ). In dem angefochtenen Urteil fehlt es aber an jeglichen Feststellungen zu den Einkommensverhältnissen und den persönlichen Verhältnissen des Betroffenen, der zur Tatzeit Heranwachsender war. Solche Feststellungen sind auch veranlasst, um dem Rechtsbeschwerdegericht die Prüfung zu ermöglichen, ob der Tatrichter rechtsfehlerfrei von Erörterungen zu Zahlungserleichterungen nach § 18 OWiG abgesehen hat (vgl. Senat, Beschluss vom 5. Dezember 2013 aaO; VRS 124, 338).

e) Die vom Amtsgericht zu treffende Kostenentscheidung beruht nicht auf den § 105, 107 OWiG, sondern auf § 46 Abs. 1 OWiG in Verbindung mit den §§ 465 ff. StPO.


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