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Verkehrsunfall zwischen anfahrendem Fahrzeug und vor diesem liegender alkoholisierter Person

Verkehrsunfall: Alkoholisierte Person vor Fahrzeug – Wer haftet?

Das Urteil des OLG Karlsruhe in Bezug auf den Verkehrsunfall zwischen einem anfahrenden Fahrzeug und einer davor liegenden alkoholisierten Person legt den Schwerpunkt auf die teilweise Haftung beider Parteien. Die Entscheidung betont das Mitverschulden der alkoholisierten Person, welche vor dem Fahrzeug lag, sowie die Betriebsgefahr des Fahrzeugs. Das Urteil berücksichtigt die dunklen Lichtverhältnisse und die eingeschränkte Sichtbarkeit der Person.

Weiter zum vorliegenden Urteil Az.: 14 U 267/21   >>>

Das Wichtigste in Kürze


Die zentralen Punkte aus dem Urteil:

  1. Verkehrsunfall zwischen einem Fahrzeug und einer alkoholisierten, am Boden liegenden Person.
  2. Das OLG Karlsruhe ändert das Urteil des Landgerichts Freiburg teilweise ab.
  3. Schmerzensgeld und Schadensersatz werden den Klägern zugesprochen.
  4. Mitverschulden der alkoholisierten Person wird anerkannt, da diese vor dem Fahrzeug lag.
  5. Betriebsgefahr des Fahrzeugs wird ebenfalls berücksichtigt.
  6. Dunkelheit und eingeschränkte Sichtbarkeit am Unfallort spielen eine Rolle in der Urteilsfindung.
  7. Haftung wird auf 50 % für die Beklagten festgesetzt.
  8. Berücksichtigung der jugendlichen Unerfahrenheit im Umgang mit Alkohol der Klägerin.

Verkehrsunfall mit alkoholisierter Person: OLG Karlsruhe fällt Urteil

Verkehrsunfall: Alkoholisierte Person vor Fahrzeug - Wer haftet?
(Symbolfoto: kuzmaphoto /Shutterstock.com)

In einer bemerkenswerten Entscheidung hat das Oberlandesgericht (OLG) Karlsruhe am 6. Juli 2022 ein Urteil zu einem Verkehrsunfall gefällt, bei dem eine stark alkoholisierte Person von einem anfahrenden Fahrzeug überrollt wurde. Der Unfall ereignete sich am 6. September 2020, als die Klägerin, die nach einer Geburtstagsfeier in stark alkoholisiertem Zustand vor einem geparkten Citroen Berlingo lag, von diesem überfahren wurde. Die Folgen waren schwerwiegend: Die Klägerin erlitt unter anderem eine Beckenringfraktur und eine Gehirnerschütterung.

Schadensersatz und Schmerzensgeld: Die Urteilsfindung

Das Landgericht Freiburg hatte ursprünglich die Beklagten zur Zahlung von 5.000 Euro Schmerzensgeld sowie weiterem Schadensersatz verurteilt. Die Klägerin hatte jedoch höhere Ansprüche geltend gemacht, woraufhin das OLG Karlsruhe die Entscheidung teilweise abänderte. Im revidierten Urteil wurden die Beklagten als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin ein Schmerzensgeld in Höhe von 6.000 Euro und zusätzlich Schadensersatz sowie vorgerichtliche Anwaltskosten zu bezahlen.

Die Rolle von Mitverschulden und Betriebsgefahr

Ein zentraler Aspekt des Urteils war das Mitverschulden der Klägerin. Trotz ihrer starken Alkoholisierung und der damit verbundenen eingeschränkten Einsichts- und Steuerungsfähigkeit wurde ein erhebliches Mitverschulden angenommen, da sie sich bewusst in diesen Zustand versetzt hatte. Die Betriebsgefahr des Fahrzeugs trat dadurch nicht vollständig zurück, jedoch wurde die Haftung der Beklagten auf 50 % begrenzt. Interessant ist hierbei die Berücksichtigung der jugendlichen Unerfahrenheit im Umgang mit Alkohol, die bei der Klägerin, einer 16-Jährigen, angenommen wurde.

