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Verkehrsunfall – Minderung der Erwerbsfähigkeit und nicht zumutbare Erwerbstätigkeit

BGH, Az.: VI ZR 97/71, Urteil vom 25.09.1973

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des 9. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Köln vom 16. März 1971 wird zurückgewiesen.

Die Kosten der Revision fallen dem Beklagten zur Last.

Von Rechts wegen

Tatbestand

Die Klägerin wurde am 7. August 1967 bei einem Verkehrsunfall verletzt, den der Beklagte mit seinem Kraftfahrzeug verschuldet hatte. Die Parteien sind sich darüber einig, dass der Beklagte der Klägerin grundsätzlich zum Schadenersatz verpflichtet ist.

Die Klägerin ist Ärztin. Sie ist mit einem Rechtsanwalt und Notar verheiratet und hat zwei Kinder. In den Jahren vor dem Unfall hat sie im Gesamtdurchschnitt etwa drei Monate im Jahr Landärzte in deren Praxis vertreten. Eine eigene Praxis hatte sie nicht. Eine solche hat sie erstmals am 2. Juni 1969, also längere Zeit nach dem Unfall, in ihrer Heimatstadt eröffnet.

Mit der Klage hat die Klägerin u.a. den Ausgleich von Verdienstausfall für die Zeit von Anfang 1968 bis zum 7. Dezember 1970 verlangt. Sie hat behauptet, infolge der erlittenen Verletzungen sei sie nicht mehr zur Vertretung von Landärzten in der Lage. Hierdurch entstehe ihr ein jährlicher Verdienstausfall von 10.000 DM. Die Klägerin hat die Ansicht vertreten, soweit sie nach Einrichtung der eigenen Praxis Einkommen erziele, dürfe dies auf ihren Anspruch wegen Verdienstausfalls nicht angerechnet werden, da die Einrichtung der eigenen Praxis, die erhebliche Investitionen gefordert habe, dem Beklagten nicht zugute kommen könne. Ergänzend hat sie behauptet, derzeit noch keinerlei Gewinn aus der Praxis zu erzielen.

Das Landgericht hat der Klägerin den geforderten Verdienstentgang im Wesentlichen nur für die Zeit bis zum 2. Juni 1969 (Eröffnung der eigenen Praxis) zugesprochen. Auf Berufung der Klägerin hat ihr das Oberlandesgericht u.a. auch für die Zeit ab 2. Juni 1969 Verdienstausfall zuerkannt. Mit der zugelassenen Revision wendet sich der Beklagte gegen das Berufungsurteil, soweit der Klägerin Verdienstausfall auch für die Zeit nach dem 2. Juni 1969 zugesprochen worden ist.

Entscheidungsgründe

Unter den Parteien ist nur noch im Streit, ob der zum Ersatz des Unfallschadens verpflichtete Beklagte der Klägerin auch für die Zeit vom 2. Juni 1969 bis 7. Dezember 1970 Verdienstausfall zu ersetzen hat. Das Berufungsgericht hat das im Ergebnis zu Recht bejaht.

I.

Das Berufungsgericht legt in tatsächlicher Hinsicht zugrunde, dass die Klägerin infolge der unfallbedingten Gesundheitsschäden für den hier in Frage stehenden Zeitraum nicht in der Lage war, Landärzte zu vertreten, wie sie es früher getan hatte. Es geht sodann davon aus, dass Einkünfte der eigenen Praxis nicht auf den der Klägerin zustehenden Schadensersatzanspruch von jährlich 8.400 DM angerechnet werden dürfen. Die Klägerin sei nicht gehalten gewesen, zur Schadensminderung die eigene Praxis zu eröffnen. Der entsprechenden Verpflichtung stehe entgegen, dass die Eröffnung der Praxis erhebliche geldliche Investitionen erfordert habe und die Steigerung des Arbeitseinsatzes der Klägerin um das drei- bis vierfache nach sich ziehe. Hinzu komme, dass von der bei Praxiseröffnung 44 Jahre alten Klägerin, die für zwei etwa 13 und 15 Jahre alte Kinder zu sorgen habe, nicht verlangt werden könne, ihr bis dahin an Freizeit reiches Leben aufzugeben. Das Berufungsgericht lässt offen, ob die Eröffnung der eigenen Praxis eine adäquate Folge der Unfallverletzung und der sich aus ihr für die Klägerin ergebenden Unmöglichkeit, weiterhin Landärzte zu vertreten, darstellt. Die vom Beklagten erstrebte Vorteilsanrechnung hält das Berufungsgericht jedenfalls deshalb für ungerechtfertigt, weil sich die Klägerin überpflichtgemäß verhalten habe; es sei unbillig, wenn dem Beklagten diese Anstrengungen der Klägerin zugute kämen.

