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Corona-Pandemie – Untersagung von sexuellen Dienstleistungen – Außervollzugsetzung des Verbots

Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen – Az.: 13 B 902/20.NE – Beschluss vom 08.09.2020

§ 10 Abs. 1 Nr. 2 der Verordnung zum Schutz vor Neuinfizierungen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 vom 31. August 2020 wird vorläufig außer Vollzug gesetzt.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Streitwert wird auf 5.000 Euro festgesetzt.

Gründe

I.

Die Antragstellerin betreibt in L.    ein Erotik-Massage-Studio. Sie begehrt die vorläufige Außervollzugsetzung von § 10 Abs. 1 Nr. 2 der Verordnung zum Schutz vor Neuinfizierungen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 (Coronaschutzverordnung – CoronaSchVO) vom 31. August 2020 (GV. NRW. S. 758a), soweit danach das Angebot von sexuellen Dienstleistungen in Prostitutionsstätten, Bordellen und ähnlichen Einrichtungen untersagt ist.

§ 10 Abs. 1 CoronaSchVO lautet wie folgt: Der Betrieb der folgenden Einrichtungen und Begegnungsstätten sowie die folgenden Angebote sind untersagt: 1. Clubs, Diskotheken und ähnliche Einrichtungen, 2. sexuelle Dienstleistungen in und außerhalb von Prostitutionsstätten, Bordellen und ähnlichen Einrichtungen.

Die Antragstellerin hat am 22. Juni 2020 einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt. Zur Begründung macht sie im Wesentlichen geltend: Erotische Massagen stellten sexuelle Dienstleistungen im Sinne des Prostituiertenschutzgesetzes dar. Sie verfüge über eine entsprechende Erlaubnis zur Ausübung eines Prostitutionsgewerbes. Danach dürfe in ihrer Betriebsstätte kein vaginaler, oraler oder analer Geschlechtsverkehr stattfinden, lediglich Handmassagen seien genehmigt. Die Ungleichbehandlung von sexuellen Dienstleistungen und anderen körpernahen Dienstleistungen sei nicht gerechtfertigt. Es stelle in Bezug auf das Infektionsrisiko keinen Unterschied dar, ob etwa bei einer Wellness-Massage Rücken und Waden massiert würden oder bei einer Erotik-Massage zusätzlich der Intimbereich des Kunden.

Die Antragstellerin beantragt, im Wege der einstweiligen Anordnung den Vollzug von § 10 Abs. 1 Nr. 2 CoronaSchVO bis zu einer Entscheidung über einen noch zu erhebenden Normenkontrollantrag auszusetzen, soweit danach das Angebot von sexuellen Dienstleistungen in Prostitutionsstätten, Bordellen und ähnlichen Einrichtungen untersagt ist.

Der Antragsgegner beantragt, den Antrag abzulehnen.

Der Begriff der sexuellen Dienstleistung im Sinne der Coronaschutzverordnung beziehe sich auf die im Prostituiertenschutzgesetz verwendete Begriffsbestimmung. Entscheidendes Abgrenzungskriterium zu den anderen körpernahen Dienstleistungen, wie den Massagen, sei allein die sexuelle Orientierung der Dienstleistung. Die Erbringung einer sexuellen Dienstleistung gehe bei generalisierender Betrachtung mit einem erhöhten Infektionsrisiko einher, das auf der Herstellung engsten Körperkontakts mit häufig wechselnden Partnern und der bei sexuellen Aktivitäten gesteigerten Atemaktivität der Beteiligten beruhe. Den Infektionsgefahren könne, anders als bei anderen körpernahen Dienstleistungen, nicht durch ein Hygienekonzept effektiv begegnet werden. Das Tragen einer Mund-Nase-Bedeckung während der Erbringung der sexuellen Dienstleistung sei lebensfremd. Zudem könnten die Einhaltung der Regelungen nicht kontrolliert und die Kontaktpersonennachverfolgung nicht gewährleistet werden.

II.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, der sich nach verständiger Würdigung des Antragsvorbringens gegen die in der aktuellen Fassung der Coronaschutzverordnung vom 31. August 2020 ausgesprochene Untersagung sexueller Dienstleistungen richtet, hat Erfolg.

