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Verkehrsunfall – Aufhebung der Prozesskostenhilfe wegen mangelnder Erfolgsaussicht

AG Bremen, Az.: 10 C 234/13, Beschluss vom 22.07.2015

In dem Rechtsstreit wird die der Klägerin mit Beschluss vom 19.03.2014 bewilligte Prozesskostenhilfe für die weitere Beweisaufnahme gem. § 124 Abs. 2 ZPO aufgehoben.

Gründe

Das Gericht kann gem. § 124 Abs. 2 ZPO die Bewilligung der Prozesskostenhilfe für die weitere Beweisaufnahme aufheben, soweit die von der Partei beantragte Beweiserhebung auf Grund von Umständen, die im Zeitpunkt der Bewilligung der Prozesskostenhilfe noch nicht berücksichtigt werden konnten, keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet oder der Beweisantritt mutwillig erscheint.

Die weitere Beweiserhebung hat angesichts des Ergebnisses des technischen Gutachtens keine hinreichende Aussicht auf Erfolg. In diesem Rahmen ist eine Beweisantizipation zulässig (Thomas/Putzo/Seiler, § 124 Rn. 7). Das technische Gutachten ist zu dem Ergebnis gekommen, dass eine kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung in längsaxialer Richtung bei höchstens 3 und in queraxialer Richtung bei höchstens 1,5 km/h vorlag, was zu einer Fahrzeugbeschleunigung/-verzögerung von 0,4 bzw. 0,2 g (längs- und queraxiale Richtung) führe. Diese Krafteinwirkung entspricht beispielsweise der Krafteinwirkung wie bei der Drehung des Kopfes. Auch im niedrigenergetischen Bereich ist die Harmlosigkeitsgrenze nach der Rechtsprechung des BGH nicht schematisch anzuwenden, sondern es ist auf Grund der Umstände des einzelnen Falles eine individuelle Beweiswürdigung vorzunehmen. Bei der orthopädischen-traumatologischen Beurteilung von Unfallfolgen nimmt der Sachverständige eine dreischrittige Prüfung vor, insbesondere wenn wie hier eine Verletzung anhand klinischer Befunde und Bildgebung nicht bzw. nicht sicher zu objektivieren sei. Im ersten Schritt klärt der Sachverständige, ob bei dem streitgegenständlichen Unfall die Möglichkeit besteht, eine Verletzung der Halswirbelsäule hervorzurufen. Schritt 2 dient der Aufklärung, ob eine Verletzung anhand der unfallnahe klinischen und gegebenenfalls kardiologischen Befunde objektivierbar oder zumindest nachvollziehbar ist. Zuletzt sind die Folgen einer gegebenenfalls festgestellten Verletzung zu bewerten. Eine Verletzungsmöglichkeit (Schritt 1) besteht dabei nur bei einem Missverhältnis zwischen der Belastbarkeit des betroffenen Körperteiles bzw. des Betroffenen und der einwirkenden biomechanischen Belastung zum Unfallzeitpunkt, die durch das unfallanalytische Gutachten ermittelt worden ist. Hierzu ist die ermittelte biomechanische Insassenbelastung der individuellen Belastbarkeit des Betroffenen gegenüberzustellen, wobei verletzungsfördernde Faktoren, die gegebenenfalls die Belastbarkeit zum Unfallzeitpunkt reduziert haben, zu berücksichtigen sind. Hierbei kommt es auf die Umstände und die Person im einzelnen Fall an. Eine Verletzungsmöglichkeit ist gegeben, wenn die individuelle Belastbarkeit der biomechanischen Belastung nicht standhalten kann (Mazzotti/Castro, NZV 2008, 113; Domes, NZV 2009, 166, 168). Im vorliegenden Fall ist nach Auffassung des Gerichts eine Verletzungsmöglichkeit und damit der Verletzungskausalität nahezu ausgeschlossen. Angesichts der derart geringen Krafteinwirkung sieht sich das Gericht trotz fehlender medizinischer Kenntnisse aufgrund der in diesen Fällen gemachten Erfahrungen und aufgrund des natürlichen Urteilsvermögens in der Lage, diese Aussage treffen zu können. Die Klägerin ist eine junge fitte Frau ohne Vorschädigungen der Wirbelsäule, sodass die individuelle Belastbarkeit gegeben ist, der Krafteinwirkung einer Kopfdrehung standzuhalten. Daran ändert auch eine Steilstellung der Wirbelsäule (Bl. 10 d.A.) nichts, da bekannt ist, dass eine Steilstellung der HWS keineswegs als zwingend unfallspezifisch einzuschätzen ist, sondern bei 42 % der Normalbevölkerung vorhanden ist und überdies im Rahmen der bildgebenden Röntgenaufnahmen eine gewisse Steilstellung durch die Haltungsanweisung an den Patienten bedingt ist (Domes, NZV 2009, 166, 168; Frhr. v. Hadeln/Zuleger, NZV 2004, 273, 275). Hinzu kommt, dass es sich um eine streifende Seitenkollision handelte und die Klägerin an der stoßabgewandten Seite und im Bulli aufrecht saß. Ein so genannter Überraschungseffekt wirkt sich nach wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht verletzungsfördernd aus (Mazzotti/Castro/Kandaouroff, NZV 2004, 335).

Angesichts der geringen Erfolgsaussichten erscheint die Rechtsverfolgung überdies auch mutwillig. Mutwillig ist die Rechtsverfolgung gem. § 114 Abs. 2 ZPO, wenn eine Partei, die keine Prozesskostenhilfe beansprucht, bei verständiger Würdigung aller Umstände von der Rechtsverfolgung absehen würde, auch wenn hinreichende Aussicht auf Erfolg besteht. Dies gilt sowohl für das ob als auch für das wie der Rechtsverfolgung. Durch den Begriff der Mutwilligkeit soll der verfassungsrechtlich gebotene Rahmen der Prozesskostenhilfe gewahrt werden. Hierzu hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt, dass es verfassungsrechtlich ausreichend ist, dem Hilfebedürftigen hinsichtlich seiner Zugangsmöglichkeit zum Gericht einem solchen Bemittelten gleichzustellen, der seine Prozessaussichten vernünftig abwägt und dabei auch das Kostenrisiko berücksichtigt (zuletzt Beschluss vom 11. November 2009, NJW 2010, 988). Denn grundsätzlich ist es einem Hilfebedürftigen zuzumuten, sich wie ein verständiger, vernünftig denkender Rechtsschutzsuchender zu verhalten, der den zu erwartenden Nutzen, das Eigeninteresse sowie das Verfahrenskostenrisiko in ein angemessenes Verhältnis zueinander bringt (BGH, Beschluss vom 09. Oktober 2014 – IX ZA 12/13 –, juris). Ein wirtschaftlich und vernünftig denkender Rechtsschutzsuchender würde bei den geringen Erfolgsaussichten nicht noch weitere ca. 2.000 € aufwenden.

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