Oberlandesgericht Stuttgart
Az.: 1 U 59/04
Urteil vom 14.09.2004
Vorinstanz: LG Stuttgart, Az.: 9 O 66/03
In Sachen wegen Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall hat der 1. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Stuttgart auf die mündliche Verhandlung vom 14. September 2004 für Recht erkannt:
1. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Einzelrichters der 9. Zivilkammer des Landgerichts Stuttgart vom 14. April 2004 (9 O 66/03) abgeändert und die Beklagte verurteilt, an die Klägerin 14.940,36 € nebst 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 11.158,29 € seit 4. Mai 2002 und aus 3.782,07 € seit 19. Juli 2002 zu bezahlen.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Streitwert des Berufungsverfahrens: 14.940,36 €
– Von der Darstellung der tatsächlichen Feststellungen wird
abgesehen, §§ 540 Abs. 2, 313 a Abs. 1 Satz 1 ZPO. –
Gründe:
Das zulässige Rechtsmittel der Klägerin ist begründet. Der Klägerin steht aus übergegangenem Recht gegen die Beklagte ein Schadensersatzanspruch in der titulierten Höhe zu, § 7 Abs. 1 StVG, § 3 Nr. 1, 2 PflVG i.V.m. § 6 Abs. 1 EFZG.
1.
Zwischen den Parteien ist unstreitig, dass der Versicherungsnehmer der Beklagten den streitgegenständlichen Verkehrsunfall in C. am 15. Juni 2001 allein verursacht hat, indem er gegen 12.20 Uhr mit seinem PKW von rechts aus einer wartepflichtigen Nebenstraße in die vorfahrtsberechtigte Hauptstraße einbog und mit dem auf der Hauptstraße fahrenden, vom Arbeitnehmer der Klägerin gelenkten Fahrzeug auf Höhe des rechten Hinterrads zusammenstieß. Dadurch drehte sich das Fahrzeug des Arbeitnehmers der Klägerin und stieß gegen den Bordstein der rechten Fahrbahnseite. Nicht im Streit steht ferner, dass die Klägerin in der Folgezeit den mit der Klage geltend gemachten Betrag im Wege der Lohnfortzahlung nach dem Entgeltfortzahlungsgesetz an ihren Arbeitnehmer entrichtete.
2.
Die Parteien vertreten gegensätzliche Standpunkte allein zur Frage, ob dieser Verkehrsunfall ursächlich dafür war, dass der Arbeitnehmer der Klägerin eine Brustwirbelsäulentorsion, ein Halswirbelsäulenschleudertrauma sowie eine posttraumatische Lumboischialgie erlitt und deswegen bis 1. April 2002 arbeitsunfähig war. Obwohl dies weder kraftfahrzeugtechnisch noch medizinisch nachgewiesen werden konnte, ist der Senat – anders als das Landgericht – davon überzeugt, dass die gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Arbeitnehmers der Klägerin auf den vom Versicherungsnehmer der Beklagten verursachten Unfall vom 15. Juni 2001 zurückzuführen sind.
a) Durch die eingeholten bzw. vorgelegten Gutachten konnten zwar objektivierbare gesundheitliche Beeinträchtigungen des Arbeitnehmers der Klägerin und deren Unfallursächlichkeit nicht festgestellt werden.
aa) In seinem mündlich erstatteten kraftfahrzeugtechnischen Gutachten ist Dipl.-Ing. K. unter ergänzender Bezugnahme auf sein mündliches Gutachten in dem durch Klagerücknahme beendeten Vorprozess, in dem der Arbeitnehmer der Klägerin die Beklagte auf Schmerzensgeld und Ersatz des ihm entstandenen materiellen Schadens in Anspruch genommen hatte, zu dem Ergebnis gelangt, dass die Unfallrekonstruktion anhand der gefertigten Lichtbilder auf Kräfte im sog. „Harmlosigkeitsbereich“ schließen lasse. Nach seiner Berechnung liegt die stoßbedingte Geschwindigkeitsänderung in einer Größenordnung von höchstens 15 km/h. Die auf den Körper des Klägers bei dem Aufprall einwirkende Maximalbeschleunigung gab er bei einer Stoßzeit von 0,1 Sekunden mit dem 4,25-fachen der Erdbeschleunigung an, wobei wahrscheinlicher sei, dass dieser Wert lediglich im Bereich der 3,4-fachen Erdbeschleunigung liege. Seiner Ansicht nach sind die vom Arbeitnehmer der Klägerin geklagten Beschwerden angesichts der mechanischen Beanspruchung aus kraftfahrzeugtechnischer Sicht mit dem Unfallhergang nicht zu erklären.
