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Haftungsverteilung bei Kollision eines Linksabbiegers mit einem überholenden Radfahrer

LG Saarbrücken, Az.: 13 A S 13/07, Urteil vom 20.07.2007

1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Amtsgerichts St. Ingbert vom 12. Februar 2007 – 9 C 119/06 – dahin geändert, dass der Beklagte verurteilt wird, an den Kläger 1.673,47 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 8.3.2006 zu zahlen. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

2. Die Kosten des Rechtstreits in erster Instanz tragen der Kläger zu 52% und der Beklagte zu 48%. Die Kosten des Berufungsverfahrens tragen der Kläger zu 20% und der Beklagte zu 80%.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

4. Die Revision wird nicht zugelassen.

5. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 1.148,80 Euro festgesetzt.

Gründe

I.

Der Kläger nimmt den Beklagten auf Schadensersatz in Anspruch wegen eines Verkehrsunfalls, der sich am 25. Mai 2006 in einem Anliegerweg der Albert-Weisgerber-Allee in St. Ingbert ereignet hat. Der Anliegerweg ist als verkehrsberuhigter Bereich mit dem Zeichen 325 der Straßenverkehrsordnung (StVO) ausgeschildert. Unfallbeteiligt waren der Kläger mit seinem Kraftfahrzeug sowie der am 25.12.1988 geborene, zum Unfallzeitpunkt 17 Jahre alte Beklagte mit seinem Fahrrad. Zu dem Unfall kam es, als der Beklagte das langsam fahrende Fahrzeug des Klägers, der zunächst vom rechten Fahrbahnrand angefahren und mit einer Geschwindigkeit von ca. 7 km/h etwa 30 Meter geradeaus in Richtung einer links gelegenen, als Wendeplatz genutzten Grundstückseinfahrt gefahren war, links überholen wollte. Dabei bog der Kläger seinerseits nach links in die Grundstückseinfahrt ein, um dort zu wenden. Während der Kläger behauptet hat, er sei nach dem Anfahren konstant auf der linken Seite der 4,50 breiten Straße gefahren und dabei sei der linke Fahrtrichtungsanzeiger über den gesamten Zeitraum eingeschaltet gewesen, hat der Beklagte behauptet, der Kläger sei zunächst nach links ausgewichen, dann aber auf der rechten Fahrbahnseite gefahren, ohne den linken Fahrtrichtungsanzeiger zu setzen. Als der Kläger seine Fahrt ohne ersichtlichen Grund verlangsamt habe, sei er links an dem Fahrzeug vorbeigefahren und mit dem plötzlich nach links abbiegenden Klägerfahrzeug kollidiert.

Das Amtsgericht hat der auf Zahlung von 3.484,93 Euro nebst gesetzlichen Zinsen gerichteten Klage nach Beweisaufnahme nur in Höhe von 753,03 Euro stattgegeben. Zur Begründung hat es ausgeführt, bei der gebotenen Abwägung der Verschuldens- und Verursachungsanteile treffe den Kläger ein Haftungsanteil von 70%. Er sei gem. § 9 Abs. 5 StVO als Linksabbieger in ein Grundstück und Wendender verpflichtet gewesen, die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auszuschließen; dieser Verpflichtung sei er nicht nachgekommen, weil er andernfalls dem zum Überholen ansetzenden Beklagten hätte erkennen können. Demgegenüber wiege der Verkehrsverstoß des Beklagten weniger schwer, der seinerseits mindestens 10 km/h und damit zu schnell gefahren sei und überdies nicht habe überholen dürfen, weil sich die Situation für ihn als unklare Verkehrslage im Sinne des § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO dargestellt habe. Von dem ersatzfähigen Schaden, der sich laut Sachverständigenfeststellung nur auf 2.510,21 Euro netto belaufe, könne der Kläger 30% hiervon von dem Beklagten verlangen.

Hiergegen richtet sich Berufung des Klägers, der unter Anrechnung eines Eigenanteils von 25% insgesamt 75% des auf 2.510,21 Euro reduzierten Betrags abzüglich des ausgeurteilten Betrages als Schaden geltend macht. Der Kläger meint, aufgrund des Sachverständigengutachtens, das eine Relativgeschwindigkeit von 10-15 km/h festgestellt hatte, sei von einer höheren Geschwindigkeit des Beklagten auszugehen. Im Übrigen seien die Verursachungsanteile der Beteiligten in der Abwägung falsch gewichtet.

II.

Die zulässig erhobene Berufung hat in der Sachte teilweise Erfolg. Die festgestellten Tatsachen rechtfertigen eine andere Bewertung der Haftungsanteile mit der Folge, dass der Kläger 2/3 seines Schadens ersetzt verlangen kann.