Er ist gemäß § 47 Abs. 6, Abs. 1 Nr. 2 VwGO i. V. m. § 109a JustG NRW statthaft und auch im Übrigen zulässig. Insbesondere ist die Antragstellerin im Sinne des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO antragsbefugt. Es ist möglich, dass sie durch die angegriffene Regelung in ihrer Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG verletzt wird, weil sie in ihrem als Prostitutionsstätte genehmigten Studio „Ruhepunkt-L.    “ (grundsätzlich) erotische Massagen anbietet.

Der Antrag ist auch begründet. Nach § 47 Abs. 6 VwGO kann das Normenkontrollgericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist.

Vgl. zu den Entscheidungsmaßstäben BVerwG, Beschluss vom 25. Februar 2015 – 4 VR 5.14 -, juris, Rn. 12; OVG NRW, Beschlüsse vom 6. April 2019 – 13 B 398/20.NE -, juris, Rn. 32, und vom 26. August 2019 – 4 B 1019/19.NE -, juris, Rn. 12; Nds. OVG, Beschluss vom 17. Februar 2020 – 2 MN 379/19 -, juris, Rn. 24, m. w. N.; Ziekow, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 47 Rn. 395.

Diese Voraussetzungen liegen vor.

1. Nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nur möglichen summarischen Prüfung ist davon auszugehen, dass sich das in § 10 Abs. 1 Nr. 2 CoronaSchVO enthaltene Verbot sexueller Dienstleistungen in einem Hauptsacheverfahren voraussichtlich als rechtswidrig erweisen wird. Die vollständige Untersagung aller als sexuelle Dienstleistungen im Sinne der Verordnung zu qualifizierenden sexuellen Handlungen verstößt in der gegenwärtigen Lage voraussichtlich gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

a. Der Senat hat in Bezug auf die von § 10 Abs. 1 Nr. 2 CoronaSchVO vom 10. Juni 2020 (GV. NRW S. 382a) erfassten sexuellen Dienstleistungen in Bordellen mit Beschluss vom 25. Juni 2020 – 13 B 800/20.NE -, juris, entschieden, dass es nicht zu beanstanden sei, wenn der Verordnungsgeber – unter Berücksichtigung des aktuellen Infektionsgeschehens – die Erbringung von sexuellen Dienstleistungen, wie sie üblicherweise in Bordellen angeboten werden, auf der Grundlage von §§ 32, 28 Abs. 1 IfSG im Verordnungswege untersage, um die Weiterverbreitung des Coronavirus einzudämmen. Dabei hat er maßgeblich darauf abgestellt hat, dass bei der gebotenen generalisierenden Betrachtung von der Erbringung sexueller Dienstleistungen, die typischerweise in Bordellen und in ähnlichen (ortsfesten und mobilen) Einrichtungen angeboten würden, wegen des insoweit notwendigerweise herzustellenden engsten Körperkontakts mit häufig wechselnden Partnern ein erhöhtes Infektionsrisiko insbesondere durch virushaltige Tröpfchen und Aerosole ausgehe.

Vgl. insoweit auch Nds. OVG, Beschluss vom 28. August 2020 – 13 MN 307/20 -, juris, Rn. 21 f.

b. Andererseits gilt, dass Art und Umfang der in den jeweiligen Coronaschutzverordnungen niedergelegten Schutzmaßnahmen (spätestens) bei jeder Fortschreibung bzw. Neufassung daraufhin zu überprüfen sind, ob es deren uneingeschränkter Beibehaltung noch bedarf. Dabei erlangt neben der Entwicklung des Infektionsgeschehens und der Berücksichtigung etwaiger neuer Erkenntnisse das Gesamtkonzept des Verordnungsgebers wesentliche Bedeutung.

Vgl. z. B. Senatsbeschlüsse vom 22. Juli 2020 – 13 B 886/20.NE -, juris, Rn. 72, und vom 8. Juli 2020 – 13 B 870/20.NE -, juris, Rn. 56; siehe zudem BVerfG, Kammerbeschluss vom 28. April 2020 – 1 BvR 899/20 -, juris, Rn. 13.