Juristische Bewertung und abschließende Entscheidung

Das Gericht legte großen Wert auf eine gerechte und ausgewogene Entscheidung. Es betonte, dass bei der Bemessung des Schmerzensgeldes die Art, Schwere und Dauer der Verletzungen sowie die Auswirkungen auf das Leben der Klägerin zu berücksichtigen seien. Auch die möglichen Spätfolgen, insbesondere im Hinblick auf eine zukünftige Schwangerschaft der Klägerin, wurden in Betracht gezogen, jedoch nicht schmerzensgelderhöhend berücksichtigt.

Das Urteil des OLG Karlsruhe stellt ein interessantes Beispiel für die juristische Abwägung von Mitverschulden und Betriebsgefahr dar. Es zeigt auf, wie komplex die rechtliche Bewertung in Fällen ist, in denen sowohl ein Verursacherbeitrag als auch ein Selbstverschulden der geschädigten Person vorliegen. Für die rechtliche Praxis liefert dieser Fall wichtige Anhaltspunkte, insbesondere im Hinblick auf die Beurteilung des Mitverschuldens alkoholisierter Personen bei Verkehrsunfällen.

Wichtige Fragen und Zusammenhänge kurz erklärt


Was bedeutet Betriebsgefahr eines Fahrzeugs im Kontext eines Verkehrsunfalls?

Die Betriebsgefahr eines Fahrzeugs im Kontext eines Verkehrsunfalls bezieht sich auf die Gefahr, die grundsätzlich von der Nutzung eines Kraftfahrzeugs ausgeht. Sie begründet eine verschuldensunabhängige Haftung des Halters für Schäden, die durch den Betrieb des Fahrzeugs entstehen. Das bedeutet, dass der Halter eines Fahrzeugs für Schäden haften kann, auch wenn er keinen Unfall verursacht hat oder kein Verschulden vorliegt.

Nach § 7 Abs. 1 des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) haftet der Fahrzeughalter allein deshalb, weil durch das Halten eines Kraftfahrzeugs eine Gefahrenquelle geschaffen wird. Diese Haftung tritt allerdings in den Hintergrund, wenn das Verschulden eines anderen Unfallbeteiligten deutlich überwiegt oder der Unfall durch höhere Gewalt verursacht wurde.

In der Regel liegt die Haftungsquote bei einem Unfall, bei dem die Betriebsgefahr eine Rolle spielt, zwischen 20 und 30 Prozent der Schadenssumme. Es gibt jedoch Ausnahmen, wie beispielsweise bei einem Unfall, der durch höhere Gewalt verursacht wurde oder wenn der Unfall für den Fahrer unabwendbar war.

Die Betriebsgefahr gilt auch für geparkte Fahrzeuge, wenn beispielsweise ein geparktes Auto Anlass für ein Ausweichmanöver gibt, das zu einem Unfall führt. Die Betriebsgefahr ist über die Kfz-Haftpflichtversicherung abgedeckt, sodass im Schadensfall die Versicherung des Halters für die entstandenen Schäden aufkommt.

Wie wird Mitverschulden bei einem Verkehrsunfall rechtlich bewertet, insbesondere wenn eine Person alkoholisiert ist?

Die rechtliche Bewertung von Mitverschulden bei einem Verkehrsunfall, insbesondere wenn eine Person alkoholisiert ist, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Grundsätzlich ist bei einem Unfall immer derjenige schuld, der einen Verkehrsverstoß nach der Straßenverkehrsordnung (StVO) begangen hat. Eine Alkoholisierung führt jedoch nicht automatisch zu einer Mitschuld. Sie kommt nur dann in Betracht, wenn feststeht, dass die Alkoholisierung zu dem Unfall einen kausalen Beitrag geleistet hat, beispielsweise weil der Unfall infolge der Herabsetzung der Reaktionsgeschwindigkeit durch Alkohol vermeidbar gewesen wäre.