1. Allerdings ist das Amtsgericht zu Recht von einer Mindestgeschwindigkeit des Beklagten von 10 km/h ausgegangen. Zwar hat der Sachverständige für das Fahrrad eine Relativgeschwindigkeit von 10 – 15 km/h festgestellt, so dass die absolute Geschwindigkeit des Fahrrades höher war, wenn zum Anstoßzeitpunkt von einer Vorwärtsbewegung des Kraftfahrzeuges des Klägers ausgegangen werden konnte. Dies war indes weder nach den Feststellungen des Sachverständigen noch nach dem ansonsten unstreitigen Sachverhalt der Fall. Sachverständigerseits war eine entsprechende Vorwärtsbewegung des Klägerfahrzeuges nicht feststellbar (Bl. 73 d.A.). Im Übrigen war nach dem übereinstimmenden Vorbringen der Parteien zwar davon auszugehen, dass das Klägerfahrzeug vor dem Abbiegen nicht angehalten hatte. Eine Aussage darüber, ob es sich im Anstoßzeitpunkt in einer Vorwärtsbewegung oder aber in einer Seitwärtsbewegung befand, lässt sich hieraus indes nicht ableiten. Weil auch nach den Sachverständigenfeststellungen zum Anstoßzeitpunkt nicht auszuschließen war, dass sich das Klägerfahrzeug nicht in einer Vorwärtsbewegung befand, entsprach die Mindestrelativgeschwindigkeit hier auch der tatsächlichen Mindestgeschwindigkeit, die der Beklagte gefahren sein muss. Nur diese konnte der Erstrichter zu Lasten des Beklagten in die Abwägung einstellen.

2. Auf der Grundlage der ansonsten nicht zu beanstandenden tatrichterlichen Feststellungen des Amtsgerichts haften beide Unfallbeteiligten für das Unfallgeschehen, wobei das Amtsgericht zutreffend davon ausgegangen ist, dass der Kläger als Halter des unfallbeteiligten Kraftfahrzeuges gem. § 7 StVG und der Beklagte gem. § 823 Abs. 1 BGB ersatzpflichtig ist. Bei der nach §§ 9 StVG, 254 BGB gebotenen Abwägung der beiderseitigen Verursachungs- und Verschuldensanteile war allerdings von einer anderen Verteilung auszugehen. Das Amtsgericht hat nämlich nicht hinreichend berücksichtigt, dass der Unfall in einer verkehrsberuhigten Zone erfolgt ist.

Haftungsverteilung bei Kollision eines Linksabbiegers mit einem überholenden Radfahrer
Symbolfoto: Kzenon/Bigstock

a) Im verkehrsberuhigten Bereich im Sinne des § 42 Abs. 4a StVO kommt Fußgängern und insbesondere Kindern ein besonderes Vorrecht zu, der Fahrverkehr hat nur untergeordnete Bedeutung. Alle Fahrzeuge haben deshalb gem. § 42 Abs. 4a Nr. 2 StVO ausnahmslos Schritt zu fahren, um jederzeit anhalten und eine fremde Gefährdung ausschließen zu können (vgl. Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 39. Aufl., § 42 StVO Rn. 181 Z 325/326; Fuchs-Wissemann, DAR 99, 41 m.w.N.). Darüber hinaus muss der Kraftfahrer sein Verhalten insbesondere darauf einrichten, dass in verkehrsberuhigten Bereichen Fußgänger die Straße in ihrer ganzen Breite benutzen dürfen und Kinderspiele überall erlaubt sind (§ 42 Abs. 4 a Nr. 1 StVO). Aufgrund dieser in einem verkehrsberuhigten Bereich bestehenden Besonderheit ist es einem sich durch einen solchen Bereich bewegenden Kraftfahrer abzuverlangen, sich – jedenfalls dort, wo es nach den örtlichen Gegebenheiten in Frage kommt – auch auf die Möglichkeit einzurichten, dass zunächst noch nicht sichtbare Personen, insbesondere Kinder, plötzlich die Fahrbahn betreten könnten (vgl. OLG Frankfurt/Main DAR 99, 543; OLG Karlsruhe DAR 2004, 538).