II.

1. Die Revision zieht nicht in Zweifel, dass die Klägerin für die Zeit bis zum 7. Dezember 1970, für die sie Schadensersatz begehrt, unfallbedingt nicht in der Lage war, Landärzte zu vertreten. Sie macht aber geltend, die Eröffnung der eigenen Praxis sei der Klägerin zuzumuten gewesen. Die Klägerin könne den Umfang ihrer Arbeit in der Praxis beschränken und zu den Investitionen sei sie aufgrund ihrer Vermögensverhältnisse im Stande gewesen. Somit widerspreche die Anrechnung der erzielten Einkünfte auch nicht der Billigkeit.

Die Angriffe der Revision bleiben ohne Erfolg.

2. Dem Berufungsgericht ist zunächst darin zuzustimmen, dass die Klägerin nur dann nach § 254 Abs. 2 BGB verpflichtet ist, den Schaden durch Einsatz der ihr verbliebenen Arbeitskraft zu mindern, wenn ihr die Übernahme einer Erwerbstätigkeit zugemutet werden kann und sie gegen Treu und Glauben verstieße, falls sie es ablehnte, einem Erwerb nachzugehen (stRspr. vgl. u.a. BGHZ 4, 170; 16, 265, 275; BGH Urt. v. 8. Dezember 1959 – VI ZR 219/58 = VersR 1960, 159; Urt. v. 25. September 1962 – VI ZR 98/61 = VersR 1962, 1176; Urt. v. 13. Dezember 1966 – VI ZR 75/65 = VersR 1967, 259 – diese Entscheidungen sind zu § 844 Abs. 2 BGB ergangen; Urt. v. 26. September 1961 – VI ZR 234/60 = VersR 1961, 1018).

Rechtlich nicht zu beanstanden ist ferner die Annahme des Berufungsgerichts, dass die Klägerin nach den gesamten Umständen nicht verpflichtet war, zur Schadensminderung eine eigene Praxis zu eröffnen und dass für sie auch keine andere zumutbare Erwerbsmöglichkeit bestand. Diese Beurteilung liegt weitgehend auf tatrichterlichem Gebiet (vgl. BGH Urt. v. 3. Juli 1962 – VI ZR 81/62 = VersR 1962, 1100, 1101). Sie hält, soweit eine revisionsrechtliche Überprüfung möglich ist, den Angriffen der Revision stand. Das Berufungsgericht hat nicht verkannt, dass bei der Prüfung der Zumutbarkeit insbesondere Persönlichkeit, soziale Lage, bisheriger Lebenskreis, Begabung und Anlagen, Bildungsgang, Kenntnisse und Fähigkeiten, bisherige Erwerbsstellung, gesundheitliche Verhältnisse, Alter, seelische und körperliche Anpassungsfähigkeit, Umstellungsfähigkeit, Art und Schwere der Unfallfolgen, Familie und Wohnort von Bedeutung sind (vgl. BGH Urt. v. 6. November 1954 – VI ZR 70/54 = VersR 1955, 38). Es hat sich im Einzelnen mit diesen Gesichtspunkten in rechtlich möglicher Weise auseinandergesetzt.