Ein Mitverschulden kann auch dann vorliegen, wenn die Folgen des Unfalls durch die Alkoholisierung schwerer geworden sind als sie ohne den Alkohol gewesen wären. Wenn jedoch mit Sicherheit feststeht, dass der Unfall auch im nüchternen Zustand passiert wäre (also unvermeidbar war), dann kommt eine Mithaftung nur wegen der Alkoholisierung nicht in Betracht.

Für Beifahrer gilt, dass ihnen ein Mitverschulden nur dann vorgeworfen werden kann, wenn die Fahruntüchtigkeit des Fahrers für sie erkennbar war. Die Beweislast für die Erkennbarkeit der Alkoholisierung liegt grundsätzlich beim Schädiger.

Für Fahrradfahrer liegt die Promillegrenze bei 1,6 Promille. Bei weniger als 1,6 Promille Blutalkoholkonzentration (BAK) müssen Fahrradfahrer bei Ausfallerscheinungen mit Sanktionen rechnen. Ein Mitverschulden kann grundsätzlich immer dann infrage kommen, wenn sie sich zumindest auch verkehrswidrig oder unaufmerksam im Straßenverkehr verhalten.

Es ist auch zu beachten, dass die Versicherung bei einem alkoholbedingten Unfall möglicherweise nicht vollständig haftet. Bei einem Unfall mit mehreren Kraftfahrzeugen haften im Allgemeinen die Haftpflichtversicherer aller beteiligten Fahrzeuge und deren Halter.

Wie wird die Haftung zwischen den beteiligten Parteien aufgeteilt, insbesondere wenn Mitverschulden und Betriebsgefahr zusammenkommen?

Die Haftung zwischen den beteiligten Parteien, insbesondere wenn Mitverschulden und Betriebsgefahr zusammenkommen, wird in der Regel durch eine Haftungsquote bestimmt. Die Betriebsgefahr bezieht sich auf die Gefahr, die automatisch durch die Inbetriebnahme eines Fahrzeugs besteht. Sie führt zu einer verschuldungsunabhängigen Haftung des Halters. Wenn die Gerichte ein Mitverschulden aufgrund der Betriebsgefahr beim Kfz feststellen, liegt die Haftungsquote meist bei 20 bis 25 Prozent.

Die Betriebsgefahr wird im Falle eines Schadensersatzanspruches als Mitverschulden angerechnet und erfordert kein Verschulden. Es gibt jedoch Fälle, in denen die Betriebsgefahr entfällt. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn der Unfallverursacher seine Sorgfaltspflichten in erheblichem Maße missachtet hat oder bei höherer Gewalt.

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In bestimmten Situationen kann die Betriebsgefahr auch komplett entfallen, wie beispielsweise bei einem Unfall mit einem betrunkenen Fußgänger. In diesem Fall haftet der Fußgänger allein, vorausgesetzt, der Autofahrer kann nachweisen, dass er sich an die Vorschriften gehalten hat.

Es ist auch wichtig zu beachten, dass die Betriebsgefahr nur dem Halter und dem haltenden Eigentümer, nicht jedoch dem nicht haltenden Eigentümer entgegengehalten werden kann.

Insgesamt hängt die Aufteilung der Haftung zwischen den beteiligten Parteien von vielen Faktoren ab, einschließlich der spezifischen Umstände des Unfalls und der Rolle, die jede Partei dabei gespielt hat.

Welche Bedeutung hat die jugendliche Unerfahrenheit im Umgang mit Alkohol für die rechtliche Bewertung des Mitverschuldens?

Die jugendliche Unerfahrenheit im Umgang mit Alkohol kann in der rechtlichen Bewertung des Mitverschuldens eine Rolle spielen, da sie die Fähigkeit eines Jugendlichen, die Folgen seines Handelns abzuschätzen, beeinflusst. Jugendliche sind oft weniger in der Lage, die Risiken und Konsequenzen ihres Alkoholkonsums zu erkennen und angemessen darauf zu reagieren. Dies kann dazu führen, dass sie sich in gefährlichen oder rechtlich problematischen Situationen wiederfinden, ohne die volle Tragweite ihres Handelns zu verstehen.

