BUNDESFINANZHOF
Az.: VI R 42/94
Urteil vom 24.08.2001
Vorinstanz: FG Düsseldorf
Leitsatz:
Ein Strafverfahren hat nur dann Einfluss auf die für die Hinterziehungszinsen geltende Festsetzungsfrist, wenn es bis zum Ablauf des Jahres eingeleitet wird, in dem die hinterzogenen Steuern unanfechtbar festgesetzt wurden.
Norm: § 239 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO 1977
Gründe
I.
Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin), eine Kapitalgesellschaft, übergab dem Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt –FA–) durch ihren Steuerberater am 24. Februar 1987 vor Beginn einer Lohnsteuer-Außenprüfung berichtigte Lohnsteuer-Anmeldungen für die Zeiträume IV/1983, 12/1984 und IV/1985, die zuvor nicht angemeldete Aushilfslöhne auswiesen. Sie bezahlte kurzfristig die nachgemeldeten Steuerbeträge. Der Bericht über die Lohnsteuer-Außenprüfung vom 23. März 1987 nahm auf die Nachmeldung der Steuerabzugsbeträge Bezug und führte im Übrigen zu keinen Beanstandungen. Das FA hob deshalb mit Bescheid vom 26. März 1987 den Vorbehalt der Nachprüfung hinsichtlich der Lohnsteuer-Anmeldungen 1984 bis 1986 auf, wobei es darauf hinwies, dass die Pauschalsteuer nach § 40a des Einkommensteuergesetzes (EStG) durch Abgabe berichtigter Lohnsteuer-Anmeldungen nachgemeldet wurde.
Am 27. Januar 1988 fertigte das FA für Steuerstrafsachen und Steuerfahndung einen Aktenvermerk, wonach ein Strafverfahren gegen den Geschäftsführer der Klägerin wegen des Verdachts der fortgesetzten Steuerhinterziehung durch Abgabe unrichtiger Lohnsteuer-Anmeldungen nach § 397 der Abgabenordnung (AO 1977) eingeleitet werde. Schon am 26. Januar 1988 hatte dieses FA formularmäßig ein Schreiben an den Geschäftsführer der Klägerin verfügt, in dem auf dessen Selbstanzeige Bezug genommen und darauf hingewiesen wurde, dass „endgültige Straffreiheit nach § 371 Abs. 3 AO nur eintritt“, wenn die verkürzten Beträge innerhalb der vom FA festgesetzten bzw. festzusetzenden Zahlungsfrist entrichtet werden. Zu diesem Zeitpunkt waren die nachgemeldeten Steuern seit fast einem Jahr bezahlt.
Ebenfalls am 26. Januar 1988 hatte das FA für Steuerstrafsachen und Steuerfahndung auch ein Schreiben an das beklagte Festsetzungsfinanzamt verfügt, wonach die Selbstanzeige „gemäß § 371 Abs. 3 AO vorläufig als rechtswirksam anerkannt“ werde. Ferner wurde das FA in diesem Schreiben formularmäßig „soweit noch nicht geschehen“ um Setzung einer angemessenen Zahlungsfrist und nach Fristablauf um Mitteilung gebeten, ob diese eingehalten wurde. Nachdem das FA die rechtzeitige Entrichtung der nachgemeldeten Mehrsteuern mitgeteilt hatte, gab das FA für Steuerstrafsachen und Steuerfahndung dem Geschäftsführer der Klägerin mit Schreiben vom 23. August 1988 bekannt, durch die fristgerechte Nachzahlung der aufgrund seiner Selbstanzeige festgesetzten verkürzten Steuern sei „endgültig Straffreiheit gemäß § 371 Abs. 3 AO eingetreten“.
Am 11. Januar 1989 erließ das FA wegen der nachgemeldeten Lohnsteuerbeträge gegen die Klägerin einen Bescheid über die Festsetzung von Hinterziehungszinsen in Höhe von insgesamt 685 DM.