Diesen Vorgaben wird die Untersagung (sämtlicher) sexueller Dienstleistungen in und außerhalb von Prostitutionsstätten, Bordellen und ähnlichen Einrichtungen in der seit dem 1. September 2020 geltenden Fassung des § 10 Abs. 1 Nr. 2 CoronaSchVO aller Voraussicht nach nicht mehr gerecht. Es spricht schon im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ganz Überwiegendes dafür, dass die vollständige Untersagung aller sexueller Dienstleistungen keine notwendige Schutzmaßnahme im Sinne von § 28 Abs. 1 IfSG mehr ist, welche die damit verbundenen Eingriffe in Art. 12 Abs. 1 GG bzw. Art. 2 Abs. 1 GG und gegebenenfalls Art. 14 Abs. 1 GG umfassend rechtfertigt.

aa. Der Begriff der sexuellen Dienstleistung wird in der Coronaschutzverordnung nicht legal definiert. Nach dem im vorliegenden Verfahren klar zum Ausdruck gebrachten Willen des Verordnungsgebers orientiert er sich aber an der im Prostituiertenschutzgesetz niedergelegten Begriffsbestimmung. Danach ist eine sexuelle Dienstleistung eine sexuelle Handlung mindestens einer Person an oder vor mindestens einer anderen unmittelbar anwesenden Person gegen Entgelt oder das Zulassen einer sexuellen Handlung an oder vor der eigenen Person gegen Entgelt (§ 2 Abs. 1 Satz 1 ProstSchG). Dieses Begriffsverständnis, das offenkundig auch im Wortlaut der angegriffenen Norm einen Niederschlag findet, hat der Senat seiner Entscheidung zu Grunde zu legen. Eine unter Berücksichtigung des Schutzzwecks der Coronaschutzverordnung vorgenommene teleologische Reduktion von § 10 Abs. 1 Nr. 2 CoronaSchVO ist ihm aufgrund dieser Grundentscheidung des Verordnungsgebers verwehrt.

So im Ergebnis auch VG Düsseldorf, Beschluss vom 30. Juni 2020 – 7 L 1186/20 -, juris, Rn. 27; anders VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 19. Mai 2020 – 20 L 589/20 -, juris, Rn. 21 ff.

Davon ausgehend umfasst der Begriff der sexuellen Dienstleistung ein breites Spektrum von Leistungen. Er erstreckt sich nicht nur auf den vaginalen, oralen oder analen Geschlechtsverkehr, sondern auf alle üblicherweise der Prostitution zugerechneten Formen sexueller Handlungen gegen Entgelt. Dies gilt unabhängig davon, ob es dabei zu körperlichen Berührungen oder zur Ausübung des Geschlechtsverkehrs zwischen den beteiligten Personen kommt.

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Vgl. BT-Drs. 18/8556, S. 59; Rixen, in: GewArch Beilage WiVerw Nr. 02/2018, 127 (142).

Damit unterfallen ihm beispielsweise auch BDSD-/Domina-Dienstleistungen, der sexuellen Befriedigung dienende erotische Massagen und – soweit es um die Erbringung sexueller Handlungen geht – auch Escort-Serviceleistungen oder die behindertengerechte Sexualbegleitung/-assistenz.

Im Übrigen differenziert § 10 Abs. 1 Nr. 2 CoronaSchVO nicht nach den weiteren Umständen und Bedingungen der Dienstleistungserbringung, also etwa danach, an welchem Ort diese stattfindet, ob sie von der oder dem Prostituierten nur gelegentlich oder regelmäßig erbracht wird, ob häufig wechselnde Kundschaft bedient wird oder wie viele Personen an den sexuellen Handlungen beteiligt sind.

bb. Der Senat vermag gegenwärtig nicht zu erkennen, dass der vom Verordnungsgeber verfolgte Zweck, die Weiterverbreitung des Coronavirus einzudämmen, um damit – neben der Vermeidung unmittelbarer Gefahren für Leib und Leben einer Vielzahl von Personen – die Gefahr einer Überforderung des Gesundheitssystems zu vermindern, nicht mit milderen Beschränkungen als einem solchermaßen umfassenden Verbot ebenso effektiv gefördert werden könnte.

Zwar ist das Infektionsgeschehen nach den maßgeblichen Feststellungen des Robert Koch-Instituts noch immer sehr dynamisch und wird die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung als hoch, für Risikogruppen als sehr hoch eingeschätzt. Auch gilt es eine schnelle Zunahme der Infektionszahlen weiterhin zu vermeiden, um eine (zu) starke Belastung des öffentlichen Gesundheitswesens zu verhindern.