In Deutschland ist der Alkoholkonsum von Jugendlichen unter 16 Jahren gesetzlich geregelt. Sie dürfen weder Alkohol kaufen noch in der Öffentlichkeit konsumieren. Der Konsum von Alkohol in der Öffentlichkeit ist ihnen ab 14 Jahren nur gestattet, wenn sie in Begleitung eines Personensorgeberechtigten sind. Diese gesetzlichen Regelungen sollen Kinder und Jugendliche vor den negativen Auswirkungen des Alkoholkonsums schützen.

In Bezug auf die rechtliche Bewertung des Mitverschuldens könnte die jugendliche Unerfahrenheit im Umgang mit Alkohol als mildernder Umstand betrachtet werden. Allerdings hängt dies stark von den spezifischen Umständen des Einzelfalls ab und wird von den Gerichten im Rahmen ihrer Urteilsfindung berücksichtigt. Es ist daher wichtig, sich bewusst zu sein, dass der Konsum von Alkohol durch Jugendliche sowohl gesundheitliche als auch rechtliche Risiken birgt.


Das vorliegende Urteil

OLG Karlsruhe – Az.: 14 U 267/21 – Urteil vom 06.07.2022

I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Landgerichts Freiburg vom 22.10.2021 – 2 O 58/21 – teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:

1. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin ein Schmerzensgeld in Höhe von 6.000,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.10.2020 zu bezahlen.

2. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin Schadensersatz in Höhe von 75,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.10.2020 zu bezahlen.

3. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin vorgerichtliche Anwaltskosten in Höhe von 633,94 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.10.2020 zu bezahlen.

4. Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner der Klägerin für sämtliche zukünftigen materiellen und im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung nicht vorhersehbaren zukünftigen immateriellen Schäden aus dem Unfallereignis vom 06.09.2020 in L… in Höhe von 50 % dem Grunde nach haften.

5. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

II. Die weitergehende Berufung der Klägerin und die Anschlussberufung der Beklagten gegen das in Ziffer 1 genannte Urteil werden zurückgewiesen.

III. Die Kosten beider Instanzen tragen die Klägerin zu 80 % und die Beklagten zu 20

%. Die Beklagten tragen außerdem 20 % der durch die Nebenintervention verursachten Kosten. Die restlichen durch die Nebenintervention verursachten Kosten trägt der Streithelfer der Klägerin.

IV. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beteiligten können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Gegner vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages leitet..

V. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 45.150,00 € festgesetzt.

Gründe

I.

Am 05./06.09.2020 hat eine Geburtstagsfeier im Hause der Familie U… in der M…in S… stattgefunden, an der die Klägerin mit Freunden und die Beklagte Ziff. 1 mit ihrer Familie teilgenommen haben. Die Beklagte Ziff. 1 und ihre Familie haben die Feier am 06.09.2020 gegen 4.00 Uhr verlassen, um mit dem bei der Beklagten Ziff. 2 haftpflichtversicherten PKW Citroen Berlingo, der auf bzw. neben dem von dem Anwesen wegführenden Rebweg geparkt war, nach Hause zu fahren. Beim Anfahren hat die Beklagte Ziff. 1 die Klägerin überrollt, die in stark alkoholisiertem Zustand vor dem PKW auf dem Boden lag. Die am 26.09.2003 geborene Klägerin wurde ins Krankenhaus gebracht, wo (neben einer akuten Alkoholintoxikation) eine kombinierte Beckenringfraktur, eine Gehirnerschütterung, eine Prellung der Schulter und des Oberarms sowie eine nicht näher bezeichnete Verletzung des Thorax diagnostiziert wurden (Anlage K 1). Das Ermittlungsverfahren gegen die Beklagten Ziff. 1 ist gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt worden (Anlagen B 1 und 2): Ihr könne kein Fahrlässigkeitsvorwurf gemacht werden; ein Fahrfehler in der konkreten Unfallsituation sei nicht ersichtlich.