Nach erfolglosem Einspruchsverfahren machte die Klägerin mit ihrer Klage geltend, die Einleitung des Strafverfahrens zu dem Zweck der bloßen Überprüfung der Selbstanzeige sei unzulässig gewesen und habe die einjährige Festsetzungsfrist für Hinterziehungszinsen nicht verlängern können.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt, da der Zinsanspruch im Zeitpunkt seiner Festsetzung bereits verjährt gewesen sei. Die Finanzbehörde habe im Streitfall rechtswidrig gehandelt, da sie ein Strafverfahren eingeleitet habe, obwohl sie bewusst auf eine Vorprüfung verzichtet habe, ob gegen die betreffende Person „strafrechtlich vorzugehen“ sei (§ 397 Abs. 1 a.E. AO 1977). Im Streitfall habe kein ernst zu nehmender Anlass bestanden, an der Wirksamkeit der Selbstanzeige des Geschäftsführers der Klägerin zu zweifeln. Das Strafverfahren sei nach der Einlassung des FA nur eingeleitet worden, um die Wirksamkeit der strafbefreienden Selbstanzeige zu überprüfen. Durch die ausdrückliche Erklärung vom 27. Januar 1988 sei das Strafverfahren zwar formell wirksam eingeleitet worden. Materiell-rechtlich habe dessen Einleitung jedoch nicht dem Ziel gedient, gegen jemanden wegen einer Steuerstraftat „strafrechtlich vorzugehen“ i.S. des § 397 Abs. 1 a.E. AO 1977, sondern nur der abschließenden Überprüfung der aufgrund der Selbstanzeige eingetretenen Straffreiheit. Die bloß formelle Verfügung, das Strafverfahren sei eingeleitet, genüge nicht für eine Verlängerung der Festsetzungsfrist gemäß § 239 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO 1977. Erforderlich sei vielmehr eine den gesetzlichen Anforderungen entsprechende rechtmäßige Einleitungsmaßnahme. Da diese im Streitfall fehle, habe die Festsetzungsfrist nicht erst nach dem formellen Abschluss des rechtswidrig eingeleiteten Strafverfahrens, sondern nach Ablauf des Jahres 1987 zu laufen begonnen.
Dagegen wendet sich das FA mit seiner Revision, mit der es die Verletzung materiellen Rechts rügt. Zur Begründung trägt das FA vor: Im Streitfall sei ein Steuerstrafverfahren wirksam eingeleitet worden. Die formell zutreffende Einleitung eines Steuerstrafverfahrens genüge für eine Verlängerung der Festsetzungsfrist nach § 239 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO 1977. Die Einleitung des Strafverfahrens habe der Überprüfung gedient, ob die Selbstanzeige vollständig gewesen sei und ob die Voraussetzungen des § 371 Abs. 2 und Abs. 3 AO 1977 vorgelegen hätten. Diese Entscheidung sei nach dem Organisationsaufbau und den vorliegenden Weisungen der Finanzverwaltung allein der Strafsachenstelle im Rahmen eines steuerstraf- bzw. bußgeldrechtlichen Verfahrens vorbehalten. Die Überprüfung einer Selbstanzeige erfolge generell im Rahmen eines straf- bzw. bußgeldrechtlichen Ermittlungsverfahrens, wenn sich aufgrund der Anzeige der Verdacht einer Steuerstraftat bzw. einer Steuerordnungswidrigkeit ergebe. Im Übrigen sei die Einleitung eines Strafverfahrens nach § 397 AO 1977 kein Verwaltungsakt des Besteuerungsverfahrens und deshalb der rechtlichen Überprüfung durch das FG entzogen. Das FG sei daher auch nicht befugt gewesen, über die Rechtswidrigkeit der Einleitung eines Strafverfahrens als Vorfrage zu entscheiden.
Das FA beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
II.
Die Revision ist unbegründet; sie war deshalb zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung –FGO–). Der Bescheid über die Festsetzung von Hinterziehungszinsen vom 11. Januar 1989 war rechtswidrig, da die Festsetzungsfrist für diese Zinsen nach § 239 Abs. 1 AO 1977 mit Ablauf des Jahres 1988 endete.