Vor allem hat das Berufungsgericht bei der Prüfung der Zumutbarkeit zu Recht in Betracht gezogen, dass die Eröffnung einer eigenen Arztpraxis für die Klägerin wirtschaftlich und gesundheitlich ein erhebliches Risiko darstellte. Die Klägerin musste, um die Praxis einrichten zu können, erhebliche Mittel, vor allem auch Fremdmittel in Anspruch nehmen. Es war für sie nicht zu übersehen, ob sie, auch wegen der erlittenen Unfallverletzung, den Belastungen dieser Praxis gewachsen war. Der Auffassung der Revision, die Klägerin habe den Umfang ihrer Arbeitstätigkeit nach Eröffnung der Praxis so beschränken können, dass im Vergleich zu früher keine oder nur eine geringe zusätzliche Anforderung an sie gestellt würde, steht schon die tatrichterliche Feststellung entgegen, dass die Führung ihrer eigenen Praxis nur in dem von ihr geübten vollen Umfang möglich ist, dagegen eine Beschränkung auf ein der bisherigen Belastung entsprechendes Ausmaß ausscheidet. Schließlich musste die Klägerin diese berufliche Tätigkeit, die den früheren Rahmen weit überschreitet, neben der Sorge für ihre Familie und unter Verzicht auf viele Annehmlichkeiten, die sie bei ihrer früheren Lebensgestaltung hatte, auf sich nehmen.

Es liefe auf eine Überspitzung der Schadensminderungspflicht hinaus, von der Klägerin zu verlangen, unter diesen Umständen eine eigene Arztpraxis zu eröffnen. Zwar hat ein Geschädigter regelmäßig zur Schadensminderung die Anstrengungen zu unternehmen, die er auf sich nehmen würde, wenn kein ersatzpflichtiger Schädiger vorhanden wäre. Er braucht aber keine erheblichen Risiken einzugehen, die er vielleicht noch in Kauf nehmen würde, wenn er den Schaden allein zu tragen hätte.

3. a) Dem Berufungsgericht ist auch darin zu folgen, dass die Erträgnisse einer Erwerbstätigkeit, zu der der Geschädigte im Interesse der Schadensminderung nicht gehalten ist, in der Regel nicht zu einer Verkürzung des Schadensersatzanspruchs wegen Erwerbsausfalls führen. Das entspricht den Grundsätzen, die in Rechtsprechung und Schrifttum zur sog. Vorteilsausgleichung entwickelt worden sind (vgl. BGHZ 49, 56, 62; 55, 329, 332; 58, 14, 18; BGH Urt. v. 11. Februar 1969 – VI ZR 240/67 = VersR 1969, 469, jeweils m.w.Nachw.; Erman/Sirp BGB 5. Aufl. § 31 VI 2 d; Larenz SchR I 10. Aufl. § 30 II b; Medicus Bürgerl.Recht 5. Aufl. § 31 VI 2 d; Thiele AcP 167, 236; vgl. ders. Festschr. für Felgentraeger 1969, S. 393, 401; s. auch Lieb JR 1971, 371, 372)

b) Es mag dahinstehen, ob der nach dem Vorbringen des Beklagten von der Klägerin erzielte Gewinn aus ihrer jetzigen Tätigkeit als Vermögensvorteil im herkömmlichen Sinne der Vorteilsausgleichung anzusehen ist, wovon in diesem Rechtsstreit beide vorhergehenden Urteile und die Parteien als selbstverständlich ausgegangen sind, oder ob er sich als schadensmindernder Faktor darstellt. Denn auch bei letzterer Sicht wäre die Untersuchung geboten, ob die Erträgnisse bei der Berechnung des Schadens heranzuziehen oder auszunehmen sind, weil ihre Einbeziehung bei Würdigung aller Umstände den Schädiger unbillig entlasten würde (BGHZ 55, 329, 333; 58, 14, 18; BGH Urt. v. 11. Februar 1969 – VI ZR 240/67 = aaO).

