AG Gießen – Az.: 47 C 223/10 – Urteil vom 11.08.2011
Die Beklagten werden verurteilt, an den Kläger als Gesamtschuldner 1.720,73 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 16.02.2010 sowie vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 229,55 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 14.05.2010 zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Von den Kosten des Rechtsstreits haben der Kläger 65 % und die Beklagten als Gesamtschuldner 35 % zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar, für den Kläger jedoch nur gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages. Die Beklagten können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Tatbestand
Der Kläger verlangt von den Beklagten die Zahlung von Schadensersatz wegen eines Verkehrsunfalls am 19.12.2009 in „…“.
Der Kläger war Eigentümer eines „…“. Der Beklagte zu 2) war Halter eines „…“, der zum Unfallzeitpunkt bei der Beklagten zu 3) haftpflichtversichert war.
Der Beklagte zu 1) befuhr am Unfalltag mit dem „…“ die Straße „…“ in „…“ in Fahrtrichtung „…“. Hinter dem Beklagten zu 1) fuhr der Kläger mit seinem „…“. Der Beklagte zu 1) beabsichtigte, nach rechts in die Grundstückseinfahrt des Grundstücks der Hausnummer „…“ abzubiegen. Bei dem Abbiegevorgang benutzte der Beklagte zu 1) mit seinem Fahrzeug zumindest einen Teil der Gegenfahrspur. Der Kläger versuchte, den Beklagten zu 1) während des Abbiegevorgangs rechts zu überholen. Dabei kam es zum Zusammenstoß der beiden Fahrzeuge, bei dem das Fahrzeug des Klägers vorne links und das Fahrzeug des Beklagten zu 1) an der vorderen rechten Seite beschädigt wurden.
Der Kläger behauptet, der Beklagte zu 1) habe sein Fahrzeug nach links über die Fahrbahnmitte hinausgelenkt. Während der Kläger versucht habe, den Beklagten zu 1) recht ordnungsgemäß zu überholen, sei der Beklagte zu 1) plötzlich und unerwartet ohne den rechten Blinker zu setzen scharf nach rechts gezogen und sei in das Fahrzeug des Klägers hineingefahren.
Ursprünglich hat der Kläger mit der Klage 4.853,37 Euro an Schaden geltend gemacht. Mit Schriftsatz vom 17.08.2010 hat er die Klage teilweise in Höhe von 1.324,81 Euro zurückgenommen. Nunmehr machte der Kläger die folgenden Schadenspositionen geltend:
3.100,00 Euro Wiederbeschaffungsaufwand
30,00 Euro Unkostenpauschale
398,46 Euro Sachverständigenkosten
Der Kläger beantragt, die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an den Kläger 3.528,46 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 16.02.2010 sowie vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 402,70 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 14.05.2010 zu zahlen.
Die Beklagten beantragen, die Klage abzuweisen.
Die Beklagten behaupten, der Beklagte zu 1) habe rechtzeitig vor der Grundstückseinfahrt seine Geschwindigkeit reduziert und den rechten Fahrtrichtungsanzeiger betätigt. Der Kläger habe zum Rechtsüberholen des Beklagten zu 1) auf der Fahrbahn nicht genügend Platz gehabt und versucht, den Beklagten zu 1) unter Benutzung des Bürgersteigs zu überholen.
Das Gericht hat den Kläger und den Beklagten zu 1) zum Ablauf des Verkehrsunfalls informatorisch angehört. Ferner hat die Zeugin „…“ zum Unfallhergang vernommen. Wegen des Inhalts der Anhörung und der Zeugenaussage wird auf das Sitzungsprotokoll vom 30.09.2010 verwiesen. Ferner hat das Gericht gemäß Beweisbeschluss vom 21.10.2010 Beweis erhoben durch Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens. Auf das Gutachten des Sachverständigen „…“ vom 29.04.2011 wird Bezug genommen (Bl. 96 – 123 d.A.).
Ergänzend wird auf die von den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf die beigezogene Verkehrsunfallakte verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist teilweise begründet.
Der Kläger hat gegen die Beklagten einen Anspruch auf Zahlung von 50 % seines durch den Unfall entstandenen ersatzfähigen Schadens wegen des Verkehrsunfalls aus §§ 7, 18 StVG, 823 BGB, 115 VVG.