Die Klägerin hat die Beklagten auf Zahlung eines Schmerzensgeldes (mindestens 40.000,00 €), weiterer 120,00 € Schadensersatz und Ersatz ihrer außergerichtlichen Anwaltskosten nebst Zinsen in Anspruch genommen. Ferner hat sie die Feststellung begehrt, dass die Beklagten dem Grunde nach zu 100 % für künftige Schäden haften.

Wegen der weiteren tatsächlichen Feststellungen wird auf das angefochtene Urteil Bezug genommen.

Das Landgericht hat die Beklagte Ziff. 1 persönlich angehört, fünf Zeugen vernommen und ein Unfallrekonstruktionsgutachten eingeholt. Durch Urteil vom 22.10.2021 hat es die Beklagten zur Zahlung von 5.000,00 € Schmerzensgeld, 30,00 € Schadensersatz sowie 492,54 € Anwaltskosten (nebst Zinsen) verurteilt und festgestellt, dass die Beklagten der Klägerin für sämtliche zukünftigen materiellen und im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung nicht vorhersehbaren zukünftigen immateriellen Schäden aus dem Unfallereignis in Höhe von 25 % dem Grunde nach haften. Im Übrigen wurde die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat das Landgericht ausgeführt, die Beklagten hafteten gemäß §§ 7 Abs. 1, 18 StVG, 115 Abs. 1 Nr. 1 VVG wegen der Betriebsgefahr des Fahrzeugs und weil ein Verschuldensbeitrag der Beklagten Ziff. 1 zwar nicht feststellbar, aber auch nicht mit letzter Gewissheit auszuschließen sei. Im Bereich des geparkten Fahrzeugs sei es nahezu stockdunkel gewesen. Die Beklagte Ziff. 1 sei um das Heck herum zur Fahrertür gegangen und habe vor dem Anfahren das Abblendlicht eingeschaltet. Wie der Sachverständige ausgeführt habe, bestehe die naheliegende Möglichkeit, dass die vor dem Fahrzeug liegende Klägerin auch nach dem Einschalten des Lichts für die Beklagte Ziff. 1 nicht sichtbar gewesen sei, weil sie mit keinem Körperteil weiter als 2,2 m von dem Fahrzeug entfernt gelegen habe. Die Beklagte Ziff. 1 sei etwa 2,0 m (+/- 0,2 m) nach vorne gefahren und dann zurückgesetzt. Auch insoweit sei ihr kein Fahrlässigkeitsvorwurf zu machen. Selbst wenn sie erkannt hätte, dass sie einen Menschen überfahren hatte, hätte es in dieser Situation keine Ideallösung gegeben. Auch das Stehenbleiben, Hilfeholen und Anheben des Fahrzeugs wäre in gleicher Weise mit weiteren Verletzungen der Klägerin verbunden gewesen.