Die einjährige Festsetzungsfrist (§ 239 Abs. 1 Satz 1 AO 1977) begann gemäß § 239 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 1. Halbsatz AO 1977 mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Festsetzung der hinterzogenen Steuern unanfechtbar geworden ist, im Streitfall also mit Ablauf des Jahres 1987, in dem die betreffende Lohnsteuer nachgemeldet und der Vorbehalt der Nachprüfung hinsichtlich dieser Steueranmeldungen aufgehoben wurde.
Dabei bedarf es keiner Entscheidung, ob die im Jahr 1988 getroffenen Maßnahmen des FA für Steuerstrafsachen und Steuerfahndung in rechtmäßiger Weise ein Strafverfahren i.S. des § 239 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 2. Halbsatz AO 1977 einleiteten. Selbst wenn dies der Fall war, führten sie nicht zu einer Verlängerung der Festsetzungsfrist, da sie erst nach Ablauf des Jahres 1987 erfolgten, in dem die Festsetzungsfrist gemäß § 239 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 1. Halbsatz AO 1977 begann. § 239 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 2. Halbsatz AO 1977 betrifft nur Strafverfahren, die bis zum Ablauf des Jahres eingeleitet werden, in dem hinterzogene Steuern unanfechtbar festgesetzt werden (ebenso FG Köln, Beschluss vom 4. Dezember 1992 6 V 669/92, Entscheidungen der Finanzgerichte –EFG– 1993, 282, und Urteil vom 23. August 1996 6 K 3936/92, EFG 1997, 853; Klein/Rüsken, Abgabenordnung, Kommentar, 7. Aufl., § 239 Anm. 6; Hundt-Eßwein in Beermann, Steuerliches Verfahrensrecht, § 239 AO 1977 Rz. 15; Schwarz, Kommentar zur Abgabenordnung, 10. Aufl., § 239 Rz. 6).
Dies ergibt sich zum einen aus dem Wortlaut des § 239 Abs. 1 Satz 2 AO 1977. Diese Vorschrift regelt den Beginn der Festsetzungsfrist. Sind hinterzogene Steuern unanfechtbar festgesetzt worden (§ 239 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 1. Halbsatz AO 1977), so beginnt die Festsetzungsfrist nach dem Wortlaut des § 239 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 2. Halbsatz AO 1977 nicht vor Ablauf des Kalenderjahres, in dem ein –bereits– „eingeleitetes“ Strafverfahren rechtskräftig abgeschlossen worden ist. Diese Bestimmung betrifft demnach nur Strafverfahren, die bis zum Ablauf des Jahres eingeleitet wurden, in dem hinterzogene Steuern unanfechtbar festgesetzt wurden. Ist zu diesem Zeitpunkt noch kein Strafverfahren eingeleitet worden, so beginnt die Festsetzungsfrist nach Maßgabe des § 239 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 1. Halbsatz AO 1977. Die spätere Einleitung eines Strafverfahrens hat dann keinen Einfluss auf die Festsetzungsfrist.
Dies wird durch die Gesetzessystematik bestätigt. Ist bis zum Ablauf des Kalenderjahres, in dem hinterzogene Steuern unanfechtbar festgesetzt wurden, bereits ein Strafverfahren eingeleitet, so hat dies nach § 239 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 2. Halbsatz AO 1977 eine Anlaufhemmung zur Folge. In diesen Fällen beginnt die Festsetzungsfrist nicht vor Abschluss des Strafverfahrens zu laufen. Diese Vorschrift geht aber ins Leere, wenn die Festsetzungsfrist –wie im Streitfall– bereits zu laufen begonnen hat, bevor ggf. ein Strafverfahren eingeleitet wurde. In einem solchen Fall käme allenfalls eine Hemmung oder Unterbrechung der Verjährung in Betracht. Eine derartige Hemmung oder Unterbrechung der Verjährung sieht § 239 Abs. 1 Satz 2 AO 1977 jedoch nicht vor. Vielmehr ist eine Ablaufhemmung in § 239 Abs. 1 Satz 3 AO 1977 nur für Fälle des § 233a AO 1977 normiert.