Da der Unfall für beide Unfallbeteiligte nicht nach § 17 Abs. 3 StVG unabwendbar war, war nach § 17 Abs. 1, Abs. 2 StVG zur Haftungsermittlung eine Abwägung der Verursachungsbeiträge vorzunehmen. Im Verhältnis zueinander hängt die Verpflichtung zum Schadensersatz sowie der Umfang des zu leistenden Ersatzes nach §§ 17 Abs. 1, Abs. 2 StVG von den Umständen, insbesondere davon ab, inwiefern der Schaden vorwiegend von dem einen Teil oder von dem anderen Teil verursacht worden ist. Hierbei richtet sich die Schadensverteilung auch nach dem Grad eines etwaigen Verschuldens eines Beteiligten.
Nach Durchführung der Beweisaufnahme steht fest, dass beide Unfallbeteiligte den Verkehrsunfall schuldhaft verursacht haben. Unter Berücksichtigung dieser schuldhaften Verursachungsbeiträge erschien eine Haftungsverteilung von 50 % zu 50 % angemessen.
Der Kläger hat gegen §§ 9 Abs. 5, 9 Abs. 1 Satz 4 StVO verstoßen. Nach § 9 Abs. 5 StVO muss sich der Fahrzeugführer vor dem Abbiegen in eine Grundstückseinfahrt nach rechts so verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Nach § 9 Abs. 1 Satz 4 StVO besteht vor dem Rechtsabbiegen in eine Grundstückseinfahrt eine doppelte Rückschaupflicht. Der Fahrzeugführer muss vor dem Einordnen und nochmals vor dem Abbiegen auf den nachfolgenden Verkehr achten. Eine zweite Rückschau ist nur dann nicht erforderlich, wenn eine Gefährdung des nachfolgenden Verkehrs ausgeschlossen ist, was der Fall sein kann, wenn der Fahrer wegen des geringen Abstands zum rechten Fahrbahnrand nicht damit rechnen muss, überholt zu werden (OLG Saarbrücken, Urteil vom 07.01.2003, 3 U 258/02, AG Hamburg-Harburg, Urteil vom 19.11.2007, 646A C 219/07).
Der Beklagte zu 1) hat gegen die ihm auferlegte doppelte Rückschaupflicht verstoßen. So hat er bei seiner informatorischen Anhörung in der mündlichen Verhandlung selbst eingeräumt, dass er sich vor dem Einordnen zum Abbiegen und unmittelbar vor Beginn des Abbiegevorgangs nicht nach hinten vergewissert hat, obwohl ihm durch einen vorigen Blick in den Rückspiegel bewusst war, dass sich der Kläger mit seinem Fahrzeug hinter ihm befand. Der Beklagte zu 1) hätte auch mit einem möglichen Überholmanöver des Klägers rechnen müssen, da er sein Fahrzeug zur Durchführung des Abbiegevorgangs zumindest zum Teil auf die Gegenfahrspur lenken musste, wie sich aus den nachvollziehbaren und von den Parteien nicht angegriffenen Gutachten des Sachverständigen „…“ ergibt.
Ein Verstoß des Beklagten zu 1) gegen die Regelung in § 9 Abs. 1 Satz 2 StVO ist ihm hingegen nicht nachzuweisen. Zwar hat nach dieser Vorschrift derjenige, der nach rechts abbiegen will, sein Fahrzeug vor dem Abbiegevorgang möglichst weit rechts einzuordnen. Nach dem Sachverständigengutachten steht jedoch fest, dass es für das Abbiegen in die Grundstückseinfahrt zwingend erforderlich war, zumindest einen Teil der Gegenfahrspur zu befahren. Ob der Beklagte zu 1) die Gegenfahrspur zur Durchführung des Abbiegevorgangs über das erforderliche Maß genutzt hat, lässt sich im Nachhinein nicht feststellen.