bb) Ein von der Beklagten vorgelegtes Privatgutachten eines Facharztes für Chirurgie und Unfallchirurgie kommt aus medizinischer Sicht zu dem Ergebnis, dass unfallspezifische Verletzungen nicht nachweisbar seien. Grundlage dieser Beurteilung waren eine Auswertung der klinischen Befunde und der vorhandenen Röntgenbilder sowie eine kraftfahrzeugtechnische Analyse, nach der eine Belastung mit überwiegender Querbelastung bis zum 2,3-fachen der Erdbeschleunigung vorgelegen habe. Ferner ist vermerkt, dass Hinweise zu Vorerkrankungen nicht vorlägen. Hiermit in Einklang zu bringen ist das im ersten Rechtszug eingeholte unfallchirurgische Sachverständigengutachten von Prof. Dr. /Dr. vom 5. Februar 2004. Dieses ist nach einer eingehenden klinischen und radiologischen Untersuchung sowie unter Auswertung der vorhandenen Krankenunterlagen zu dem Ergebnis gelangt, dass unter biomechanischer Betrachtung der Unfall nicht geeignet war, Verletzungen insbesondere auch an der Lendenwirbelsäule, ihrem Bandapparat und den Bandscheiben zu verursachen. Die kollisionsmechanisch ermittelte Krafteinleitung in das Achsenorgan liege weit unter den als verletzungsinduzierend zu wertenden Grenzbereichen.
b) Gleichwohl ist der Senat unter Berücksichtigung der Besonderheiten des vorliegenden Falles davon überzeugt, dass die Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers der Klägerin auf den streitgegenständlichen Verkehrsunfall zurückzuführen ist.
aa) Der Bundesgerichtshof (Urteil vom 28. Januar 2003 – VI ZR 139/02, NZV 2000, 167) hat der Ansicht eine Absage erteilt, wonach es bei Verletzungen im Halswirbelsäulenbereich eine sog. „Harmlosigkeitsgrenze“ gebe, die eine Bejahung der Unfallursächlichkeit generell ausschließe. Diese Meinung sei auch in Rechtsprechung und Schrifttum zunehmend auf Kritik gestoßen sei und werde insbesondere aus orthopädischer Sicht in Zweifel gezogen. Deswegen sei angesichts fehlender gesicherter medizinischer Erkenntnisse zu der Frage, ob und in welcher Weise Muskelanspannungen und Kopfdrehungen die Entstehung einer HWS-Distorsion beeinflussen könnten, die Einholung eines Gutachtens über die kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung dann entbehrlich, wenn ein Gericht auf Grund einer eingehenden medizinischen Begutachtung und einer ausführlichen Anhörung des Geschädigten in tatrichterlicher Würdigung die Überzeugung gewonnen habe, dass die Körperverletzung durch einen Unfall verursacht worden ist. Nach höchstrichterlicher Auffassung ist die Frage der Unfallursächlichkeit einer Halswirbelsäulenverletzung anhand der Umstände des Einzelfalls zu beantworten.
bb) Vor diesem rechtlichen Hintergrund ist der Senat unter Berücksichtigung der Angaben des Geschädigten sowie den Ausführungen in dem gerichtlich eingeholten unfallchirurgischen Sachverständigengutachten vom Vorliegen der geklagten Beschwerden und von deren Unfallursächlichkeit überzeugt.
(1) Der Arbeitnehmer der Klägerin hat als Zeuge ausgesagt, als er nach dem Unfall zu Hause angekommen sei, habe er sich etwas flatterig gefühlt und Schwindelgefühle gehabt. Sein Rücken sei mehr und mehr steif geworden und er habe sich nicht mehr bewegen können. Der Schmerz habe sich wie eine Art Muskelkater geäußert, den er am gesamten Rücken und auch unterhalb der Achselhöhle verspürt habe. Er habe daraufhin seine Frau verständigt, die ihn ins Krankenhaus gefahren habe. Dort sei er geröntgt worden, was zu dem Verdacht geführt habe, dass ein Brustwirbel gebrochen sei. Später habe sich der Verdacht als unbegründet erwiesen. Während der ersten zwei Wochen habe er unter einer Art Druckkopfschmerz gelitten, der sich hinten vom Nacken hochgezogen habe. Ferner habe der Unfall zu Schmerzen geführt, die vom Rücken in das linke Bein ausgestrahlt hätten. Als Folge hiervon habe er nicht lange stehen können. Bei längerem Stehen hätten sich starke Rückenschmerzen mit der beschriebenen Ausstrahlung in das linke Bein eingestellt. Er habe auch keine schweren Gegenstände heben können und sei in seiner Bewegungsfähigkeit stark eingeschränkt gewesen. Habe er länger als ein bis zwei Stunden gehen wollen, seien unerträgliche Schmerzen aufgetreten und er habe sich hinsetzen oder hinlegen müssen. In der Folgezeit habe ihn die Klägerin an einen anderen Arbeitsplatz versetzt, an dem er die Hälfte der Zeit im Sitzen arbeiten könne.