Vgl. Robert Koch-Institut, Aktueller Lage-/Situationsbericht des RKI zu COVID-19, abrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Gesamt.html? nn=13490888, Stand: 7. September 2020.

Gleichwohl hat der Verordnungsgeber im Rahmen seines Stufenplans zur Rückkehr in eine verantwortungsvolle Normalität mittlerweile angesichts eines insgesamt rückläufigen Infektionsgeschehens weitgehende Lockerungen in nahezu allen gesellschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen Bereichen zugelassen, obgleich diese weiterhin das Risiko bergen, das Coronavirus auch in größerem Umfang weiterzuverbreiten. Er begegnet diesem Gefahrenpotenzial im Grundsatz durch die Beschränkung der Anzahl möglicher Kontakte und die Pflicht zur Einhaltung von Abstands- und Hygieneregeln, ergänzt um Vorkehrungen zur Rückverfolgbarkeit von Kontakten. Lediglich wenige (Groß-)Veranstaltungen sind noch immer gänzlich untersagt (vgl. z. B. §§ 8 Abs. 6, 9 Abs. 4, 10 Abs. 1 Nr. 1 CoronaSchVO), weil dort die Einhaltung dieser Vorgaben aus Sicht des Verordnungsgebers nicht möglich erscheint.

Bereits in der Coronaschutzverordnung vom 1. Juli 2020 (GV. NRW. S. 456b) in der Fassung vom 12. Juli 2020 (GV. NRW. S. 524a) waren zahlreiche, nach wie vor geltende Lockungen vorgesehen. Beispielsweise

– ist die Erstellung eines Hygiene- und Infektionsschutzkonzepts bei Konzerten und Aufführungen erst ab einer Zuschauerzahl von 300 statt von 100 Personen erforderlich (§ 8 Abs. 2 CoronaSchVO),

– ist die nicht-kontaktfreie Ausübung des Sport-, Trainings- und Wettbewerbsbetriebs ohne Mindestabstand während der Sportausübung in geschlossenen Räumen mit bis zu 30 statt nur mit 10 Personen erlaubt (§ 9 Abs. 2 CoronaSchVO),

– sind Feiern aus herausragendem Anlass ohne Einhaltung des Abstandsgebots und der Pflicht zum Tragen einer Mund-Nase-Bedeckung mit bis zu 150 statt nur mit 50 Teilnehmern zulässig, wenn Hygienevorkehrungen und die Kontaktpersonennachverfolgung sichergestellt sind (§ 13 Abs. 5 CoronaSchVO).

Vgl. ferner zu den Lockerungen im Juni die Pressemitteilung der Landesregierung vom 15. Juni 2020, Neue Fassung der Corona-Schutzverordnung mit weiteren Erleichterungen gilt ab Montag, abrufbar unter: https://www.land.nrw/de/pressemitteilung/neue-fassung-der-corona-schutzverordnung-mit-weiteren-erleichterungen-gilt-ab, sowie zu den Lockerungen ab Mai die Pressemitteilung der Landesregierung vom 6. Mai 2020, Ministerpräsident Armin Laschet stellt Nordrhein-Westfalen-Plan vor, abrufbar unter: https://www.land.nrw/de/pressemitteilung/ministerpraesident-armin-laschet-stellt-nordrhein-westfalen-plan-vor.

Vor diesem Hintergrund besteht das Regelungsziel der Coronaschutzverordnung mutmaßlich nicht (mehr) darin, der spezifischen Ansteckungsgefahr von bestimmten Einzelkontakten zu begegnen, sondern einer dynamischen Entwicklung des Infektionsgeschehens entgegenzuwirken, indem – im Grundsatz – das persönliche Zusammentreffen einer Vielzahl von Menschen entweder untersagt oder unter Anordnung von Schutzvorkehrungen erlaubt wird. Mit diesem Ansatz ist die in § 10 Abs. 1 Nr. 2 CoronaSchVO niedergelegte vollständige Untersagung sexueller Dienstleistung voraussichtlich nicht mehr vereinbar.

