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Analphabet muss mündliche Rechtsfolgenbelehrung erhalten

Sozialgericht Lüneburg

Az.: S 24 AS 342/07 ER

Urteil vom 04.04.2007


Entscheidung:

1. Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin vom 12.03.2007 gegen die Bescheide vom 14.02.2007 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 07.03.2007 wird angeordnet.

2. Die Aufhebung der Vollziehung der Bescheide vom 14.02.2007 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 07.03.2007 wird angeordnet.

3. Die Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens.

Gründe:

I.

Die Antragstellerin steht im Leistungsbezug nach dem Sozialgesetzbuch – Zweites Buch – (SGB II). Nach der Verwaltungsakte und der Gerichtsakte ist die Antragstellerin Analphabetin.

Aus den angegriffenen Bescheiden ergibt sich, dass die Antragstellerin zu Meldeterminen bei der Antragsgegnerin am 08.12.2006, 13.12.2006 und 11.01.2007 nicht erschienen ist. Die Einladung zu diesen Gesprächen und die notwendige Rechtsfolgenbelehrung ist von den Beteiligten im Verfahren nicht vorgelegt worden und auch in der Verwaltungsakte nicht enthalten.

Die Antragsgegnerin kürzte durch 3 Einzelbescheide jeweils vom 14.02.2007 die monatlichen Leistungen der Antragstellerin für den Zeitraum 01.03.2007 bis 31.05.2007. Für jeden versäumten Termin wurden die Leistungen um je 10 % gekürzt. Zur Begründung wurde jeweils ausgeführt, dass ein wichtiger Grund für das Nichterscheinen zum jeweiligen Termin nicht vorliege.

Hiergegen wandte sich die Antragstellerin mit Widerspruch vom 16.02.2007 und erklärte, dass sie sich zu den Terminen abgemeldet hätte. Sie pflege ihre kranke Mutter und könne deshalb zu den Terminen nicht erscheinen. Die zuständige Sachbearbeiterin habe gesagt, dass das in Ordnung sei.

Diese Widersprüche wurden mit Widerspruchsbescheiden vom 07.03.2007 zurückgewiesen. Zur Begründung führte die Antragsgegnerin jeweils aus, dass ein Verstoß gegen die Mitwirkungspflichten im Sinne des § 2 SGB II vorliege, wofür kein wichtiger Grund im Sinne des § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB II vorliege. Die Leistung sei deshalb gemäß § 31 Abs. 2 und 6 SGB II jeweils um 10 % zu senken.

Hiergegen hat die Antragstellerin am 12.03.2007 Klage erhoben. Gleichzeitig hat sie das Gericht um die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ersucht. Sie führt zur Begründung aus, dass sie die Einladung zum Termin am 13.12.2006 gar nicht erhalten habe. Im Oktober 2006 sei ihr die Wohnung fristlos gekündigt worden, sie habe deshalb bis einschließlich Februar 2007 bei einer Freundin gewohnt. Dies sei der Antragsgegnerin auch bekannt gewesen. Die gesamte Post sei an ihre Tochter zugestellt worden und habe sie nicht erreicht.

Die Antragstellerin beantragt sinngemäß, die aufschiebende Wirkung der Klage vom 12.03.2007 anzuordnen und die Vollziehung der Bescheide vom 14.02.2007 in Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 07.03.2007 aufzuheben.

Die Antragsgegnerin beantragt, den Antrag abzuweisen.

Sie trägt vor, dass ein Postrücklauf nicht zu verzeichnen sei. Außerdem habe die Antragstellerin zunächst vorgetragen, dass sie die Termine wegen der Pflege ihrer Mutter nicht habe wahrnehmen können. Die Behauptung, die Post sei nicht zugegangen, sei deshalb als Schutzbehauptung zu werten.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Antragsgegnerin Bezug genommen, die dem Gericht bei der Entscheidungsfindung vorgelegen haben.

II.

Der Antrag der Antragstellerin auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und begründet.

Gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Gemäß Satz 2 kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen, wenn der Verwaltungsakt zum Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen worden ist.

Die aufschiebende Wirkung ist anzuordnen, wenn der Verwaltungsakt offenbar rechtswidrig ist und der Betroffene dadurch in seinen subjektiven Rechten verletzt wird. Ist die in der Hauptsache zulässige Klage hingegen aussichtslos, wird die aufschiebende Wirkung nicht angeordnet. Sind die Erfolgsaussichten der Klage nicht abschließend zu beurteilen, erfolgt eine allgemeine Interessenabwägung (Keller in Meyer-Ladewig, SGG, 8. Auflage, § 86b Rz. 12c ff.). Bei offenem Ausgang der Hauptsache, wenn etwa eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich ist, ist im Wege der Folgenabwägung zu entscheiden. Dabei sind insbesondere die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend zu berücksichtigen. Die Gerichte müssen sich dabei schützend und fördernd vor die Grundrechte der Einzelnen stellen (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05).

Unter diesen Voraussetzungen ist nach der gebotenen Interessenabwägung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage festzustellen und die Vollziehung der Bescheide aufzuheben. Eine Anfechtungsklage bietet nach der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren vorzunehmenden summarischen Prüfung hinreichende Aussicht auf Erfolg.

1.

Zunächst entfaltet die Klage der Antragstellerin keine aufschiebende Wirkung. Gemäß § 86a Abs. 1 Satz 1 SGG haben Widerspruch und Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung. Gemäß § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG entfällt die aufschiebende Wirkung in den durch Bundesgesetz vorgeschriebenen Fällen. Gemäß § 39 Nr. 1 SGB II haben Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt, der über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende entscheidet, keine aufschiebende Wirkung. Ein Widerspruch gegen die Entscheidung über die Absenkung und den Wegfall von bereits bewilligten Arbeitslosengeld II (Alg II), entfaltet also keine aufschiebende Wirkung (Eicher in: Eicher/Spellbrink, SGB II, 1. Auflage, § 39 Rz. 12).

2.

Die aufschiebende Wirkung ist anzuordnen. Gemäß § 31 Abs. 2 SGB II wird das Arbeitslosengeld II unter Wegfall des Zuschlags nach § 24 SGB II in einer ersten Stufe um 10 vom Hundert der für den erwerbsfähigen Hilfebedürftigen nach § 20 maßgebenden Regelleistung abgesenkt, wenn der erwerbsfähige Hilfebedürftige trotz schriftlicher Belehrung über die Rechtsfolgen einer Aufforderung des zuständigen Trägers, sich bei ihm zu melden, nicht nachkommt, und für dieses Verhalten keinen wichtigen Grund nachweist.

a) Die Kammer kann bereits das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen in der gebotenen Eile nicht abschließend prüfen. Denn die Beteiligten haben die Einladungsschreiben nicht zum Verfahren gereicht. Sie sind auch nicht in der Leistungsakte der Antragsgegnerin enthalten. Das Gericht kann deshalb nicht nachprüfen, ob entsprechende Einladungsschreiben versandt wurden, und wenn dies der Fall war, ob sie mit einer ordnungsgemäßen Rechtsbehelfsbelehrung versehen waren. Da die Antragsgegnerin sich auf diese Tatbestandsvoraussetzungen stützt, hätte sie diese im Verfahren glaubhaft machen müssen, was sie unterlassen hat.