b) Hieraus ergibt sich, dass das Überholen eines vorausfahrenden Fahrzeuges allenfalls zulässig ist, wenn Schrittgeschwindigkeit eingehalten wird und gleichzeitig die Gefahr ausgeschlossen ist, dass Personen die Fahrbahn betreten. Schon mit Blick darauf, dass die Schrittgeschwindigkeit die denkbar geringste Geschwindigkeit darstellt (vgl. hierzu den Überblick bei Hentschel/König/Dauer aaO), ist das Überholen eines Fahrzeuges in einer verkehrsberuhigten Zone regelmäßig nur unter Verstoß gegen das Schrittgeschwindigkeitsgebot möglich und damit allenfalls dann zulässig, wenn das vorausfahrende Fahrzeug angehalten hat (vgl. auch LG Dortmund DAR 2006, 281, das ein Überholen im verkehrsberuhigten Bereich per se für verboten hält). Ungeachtet der vom Erstrichter hier angenommenen unklaren Verkehrslage, die gem. § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO einen Überholvorgang verbietet, durfte der Beklagte daher schon mit Blick auf die besondere Gefahrenlage in der verkehrsberuhigten Zone nicht überholen. Zusammen mit der überhöhten Geschwindigkeit – auch wenn man von der Mindestgeschwindigkeit von 10 km/h ausgeht, liegt dies über der zulässigen Schrittgeschwindigkeit von rd. 4 – 7 km/h (vgl. Geigel/Zieres, Der Haftpflichtprozess, 24. Aufl., Kap 27 Rdnr. 92 m.w.N.) – trifft ihn ein insgesamt schwerwiegender Verstoß gegen die ihm obliegenden Pflichten als Fahrzeugführer.

c) Demgegenüber wiegt der Verursachungsanteil des Klägers nicht gleichermaßen schwer.

Insbesondere trifft den Kläger kein Verstoß gegen die gesteigerte Sorgfaltspflicht beim Abbiegen in ein Grundstück oder beim Wenden (§ 9 Abs. 5 StVO). Die besondere Gefährlichkeit des Wendens war hier schon deshalb nicht gegeben, weil das Wenden im Sinne dieser Vorschrift voraussetzt, dass der Fahrer die bisherige Fahrbahn nicht verlässt (vgl. Geigel/Zieres aaO Rn. 297 m.w.N.). Daran fehlt es hier, denn der Kläger ist in eine Grundstückseinfahrt eingebogen und hat damit die Fahrbahn gerade verlassen. Daneben lag hier auch kein Abbiegen in ein Grundstück im Sinne des § 9 Abs. 5 StVO vor. Nach dieser Vorschrift trifft denjenigen, der in ein Grundstück einbiegt, ebenfalls eine gesteigerte Sorgfaltspflicht, weil dabei der fließende Verkehr verlassen und damit eine besondere Gefahrenlage für den Folge- und Gegenverkehr des abbiegenden Verkehrsteilnehmers und für diesen selbst begründet wird (vgl. BGHSt 15, 178, 183; OLG Düsseldorf NZV 88, 231 m.w.N.). Der verkehrsberuhigte Bereich ist jedoch – wie die Vorschrift des § 10 StVO zeigt – insgesamt nicht Teil des fließenden Verkehrs. Nach § 10 StVO trifft nämlich denjenigen eine besondere Sorgfaltspflicht, der sich in den fließenden Verkehr einordnet, wozu auch das Einfahren auf die Straße aus einem verkehrsberuhigten Bereich gehört. Ist der verkehrsberuhigte Bereich also gerade nicht Teil des fließenden Verkehrs, kann § 9 Abs. 5 StVO insofern keine Anwendung finden.

Den Kläger trifft allerdings ein Verschulden insoweit, als er die besondere Vorsicht, die in einem verkehrsberuhigten Bereich schon mit Blick auf Fußgänger geboten ist, außer Acht gelassen hat. Gerade weil in einem verkehrsberuhigten Bereich nie ausgeschlossen ist, dass Verkehrsteilnehmer unvermittelt die Fahrbahn betreten oder befahren, war er gehalten, zumindest die doppelte Rückschauverpflichtung – wie sie § 9 Abs. 1 Abs. 4 für den fließenden Verkehr bestimmt – zu beachten. Bei hinreichender Beobachtung des Rückraums – das der Kläger unstreitig unterlassen hat – hätte er den Beklagten erkennen und sich auf dessen Verhalten einstellen können.

d) Bei der Abwägung der oben dargelegten Verursachungs- und Verschuldensanteile hält die Kammer – auch unter Berücksichtigung der gegenüber einem Fahrrad erhöhten Betriebsgefahr eines Kraftfahrzeuges – ein Verhältnis von 1/3 auf Klägerseite zu 2/3 auf Beklagtenseite für angemessen (vgl. auch LG Dortmund aaO). Entscheidend ist insoweit, dass der Beklagte durch sein verbotswidriges Überholen die besondere Gefahrenlage erst geschaffen hat, die letztlich den Unfall herbeigeführt hat. Demgegenüber wiegt der Sorgfaltsverstoß des Klägers weniger schwer mit der Folge, dass der Kläger 2/3 seines Schadens – nach den unangegriffenen Feststellungen des Amtsgerichts beträgt der Schaden 2.510,21 Euro – ersetzt verlangen kann.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die Vollstreckbarkeit auf §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO, § 26 Nr. 8, 9 EGZPO. Die Revision war nicht zuzulassen, da die Sache keine grundsätzliche Bedeutung hat und sie keine Veranlassung gibt, eine Entscheidung des Revisionsgerichts zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung herbeizuführen (§ 543 Abs. 2 ZPO).

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