Der Antragsgegner hat weder schlüssig dargelegt noch drängt sich sonst auf, warum bei der Erbringung einer sexuellen Dienstleistung – gleich welcher Art sie ist und unter welchen Umständen sie erfolgt – nach wie vor ein vollständiger Ausschluss von Infektionsgefahren erforderlich ist, wohingegen in anderen Bereichen hingenommen wird, dass das Verbreitungsrisiko lediglich reduziert wird.

(1) Tragfähige Anhaltspunkte dafür, dass bei jeder sexuellen Dienstleistung von einem spezifischen Gefahrenpotenzial dergestalt auszugehen ist, dass einzelne Infizierte innerhalb kurzer Zeit zahlreiche weitere Personen anstecken, sind nicht ersichtlich. So gelangt das Robert Koch-Institut in einer Einschätzung für den Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen e. V., Berlin, vom 1. August 2020 zu der Feststellung, es gebe bisher keine Evidenz zu Übertragungsrisiken von Sexarbeitern bzw. Sexarbeiterinnen im Kontext von SARS-CoV-2 und Erkenntnisse dazu, dass es sich bei der Erbringung sexueller Dienstleistungen um sog. „Superspreading-Events“ handele, lägen bislang nicht vor.

Vgl. dazu Nds. OVG, Beschluss vom 28. August 2020 – 13 MN 307/20 -, juris, Rn. 23; OVG Rh.-Pf., Beschluss vom 20. August 2020 – 6 B 10868/20 -, juris, Rn. 29.

Jedenfalls dürfte bei den regelmäßig auf zwei Personen beschränkten sexuellen Kontakten die Gefahr zahlloser Infektionsketten, auf deren Vermeidung es dem Verordnungsgeber offenbar ankommt, wohl nicht in gleichem Maße bestehen wie bei einigen der von ihm zugelassenen Veranstaltungen mit einer Vielzahl von über längere Zeit in geschlossenen Räumen anwesenden Personen oder anderen Einrichtungen, deren Öffnung für den Publikumsverkehr (wieder) gestattet ist. Zu einer vom Antragsgegner angesprochenen erhöhten Atemaktivität und dem damit verbundenen vermehrten Ausstoß von möglicherweise virushaltigen Aerosolen kommt es im Übrigen gleichermaßen in Sportstätten, wo – wie dargelegt – die Ausübung nicht-kontaktfreier Sportarten gestattet ist, und in Fitnessstudios. In geschlossenen Räumen, wie in Konzert- oder Theatersälen, in denen sich eine Vielzahl von Personen – bis zu den in der Verordnung bestimmten Grenzen – länger aufhält, dürfte das Volumen an Aerosolen auch ohne körperliche Anstrengungen der Anwesenden regelmäßig größer sein als infolge einer erhöhten Atemaktivität während sexueller Handlungen von lediglich zwei Personen über eine zeitlich begrenzte Dauer. Es ist auch nicht ersichtlich, dass das mit dem Ausstoß von Aerosolen verbundene Risiko der Ansteckung bei sexuellen Handlungen zweier Personen deutlich größer ist als bei privaten Feiern mit bis zu 150 Personen, die zum Teil durch eine ausgelassene Atmosphäre mit Musik, Tanz und dem Konsum alkoholischer Getränke geprägt sind und nach Angaben des Robert Koch-Instituts landesweit als Ursache größerer und kleinerer Ausbruchsgeschehen gelten. Auch ist die durchschnittliche Verweildauer der Kunden regelmäßig nicht so lang wie zum Beispiel in den gegenwärtig ebenso von einem Öffnungsverbot betroffenen Diskotheken und Clubs, bei denen die gleichzeitige Anwesenheit einer Vielzahl von Personen hinzutritt.

Vgl. OVG Sachs.-Anh., Beschluss vom 3. September 2020 – 3 R 156/20 -, Abdruck S. 13.

Damit im Einklang steht der Befund, dass die Erbringung sexueller Dienstleistungen außerhalb von und teilweise auch in Prostitutionsstätten, Bordellen und ähnlichen Einrichtungen unter Einhaltung bestimmter Hygiene- und Infektionsschutzmaßnahmen in anderen Bundesländern wie in Thüringen, Bayern oder im Saarland mittlerweile wieder erlaubt ist, ohne dass ersichtlich wäre, dass die Lockerungen das Infektionsgeschehen bisher maßgeblich beeinflusst hätten.