Der Klägerin falle ein Mitverschulden zur Last (§ 9 StVG i. V. m. § 254 BGB). Sie habe diejenige Sorgfalt außer acht gelassen, die ein ordentlicher und verständiger Mensch zur Vermeidung eigener Schäden anzuwenden pflege. Es dränge sich jedermann auf, dass eine Person, die in der Dunkelheit vor einem geparkten Fahrzeug liege, beim Anfahren übersehen werden könne. Allerdings setze ein Mitverschulden grundsätzlich Zurechnungsfähigkeit nach §§ 827, 828 BGB voraus und müsse zugunsten der Klägerin davon ausgegangen werden, dass ihre Einsichts- und/oder Steuerungsfähigkeit aufgrund der Alkoholisierung aufgehoben gewesen sei. Die Rückrechnung ergebe eine Blutalkoholkonzentration von über 2 ‰ im Zeitpunkt des Hinlegens und sämtliche Zeugen hätten den Zustand der Klägerin als desaströs beschrieben. Die Klägerin müsse sich aber nach § 827 S. 2 BGB entgegenhalten lassen, dass sie sich durch den übermäßigen Konsum von Alkohol in diesen Zustand versetzt habe. Nach allgemeiner Ansicht sei die Norm auch im Rahmen des Mitverschuldens anzuwenden. Die Klägerin habe sich zumindest fahrlässig in den Zustand der Volltrunkenheit versetzt. Die Wirkungen des Alkohols seien im Allgemeinen im Alter von 16 Jahren bekannt. Die Zeugin C… habe zudem berichtet, dass sich die Klägerin nur vier Wochen zuvor in einem vergleichbaren Zustand befunden habe. Die Wirkungen übermäßigen Alkoholkonsums seien der Klägerin also bekannt gewesen. Die Rechtsprechung gehe bei auf der Fahrbahn liegenden oder sitzenden alkoholisierten Fußgängern im Regelfall von einem überwiegenden Mitverschulden des Fußgängers aus. Bei einem Erwachsenen wäre auf Grund der hohen Alkoholisierung und des grob fahrlässigen Ablegens im Nahbereich eines Pkws in unbeleuchtetem Gelände ein gänzliches Zurücktreten der Betriebsgefahr naheliegend (OLG Celle, MDR 2015, 940; OLG Hamm 6 U 59/12). Da der Anknüpfungspunkt für den Mitverschuldensvorwurf nach § 827 S. 2 BGB jedoch allein der übermäßige Alkoholkonsum sei und zu Gunsten der damals 16-jährigen Klägerin jugendtypische Unerfahrenheit im Umgang mit Alkohol angenommen werden könne, gewichte das Gericht das gleichwohl erhebliche Mitverschulden an der Schadensentstehung mit 3/4. Dass der Obliegenheitsverstoß der übermäßigen Alkoholisierung ursächlich für das schadensbringende Hinlegen bzw. Liegenbleiben vor dem geparkten Pkw in der Dunkelheit gewesen sei, sei offensichtlich und stehe jedenfalls im Wege des nicht erschütterten Anscheinsbeweises fest. Im Hinblick auf die schweren körperlichen Verletzungen, die allerdings weitgehend ausgeheilt seien, den stationären Krankenhausaufenthalt und die geschilderten Auswirkungen des Unfalls auf das Leben der Klägerin sei ein Schmerzensgeld von 5.000,00 € angemessen. Unter Berücksichtigung der Mitverschuldensquote habe die Klägerin Anspruch auf 30,00 € Schadensersatz für die beschädigte Kleidung. Der Feststellungsantrag sei in Höhe der Mitverschuldensquote begründet. Für zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung nicht vorhersehbare immaterielle Schäden bestehe ein Feststellungsinteresse.

Gegen dieses Urteil hat die Klägerin Berufung und haben die Beklagten Anschlussberufung eingelegt.

Die Klägerin macht geltend, die Beklagten hafteten gemäß §§ 7 Abs. 1, 11, 18 StVG für alle unfallkausalen Verletzungen und Schäden. Ihr falle kein Mitverschulden zur Last. Ihre Alkoholisierung, aufgrund der sie geschlafen habe oder bewusstlos gewesen sei, habe in keinem äußeren oder inneren Zusammenhang damit gestanden, dass sie von dem Fahrzeug überrollt worden sei. Man müsse nicht zwingend damit rechnen, dass ein Fahrzeug nachts um 4.00 Uhr bewegt werden solle. Der Schaden an ihrer Kleidung belaufe sich – wie in der Klageschrift angegeben – auf 150,00 €. Bei der Bemessung des Schmerzensgeldes stünden mögliche Spätfolgen nicht fest.

Die Klägerin beantragt, unter Abänderung des Urteils des Landgerichts Freiburg, AZ 2 O 58/21, vom 25.10.2021, die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen,

1. ein der Höhe nach in das Ermessen des Gerichts gestelltes Schmerzensgeld, mindestens jedoch weitere 35.000,00 €, nebst 5 Prozentpunkte Zinsen über dem Basiszinssatz aus 10.000,00 € seit dem 01.10.2020, aus weiteren 30.000,00 € ab Rechtshängigkeit der Klage zu bezahlen;

2. an die Klägerin Schadensersatz in Höhe von (weiteren) 120,00 € nebst 5 Prozentpunkte Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 01.10.2020 zu bezahlen;

3. an die Klägerin vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von (weiteren) 441,49 € nebst 5 Prozentpunkte Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 01.10.2020 zu bezahlen;

4. festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner der Klägerin für sämtliche zukünftigen materiellen und immateriellen Schadensersatz, dem Grunde nach zu (weiteren) 75 %, also insgesamt 100 % aus dem Unfallereignis vom 06.09.2020 in L…haften.