Schließlich steht auch ein Verstoß des Beklagten zu 1) gegen § 9 Abs. 1 StVO nicht fest. Nach § 9 Abs. 1 StVO muss die Abbiegeabsicht rechtzeitig und deutlich durch Benutzung der Fahrtrichtungsanzeiger angekündigt werden. Dass der Beklagte zu 1) unmittelbar vor dem eigentlichen Abbiegevorgang nach rechts geblinkt hat, ergibt sich aus der informatorischen Anhörung des Klägers sowie der glaubhaften Aussage der Zeugin „…“. Ob der Beklagte zu 1) den rechten Blinker jedoch rechtzeitig, d.h. zu einem Zeitpunkt gesetzt hat, an dem sich der nachfolgende Verkehr auf das Fahrmanöver des Beklagten zu 1) einstellen konnte, ist im Nachhinein nicht festzustellen.
Auf der anderen Seite trifft auch den Kläger an dem Unfall ein nicht unerhebliches Mitverschulden. Der Kläger hätte an der Unfallstelle nicht versuchen dürfen, den Beklagten zu 1) rechts zu überholen. Nach § 5 Abs. 1 StVO ist grundsätzlich links überholen. Nach § 5 Abs. 7 StVO darf nur derjenige, der seine Absicht, nach links abzubiegen, ankündigt und sich eingeordnet hat, rechts überholt werden. Nach dem unstreitigen Vortrag beider Parteien hat der Beklagte zu 1) nicht nach links geblinkt und damit eine Absicht, nach links abbiegen zu wollen, nicht angezeigt. Der Kläger hätte bereits schon deshalb den Überholvorgang unterlassen müssen. Im Nachhinein nicht feststellbar ist hingegen, ob der Beklagte zu 1) rechtzeitig vor dem Abbiegevorgang den rechten Blinker betätigt hat (s.o) und der Kläger schon aus diesem Grund auf den Überholvorgang hätte verzichten müssen. Gleiches gilt hinsichtlich der Behauptung der Beklagten, für ein rechtseitiges Überholen sei auf der Fahrbahn nicht genügend Platz gewesen.
Das Gericht wertet die beiden Verschuldensanteile als gleichwertig. Der feststehende Verstoß gegen die doppelte Rückschaupflicht nach § 9 Abs. 5, Abs. 1 Satz 4 wiegt gleich schwer wie der Verstoß, unzulässigerweise rechts zu überholen, §§ 5 Abs. 1, 5 Abs. 7 StVO. Eine Haftungsverteilung von 50 % zu 50 % erschien daher angemessen (vgl. OLG Saarbrücken, Urteil vom 07.01.2003, 3 U 258/02, AG Hamburg-Harburg, Urteil vom 19.11.2007, 646A C 219/07).
Der Kläger stützt die Klage auf den nach dem Schadensgutachten erforderlichen Wiederbeschaffungsaufwand für sein Fahrzeug. Da der Kläger unstreitig kein Ersatzfahrzeug angeschafft hat, war vom Brutto-Wiederbeschaffungswert die Differenzbesteuerung in Höhe von 2 % in Abzug zu bringen. Die geltend gemachte Unkostenpauschale von 30,00 Euro ist leicht übersetzt. Das Gericht hält hier einen Betrag von 25,00 Euro für ausreichend und angemessen. Insgesamt ist dem Kläger durch den Unfall daher ein Schaden in Höhe von 3.441,46 Euro entstanden (Wiederbeschaffungswert laut Gutachten – 82,00 Euro Differenzbesteuerung – 1.000,00 Euro Restwert + 25,00 Euro Auslagenpauschale + 398,46 Euro Gutachterkosten). Die Hälfte des Schadens ergibt die zugesprochene Hauptsacheforderung in Höhe von 1.720,73 Euro.
Ausgehend von einem Gegenstandswert in Höhe von 1.720,73 Euro und einer Geschäftsgebühr von 1,3 kann der Kläger weiterhin die Zahlung von Anwaltskosten in Höhe von 229,55 Euro verlangen.
Die zugesprochenen Zinsansprüche beruhen auf §§ 288 Abs. 1, 286, 291 ZPO.
Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 92 Abs. 1, 269 Abs. 3, 708 Nr. 11, 709, 711 ZPO. Die Kosten der Teilklagerücknahme waren nach § 269 Abs. 3 ZPO dem Kläger aufzuerlegen.