(2) Vor diesem Hintergrund ist weiter auch nicht aufgezeigt, dass den verbleibenden Infektionsgefahren im Zusammenhang mit der Erbringung sexueller Dienstleistungen generell nicht bereits durch die Anordnung von begleitenden Hygiene- und Infektionsschutzmaßnahmen begegnet werden kann, wie dies bei anderen (erlaubten) Zusammenkünften der Fall ist und dort vom Verordnungsgeber für vertretbar erachtet wird. Insbesondere lässt sich im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht feststellen, dass Hygiene- und Schutzmaßnahmen, wie sie etwa in §§ 2a und 2b CoronaSchVO und in der Anlage zur CoronaSchVO für verschiedene (körpernahe) Dienstleistungen niedergelegt sind, typischerweise branchenweit nicht umsetzbar wären. Als derartige Vorgaben kämen etwa eine Pflicht zur Begrenzung der Zahl der gleichzeitig die sexuelle Dienstleistung in Anspruch nehmenden Kunden, Abstandsgebote zwischen gleichzeitig anwesenden Kunden in Anbahnungszonen, Reinigungs- und Desinfektionsintervalle für die Dienstleister, Vorgaben für eine regelmäßige Be- und Entlüftung sowie Reinigung und Desinfektion der Räumlichkeiten und eine Pflicht zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung sowohl durch die Dienstleister als auch durch den Kunden in Betracht.

Vgl. dazu Nds. OVG, Beschluss vom 28. August 2020 – 13 MN 307/20 -, juris, Rn. 28.

Dass solche Maßnahmen mit Blick auf die angestrebte Beherrschung des allgemeinen Infektionsgeschehens durch eine Reduzierung von Infektionsgefahren per se ungeeignet oder nicht ausreichend wären, erkennt der Senat nicht. Es ist auch nicht ersichtlich, dass die Einhaltung branchenspezifischer Schutzmaßnahmen darüber hinaus grundsätzlich dem Geschäftsmodell der Prostitution zuwider läuft. Ferner ist nicht davon auszugehen, dass die Erhebung von Kundenkontaktdaten und Aufenthaltszeiträumen branchenweit an der im Prostitutionsgewerbe üblicherweise eingeforderten Diskretion scheitern muss, zumal die Vorlage von geeigneten Ausweispapieren oder die (anonyme) Datenerhebung über einen QR-Code bereits diskutiert wird.

Vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 28. August 2020 – 13 MN 307/20 -, juris, Rn. 32; OVG Saarl., Beschluss vom 6. August 2020 – 2 B 258/20 -, juris, Rn. 16, 17 und 20.

Dem Antragsgegner ist voraussichtlich auch nicht in der Auffassung zu folgen, dass die Anordnung von Hygiene- und Infektionsschutzstandards in der Prostitutionsbranche schon deshalb ausscheidet, weil sich deren Einhaltung nicht effektiv kontrollieren lässt. Zwar dürfte richtig sein, dass eine solche Kontrolle, vor allem durch Dritte, während der Erbringung der sexuellen Dienstleistung an ihre Grenzen stößt. Es ist aber nicht ersichtlich, dass eine solche von vornherein ausscheidet. Gegen ein regelhaftes Vollzugsdefizit spricht bereits, dass viele Prostituierte, insbesondere wenn sie auf eigene Rechnung arbeiten, ebenso wie im Übrigen auch die Kunden ein ureigenes Interesse an einer weitgehenden Verringerung des Ansteckungsrisikos haben dürften. Ebenso muss die Beachtung der einschlägigen Vorgaben allgemein im Interesse der Anbieter von sexuellen Dienstleistungen wie auch der Betreiber von Prostitutionsstätten liegen, um erneute Maßnahmen des Verordnungsgebers zu vermeiden. Im Einzelfall dürfte die bei Nichteinhaltung der Standards gegebenenfalls drohende Schließung des Betriebs bzw. die Untersagung der Dienstleistung mit Blick auf die wirtschaftlichen Interessen der davon Betroffenen einen Anreiz für regelkonformes Verhalten bieten.

Vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 28. August 2020 – 13 MN 307/20 -, juris, Rn. 30 ff.; OVG Saarl., Beschluss vom 6. August 2020 – 2 B 258/20 -, juris, Rn. 17; anders OVG Rh.-Pf., Beschluss vom 20. August 2020 – 6 B 10868/20 -, juris, Rn. 11.