Die Beklagten beantragen, die Berufung zurückzuweisen; das Urteil des Landgerichts Freiburg, Az. 2 O 58/21 vom 25.10.2021 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Beklagten machen geltend, der Gesetzgeber habe jugendtypische Verhaltensauffälligkeiten der Regelung des § 828 BGB unterzogen. Da das Landgericht die Einsichtsfähigkeit der Klägerin bejaht habe, sei es denklogisch nicht möglich, die Betriebsgefahr nicht zurücktreten zu lassen. Einer 16-Jährigen müsse klar sein, dass sie grob fahrlässig handele, wenn sie sich alkoholisiert vor ein geparktes Fahrzeug lege.

Wegen des weiteren Parteivorbringens wird auf die Schriftsätze und Anlagen verwiesen.

II.

Die Berufung der Klägerin ist zulässig und teilweise begründet. Die Anschlussberufung der Beklagten hat keinen Erfolg.

1. Das Landgericht hat allerdings zu Recht angenommen, dass der Klägerin ein Mitverschulden zur Last fällt. Es wiegt aber nicht so schwer, dass die einfache Betriebsgefahr des Fahrzeugs völlig zurücktritt. Vielmehr ist eine Haftung der Beklagten in Höhe von 50 % angemessen.

a) Die Klägerin lag nach übermäßigem Alkoholkonsum in der Dunkelheit im Zustand der Bewusstlosigkeit – schlafend oder ohnmächtig – vor dem Fahrzeug. Wäre sie nicht dort gelegen, wäre es nicht zu dem Unfall gekommen. Hätte sich die Klägerin (was kaum vorstellbar ist) in zurechnungsfähigem Zustand vor das Fahrzeug gelegt und nicht auf das Herannahen der Beklagten Ziff. 1 und ihrer Familie reagiert, fiele ihr im Übrigen auch ein Mitverschulden – nämlich die Außerachtlassung der im eigenen Interesse zur Bewahrung vor Schaden gebotenen Sorgfalt – zur Last. Dass nicht „zwingend“ feststand, dass das Fahrzeug um 4.00 Uhr morgens bewegt werden sollte, ist unerheblich.

b) Für die Beurteilung eines etwaigen Mitverschuldens im Sinne von §§ 9 StVG, 254 BGB gelten die §§ 827, 828 BGB entsprechend bzw. „spiegelbildlich“ (OLG Karlsruhe 1 U 35/13 m. w. Nachw.). Wer sich durch geistige Getränke in einen vorübergehenden Zustand des Rausches versetzt, ist für den Schaden, den er in diesem Zustand erleidet, in gleicher Weise verantwortlich, wie wenn ihm Fahrlässigkeit zur Last fiele. Die Verantwortlichkeit tritt nur dann nicht ein, wenn er ohne Verschulden in diesen Zustand geraten ist (§ 827 S. 2 BGB). An einer schuldhaften Verursachung des Zustandes der Unzurechnungsfähigkeit fehlt es, wenn der Betroffene die berauschende Wirkung der genossenen Getränke nicht gekannt hat und auch bei Anwendung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt nicht erkennen konnte (BGH V ZR 3/67). Aus dem Umstand, dass die Klägerin die zur Kenntnis ihrer Verantwortlichkeit im Rahmen der §§ 254, 287 S. 2 BGB erforderliche Einsicht besaß (§ 828 Abs. 3 BGB), folgt – entgegen der Ansicht der Beklagten – aber nicht „denklogisch“, dass die Betriebsgefahr völlig zurücktreten müsste. Das ist auch bei Erwachsenen nicht der Fall (vgl. etwa OLG Bremen 3 U 35/72). Bei Kindern und Jugendlichen ist zudem deren altersbedingte Entwicklung in die Bewertung einzubeziehen. Ein Jugendlicher haftet nur dann alleine, wenn ihm objektiv und subjektiv ein erhebliches Verschulden zur Last fällt, welches die Betriebsgefahr des Fahrzeugs als völlig untergeordnet erscheinen lässt (BGH VI ZR 184/05). Jugendliche im damaligen Alter der Klägerin haben typischerweise noch wenig Erfahrung im Umgang mit Alkohol, überschätzen ihre Aufnahmefähigkeit und verlieren leicht Hemmung und Kontrolle. Zudem sind Jugendliche empfänglich für einen gruppendynamischen Effekt und haben auch ältere Personen auf der Geburtstagsfeier zu viel Alkohol getrunken: So hat die Beklagte Ziff. 1 bei ihrer persönlichen Anhörung geschildert, dass der Streithelfer, mit dem die Klägerin auf der Feier war, ebenfalls stark alkoholisiert gewesen sei. Und der Ehemann der Beklagten Ziff. 1 hat als Zeuge ausgesagt, dass auch er „auf jeden Fall zu viel getrunken“ hatte.