c) Auch die Unterscheidung, ob der Geschädigte die Erwerbstätigkeit, aus der ihm Vorteile erwachsen, aus freien Stücken oder durch die Umstände gezwungen ergriffen hat, gibt hier nichts Entscheidendes her. Zwar kann die freiwillige Übernahme einer Erwerbstätigkeit durch den Geschädigten ein Hinweis darauf sein, dass sie ihm im Interesse der Schadensminderung nach § 254 Abs. 2 BGB zuzumuten war. Ist aber wie hier die Zumutbarkeit trotzdem aus anderen Gründen zu verneinen, macht es keinen Unterschied, welche Beweggründe zur Aufnahme der Tätigkeit geführt haben.

d) Geht der Geschädigte einer Erwerbstätigkeit nach, ohne hierzu nach § 254 Abs. 2 BGB gehalten zu sein, so spricht vieles für die Annahme, es sei unbillig, dem Schädiger die Früchte dieser Erwerbstätigkeit zugute kommen zu lassen. Zur Entlastung des Schädigers reicht nicht aus, dass die Vorteile eine adäquate Folge der zum Schadensersatz verpflichtenden Handlung sind. Unterstellt man hier zugunsten der Revision die Adäquanz, die das Berufungsgericht offen gelassen hat, so erfordert die Anrechnung der von der Klägerin etwa erzielten Gewinne darüber hinaus, dass der Beklagte hierdurch nicht unbillig entlastet wird. Es erscheint aber unbillig, die Klägerin zwar nicht für verpflichtet zu halten, im Interesse der Schadensminderung nach § 254 Abs. 2 BGB einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, die Gegenleistung der gleichwohl aufgenommenen Tätigkeit aber dem Schädiger zugute kommen zu lassen.

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Hätte die Klägerin, obwohl sie hierzu gesundheitlich nicht mehr in der Lage war, etwa unter Raubbau an ihren Kräften oder Inkaufnahme einer Verschlimmerung der aufgetretenen Gesundheitsschäden weiterhin die Vertretung von Landärzten übernommen, so könnte das den Beklagten zweifellos nicht entlasten. Andererseits würde er bei solcher Sachlage auch nicht für die Folgen eines derartigen Raubbaues oder einer Gesundheitsverschlimmerung einzutreten haben. Nicht anders ist es aber, wenn die Klägerin, wie sie es getan hat, über das zumutbare Maß hinaus die Mühen und Kosten einer eigenen Arztpraxis verbunden mit einem besonderen wirtschaftlichen und sonstigen Risiko zu ihren Lasten auf sich nimmt.

4. Das Berufungsgericht hatte nur darüber zu befinden, ob ein etwaiger Gewinn gegenüber dem geltend gemachten Erwerbsschaden für den Zeitraum vom 2. Juni 1969 bis zum 7. Dezember 1970 anzurechnen war. Für die Zukunft wäre zu beachten, dass durch den Zeitablauf eine andere Bewertung der Umstände, auf denen die Unzumutbarkeit für den entschiedenen Zeitraum beruht, möglich ist und naheliegen kann. Das gilt nicht nur dann, wenn die Klägerin möglicherweise gesundheitlich wieder in der Lage sein sollte, Landärzte zu vertreten. Vielmehr können auch die übrigen Umstände, die die Unzumutbarkeit der Aufnahme der Tätigkeit einer eigenen Praxis ergaben, nach einiger Zeit die Fortführung ihrer Tätigkeit nicht mehr unbedingt als unzumutbar erscheinen lassen. Hierbei kommt u.a. in Betracht eine Beseitigung oder doch ein erheblicher Abbau der wirtschaftlichen Risiken, eine Änderung der familiären Verhältnisse wie Älterwerden der Kinder und ein Zurechtfinden in der aufgenommenen Tätigkeit. Allerdings sind bei einer dem jeweiligen Zeitraum entsprechenden Anrechnung die Aufwendungen des Geschädigten zur Erzielung des Vorteils nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen zu Lasten des Schädigers zu berücksichtigen.

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