(3) Die Untersagung aller sexuellen Dienstleistungen lässt sich voraussichtlich auch nicht aus Gründen der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit rechtfertigen. Der Senat verkennt nicht, dass die Aufstellung im Verwaltungsvollzug handhabbarer Abgrenzungskriterien eine Herausforderung darstellt. Dieser Umstand entbindet den Verordnungsgeber aber mit Blick auf den mit einer vollständigen Untersagung verbundenen Eingriff in die Berufsfreiheit nicht (mehr) von der Verpflichtung, die den Eingriff aus seiner Sicht rechtfertigenden – nicht offensichtlichen – Infektionsrisiken darzulegen und etwaige Risiken auch mit Blick auf andere (erlaubte) Dienstleistungen bzw. Zusammenkünfte zu bewerten.

cc. Die Untersagungsanordnung in § 10 Abs. 1 Nr. 2 CoronaSchVO ist in vollem Umfang vorläufig außer Vollzug zu setzen. Der festgestellte Mangel erfasst das Regelungskonzept des Verordnungsgebers in Gänze, weil er sexuelle Dienstleistungen, allein an die Tätigkeit anknüpfend, umfassend verbietet. Überdies hat der Senat keinen Anlass zu der Annahme, dass ein (verbleibendes) Verbot sexueller Dienstleistungen allein außerhalb von Prostitutionsstätten, Bordellen und ähnlichen Einrichtungen dem mutmaßlichen Willen des Verordnungsgebers entspräche.

Vgl. zur Teilbarkeit schon Senatsbeschluss vom 6. Juli 2020 – 13 B 940/20.NE -, juris, Rn. 71 f., m. w. N.

2. Schließlich überwiegen auch die für die einstweilige Außervollzugsetzung sprechenden Gründe die gegenläufigen für den weiteren Vollzug der Verordnung streitenden Interessen.

Dabei erlangen die erörterten Erfolgsaussichten des in der Hauptsache gestellten oder zu stellenden Normenkontrollantrags eine umso größere Bedeutung für die Entscheidung im Normenkontrolleilverfahren, je kürzer die Geltungsdauer der in der Hauptsache angegriffenen Norm und je geringer damit die Wahrscheinlichkeit ist, dass eine Entscheidung über den Normenkontrollantrag in der Hauptsache noch vor dem Außerkrafttreten der Norm ergehen kann. Das muss insbesondere dann gelten, wenn die angegriffene Norm erhebliche Grundrechtseingriffe bewirkt, sodass sich das Normenkontrolleilverfahren (ausnahmsweise) als zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG geboten erweist.

Vgl. z. B. Bay. VGH, Beschluss vom 30. März 2020 – 20 NE 20.632 -, juris, Rn. 31; Nds. OVG, Beschluss vom 11. Mai 2020 – 13 MN 143/20 -, juris, Rn. 36.

Hier wiegt das Interesse an einer einstweiligen Außervollzugsetzung schwer. § 10 Abs. 1 Nr. 2 CoronaSchVO ist für die Betroffenen mit erheblichen Grundrechtseingriffen verbunden. Annähernd vergleichbar gewichtige öffentliche Interessen stehen der Außervollzugsetzung nicht entgegen. Diese führt nicht dazu, dass Untersagungsanordnungen oder Anordnungen zur Einhaltung von Hygiene- und Infektionsschutzstandards zur Eindämmung der Verbreitung des Coronavirus nicht mehr ergriffen werden dürften. Dem Antragsgegner bleibt es unbenommen, auf belastbarer Grundlage die Erbringung sexueller Dienstleistungen zu reglementieren. Für den Übergangszeitraum dürfte zumindest § 12 Abs. 2 Satz 2 CoronaSchVO eingreifen, wonach allgemeine Hygiene- und Infektionsschutzregeln zu beachten sind.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 2 GKG. Da die angegriffene Regelung mit Ablauf des 15. September 2020 außer Kraft tritt, zielt der Antrag inhaltlich auf eine Vorwegnahme der Hauptsache, sodass eine Reduzierung des Auffangstreitwerts für das Eilverfahren nicht veranlasst ist.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).

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