Weiterhin hat die Antragstellerin vorgetragen, zumindest ein Einladungsschreiben, nämlich das für den 13.12.2006, nicht erhalten zu haben. Sinngemäß bezieht sich dieses Vorbringen auch auf die anderen Einladungsschreiben. Dieses Vorbringen ist hinreichend glaubhaft gemacht. Denn nach der Leistungsakte der Antragsgegnerin musste die Antragstellerin bereits im Oktober 2006 aus ihrer Wohnung ausziehen. Dieses war in der Leistungsakte auch vermerkt. Anfang Dezember war sie in der Wohnung D., wohin die Einladungsschreiben versandt worden sein sollen, auch nicht gemeldet. Erst rückwirkend im Januar 2007 hat sich die Antragstellerin in der Adresse D. angemeldet. Die Adresse D. hatte sie lediglich in einem persönlichen Gespräch am 16.10.2006 als ihre zukünftige Meldeadresse angegeben. Sie hatte gleichzeitig angegeben, dass sie dort nicht wohnen würde. Die Antragsgegnerin konnte also nicht davon ausgehen, dass sich die Antragstellerin am D. aufhalten würde und die dorthin übersandten Schriftstücke erhalten würde.

Auch wenn die Antragstellerin sich mit verschiedenen Begründungen gegen die Leistungskürzung gewandt hat, mindert dies nicht ihre Glaubwürdigkeit. Aus dem Verwaltungsvorgang wird ersichtlich, dass der ohne Schulabschluss gebliebenen Antragstellerin ihre Lebensführung Schwierigkeiten bereitet. Es ist deshalb glaubhaft, dass sie die einzelnen Monate durcheinander bringt und zunächst Argumente vortrug, die für einen anderen Zeitraum gelten als die angegriffenen Bescheide erfassten.

Selbst wenn unterstellt würde, dass die Einladungsschreiben tatsächlich versandt wurden, müssen sie auch – wie aus der Leistungsakte ersichtlich wird – sehr kurzfristig vor dem Termin versandt worden sein. Denn der Termin am 13.12.06 war offenbar der Ersatztermin für den Termin, der am 08.12.2006 stattfinden sollte. Bei einer so kurzfristigen Einladung konnte nicht davon ausgegangen werden, dass die Post rechtzeitig an die Antragstellerin weitergeleitet werden würde.

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b) Vor allem aber erweist sich die angegriffene Maßnahme im einstweiligen Rechtsschutzverfahren als rechtswidrig, da vom Vorliegen eines wichtigen Grundes ausgegangen werden muss. Denn nach der Leistungsakte und den Feststellungen des zuständigen Urkundsbeamten des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen bei der Antragsaufnahme auf Erlass der einstweiligen Anordnung geht hervor, dass die Antragstellerin Analphabetin ist und weder des Lesens noch des Schreibens mächtig ist. Selbst wenn ihr also die Einladungsschreiben zugegangen wären, kann nicht mit hinreichender Sicherheit festgestellt werden, dass die Antragstellerin die Rechtsfolgenbelehrung zur Kenntnis nehmen konnte und diese verstehen konnte. Die Antragsgegnerin wäre bei einem bekannten Analphabetismus vielmehr verpflichtet, die Antragstellerin telefonisch von einem solchen Termin zu verständigen und die möglichen Rechtsfolgen mündlich zu erklären. Eine telefonische Verständigung mit der Antragstellerin war möglich, wie sich aus der Leistungsakte ergibt, denn die Beteiligten haben im zweiten Halbjahr des Jahres 2006 verschiedentlich miteinander telefoniert.

Nicht auszuschließen ist schließlich auch das Vorbringen der Antragstellerin, dass sie ihre pflegebedürftige Mutter pflegen musste. Für weitere versäumte Termine im Jahr 2007 hat die Antragsgegnerin die Pflege der Mutter als wichtigen Grund anerkannt. Zwar ist nach der Leistungsakte die Mutter erst Ende Februar oder Anfang März aus einer stationären Behandlung im Krankenhaus entlassen worden. Nicht auszuschließen ist aber, dass die Mutter bereits vor Einweisung in das Krankenhaus pflegebedürftig war, und damit auch schon im Dezember gepflegt werden musste. Letztlich bleibt die abschließende Beurteilung dieser Frage dem Hauptsacheverfahren vorbehalten.

3.

Da die Leistungen der Antragstellerin bereits für den Monat März gekürzt wurden, war auch die Aussetzung der Vollziehung der Leistungskürzung anzuordnen.

4.

Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.

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