Indem das Landgericht davon ausgegangen ist, dass der Zeuge die geschilderten Beschwerden subjektiv als solche empfand, hat es ihm geglaubt. Anhaltspunkte dafür, dass der Zeuge die Unwahrheit gesagt haben könnte, vermag auch der Senat nicht zu erkennen, weswegen eine erneute Vernehmung des Zeugen nicht geboten ist. Die Angaben des Zeugen stehen darüber hinaus in Einklang mit weiteren Unterlagen. So ergibt sich insbesondere aus dem ärztlichen Bericht vom 10. Juli 2001, dass sich der Zeuge erstmals am 15. Juni 2001 um 13.55 Uhr – und somit schon eine knappe Stunde nach dem Verkehrunfall – in die krankenhausärztliche Behandlung begab, wo unter anderem eine Druckschmerzhaftigkeit über den Dornfortsätzen der Halswirbelsäule sowie an der oberen Brustwirbelsäule und eine schmerzbedingte nahezu vollständige Aufhebung der Halswirbelsäulenbeweglichkeit befundet wurde. Am Unfalltag wurde eine Distorsion der Halswirbelsäule ersten Grades sowie eine Prellung der Brustwirbelsäule diagnostiziert. Ferner lag der Verdacht auf das Vorliegen einer Fraktur des achten Brustwirbelkörpers vor, der erst durch eine spätere CT-Untersuchung ausgeräumt werden konnte. Für den 19. Juni 2001 ist eine noch enggradig eingeschränkte Beweglichkeit der Halswirbelsäule sowie ein Klopf- und Druckschmerz im mittleren Brustwirbelsäulenbereich vermerkt.
(2) Aufgrund dieser glaubhaften Angaben des Geschädigten und den Ausführungen im gerichtlich eingeholten unfallchirurgischen Sachverständigengutachten ist der Senat davon überzeugt, dass diese Beschwerden – und mithin die Arbeitsunfähigkeit des Geschädigten – auf den Verkehrsunfall zurückzuführen sind.
Die Gutachter haben festgestellt, dass an der Lendenwirbelsäule des Arbeitnehmers der Klägerin eine unfallunabhängige Schadensanlage in Form verbildender Veränderungen der knöchernen, Band- und Bandscheibenstrukturen bestand. Dies führte zu einer gewissen Einengung der segmentalen Nervenwurzeln mit der Folge, dass der üblicherweise um die Nervenwurzeln herum vorhandene „Reserveraum“ teilweise weitgehend aufgebraucht war. Unter diesen Gegebenheiten konnte schon eine zusätzliche Dysbalance ausreichen, um lokale Beschwerden in Form von – auch ausstrahlenden – Rückenschmerzen hervorzurufen. Eine solche muskuläre Dysbalance kann sich durch eine unfallnahe, zunächst schmerzbedingte Schonhaltung entwickelt haben, die im Zusammenhang mit der Schadensanlage zu Beschwerden führen konnte. Das Gutachten kommt zu dem Schluss, dass die Schadensanlage in Verbindung mit den Unfallfolgen zwar nicht zwangsläufig Beschwerden erwarten lässt, dass die vom Geschädigten geklagten Beschwerden aber auf dem Boden der dargelegten hypothetischen Kausalkette erklärbar sind.
(3) Damit stellt das Gutachten eine unfallunabhängige Schadensanlage im Lendenwirbelsäulenbereich fest, die ausnahmsweise schon bei einer durch eine bloße Schonhaltung hervorgerufenen muskulären Dysbalance zu den geklagten Beschwerden führen konnte. Angesichts dessen ist vorliegend ein medizinisch objektivierbarer Zustand gegeben, aus dem sich ergibt, dass die glaubhaften Angaben des Zeugen über seine Beschwerden medizinisch erklärbar sind. Auf dieser Grundlage konnte sich der Senat von der Ursächlichkeit des Unfalls für die geklagten Beschwerden und somit für die Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers der Klägerin überzeugen, weswegen die Beklagte antragsgemäß zu verurteilen war.
3.
Die Abänderung der angefochtenen Entscheidung hat zur Folge, dass die Beklagte die Kosten des Rechtsstreits in beiden Rechtszügen zu tragen hat, § 91 Abs. 1 ZPO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus den §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.
Die Revision wird nicht zugelassen, § 543 Abs. 2 ZPO. Die Bedeutung eines Verkehrsunfalls im sog. „Harmlosigkeitsbereich“ ist höchstrichterlich geklärt. Die hier aufgeworfenen Fragen betreffen allein die Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Einzelfall. Eine darüber hinausgehende Bedeutung ist nicht ersichtlich.