2. Die Klägerin hat Anspruch auf ein Schmerzensgeld von 6.000,00 €.

Bei der Bemessung des Schmerzensgeldes sind alle für die billige Entschädigung nach § 253 Abs. 2 BGB relevanten Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen. Zu den bei der Abwägung zu beachtenden Faktoren zählen insbesondere Art, Schwere und Dauer der erlittenen Verletzungen, Schmerzen und Leiden, die Dauer der stationären und ambulanten Behandlungen, die Belastung durch Operationen und andere Behandlungsmaßnahmen, sowie Art, Ausmaß und Dauer der Auswirkungen auf das berufliche oder schulische und soziale Leben des Geschädigten. Dabei hat das Gericht bei Ausübung seines ihm nach § 287 BGB eingeräumten Ermessens weiter zu beachten, dass vergleichbare Verletzungen und Beeinträchtigungen annähernd gleiche Entschädigungen zur Folge haben (OLG Karlsruhe 14 U 60/16 m. w. Nachw.). Die Klägerin war acht Tage im Krankenhaus, wo eine medikamentöse Schmerztherapie erfolgt ist. Sie wurde bei deutlich gebesserter Schmerzsymptomatik mit der Empfehlung entlassen: „Mobilisierung über die linke Seite bei freigegebener Vollbelastung, ggf an 2 Unterarmgehstützen“. Die Klägerin hat vorgetragen, sie habe die „Krücken“ bis Ende November benötigt und bis Anfang Dezember Schmerzmittel genommen. Da die Bruchstellen noch nicht stabil knöchern durchwachsen seien, sei sie vor größerer Kraftanstrengung im Zusammenhang mit sportlicher Betätigung gewarnt worden. Bei einem achttägigen Krankenhausaufenthalt (ohne Operationen) und rund drei Monate andauernden körperlichen Beeinträchtigungen wäre ein Schmerzensgeld von 12.000,00

€ angemessen. Im Hinblick auf das Mitverschulden ist ein Schmerzensgeld von 6.000 € angemessen. Ob es im Fall einer Schwangerschaft zu Beschwerden oder Komplikationen aufgrund der Beckenringfraktur kommen wird, ist nicht absehbar. Etwaige Komplikationen können heute nicht schmerzensgelderhöhend berücksichtigt werden, sondern fallen unter den Vorbehalt.

Der materielle Schadensersatzanspruch beläuft sich auf 75,00 €, die zu ersetzenden Anwaltskosten auf 633,94 €.

Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 97 Abs. 1, 91, 92 Abs. 1 S. 1, 101 Abs. 1, 708 Nr. 10, 711 ZPO. Die Revision ist nicht zuzulassen. Weder hat die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts (§ 543 Abs. 2 ZPO).

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