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Verkehrsvideoüberwachung – Ermächtigungsgrundlage

Oberlandesgericht Oldenburg

Az: 1 Ss (OWi) 68 Z/10

Beschluss vom 19.04.2010


In der Bußgeldsache wegen Verkehrsordnungswidrigkeit hat der 1. Strafsenat des Brandenburgischen Oberlandesgerichts als Senat für Bußgeldsachen durch den Richter am Oberlandesgericht als Einzelrichter am 19. April 2010 beschlossen:

Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts Potsdam vom 19. Oktober 2009 wird zugelassen.

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Potsdam vom 19. Oktober 2009 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittelverfahrens, an das Amtsgerichts Potsdam zurückverwiesen.

Gründe

Das Amtsgericht Potsdam hat mit Urteil vorn 19. Oktober 2009 gegen den Betroffenen in dessen Abwesenheit wegen fahrlässigen Nichteinhaltens des erforderlichen Sicherheitsabstandes von 50 m bei einer gefahrenen Geschwindigkeit von 50 km/h gern. §§ 4 Abs. 3, 49 StVO, 24 StVG, Ziff. 15 BKat eine Geldbuße von 80,00 € festgesetzt.

Die Beweiswürdigung stützt sich vor allem auf die gern. § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO i.V.m. 46 Abs. 1 OWiG Bezug genommenen Fotos aus einer Videoaufzeichnung und auf die Vernehmung des Polizeibeamten X. Hinsichtlich der Videoaufnahmen wird die Aussage des Zeugen in dem überaus knappen Urteil wie folgt wiedergegeben: „Es sei richtig, dass die Videoaufzeichnung die ganze Zeit durchlaufe; auf den Videoaufnahmen seien Kennzeichen und die Fahrer der Fahrzeuge nicht erkennbar; erst wenn ein Anhaltspunkt fair einen konkreten Verkehrsverstoß vorliege, würden davon Fotos gefertigt; erst diese Fotos seien zur Identifizierung der Fahrzeuge bzw. Fahrer geeignet; dies seien die Bilder in der Akte“ (BI. 2 UA). Die Bußgeldrichterin kommt auf Grund dieser Angaben zu dem Ergebnis, dass „der Fall des Bundesverfassungsgerichts […] dem vorliegenden Fall nicht vergleichbar [ist], denn zwar wurde auch hier eine verdachtsunabhängige Videoaufzeichnung durchgeführt; diese war aber zur Identifizierung potenzieller Verkehrssünder weder gedacht noch geeignet; anhand der Qualität der Videoaufzeichnung sind weder Nummernschilder noch gar Fahrer der Fahrzeuge erkennbar, geschweige denn sicher identifizierbar. Eine solche Identifikation

ist ausschließlich an Hand der gefertigten Fotos möglich und diese wurden nur bei konkretem Verdacht einer Ordnungswidrigkeit gefertigt.“

Gegen diese Entscheidung richtet sich der Antrag des Betroffenen auf Zulassung der Rechtsbeschwerde.

1. Die Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde ist gemäß § 79 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 80 Abs. 1, 2 OWiG statthaft und entsprechend den §§ 80 Abs. 3 OWiG, 341, 344, 345 StPO form- und fristgerecht angebracht worden.

2. Der Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde hat in der Sache (vorläufigen) Erfolg; die Rechtsbeschwerde ist zuzulassen.

a) Soweit der Betroffene die Verfahrensrüge erhebt, ist er damit im Zulassungsverfahren gem. § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG ausgeschlossen.

b) Die Rechtsbeschwerde ist jedoch zur Fortbildung des materiellen Rechts, nämlich zur Frage, ob die nicht anlassbezogene Videoüberwachung auf einer ausreichenden Ermächtigungsgrundlage beruht bzw. ob die Entscheidung des Amtsgerichts Potsdam den Betroffenen in seinen Grundrechten verletzt, zuzulassen.

3. Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen ist das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das Amtsgericht Potsdam zurückzuverweisen. Eine Entscheidung der aufgeworfenen Rechtsfrage ist dem Senat gegenwärtig nicht möglich. Die Urteilsgründe sind hierzu unzureichend.

Zwar unterliegen die Gründe des Urteils im Ordnungswidrigkeitenverfahren keinen hohen Anforderungen. Gleichwohl müssen sie so beschaffen sein, dass sie dem Rechtsbeschwerdegericht eine rechtliche Überprüfung auf die Sachrüge hin ermöglichen. Dies gilt auch für die Beweiswürdigung des Tatrichters, weil das Rechtsbeschwerdegericht nur so in den Stand gesetzt wird, diese auf Widersprüche, Unklarheiten, Lücken oder Verstöße gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze hin zu überprüfen (Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 6. Januar 2010 – 1 Ss 291/09, zit. nach juris; KK-Senge, OWiG, 6. Aufl. 2008, § 71 Rdnr. 106 ff.; Göhler, OWiG, 15. Auf. 2009, § 71 Rdnr. 42 ff., jeweils m.w.N,).

Auch angesichts dieser reduzierten Anforderungen an die Urteilsgründe erweisen sich die Urteilsfeststellungen zur Videoüberwachung bzw. Abstandsmessung im vorliegenden Fall teilweise als nicht nachvollziehbar, teilweise sogar als widersprüchlich bzw. fehlerhaft.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts stellt die Anfertigung von Lichtbildern anlässlich einer Geschwindigkeits- bzw. Abstandsmessung ebenso wie eine entsprechende Videoaufzeichnung einen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Betroffenen aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Recht auf informationelle Selbstbestimmung dar, weil und sofern hierdurch zur Datenerhebung sowohl das Kennzeichen des Kraftfahrzeugs als auch die Person des Fahrzeugführers identifiziert werden können (vgl. zur Videoüberwachung BVerfG NJW 2009, 3293 m.w.N.). Eine zulässige Beschränkung dieses Grundrechtsschutzes erfordert eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage, die Anlass, Zweck und Grenzen des Eingriffs bereichsspezifisch, präzise und normenklar regelt und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gerecht wird (BVerfG a.a.O.).

Zur Prüfung der Frage, ob die Überwachungsmaßnahme in § 100 h Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 (vgl. dazu Senatsbeschluss vorn 22. Februar 2010, 1 Ss (OWi) 23 Z/10), in § 163 b Abs. 1 Satz 1 StGB, in § 163 Abs. 1 Satz 3 oder in § 81 b StPO in Verbindung mit § 46 OWiG StPO eine ausreichende Ermächtigungsgrundlage hat, bedarf es einer nachvollziehbaren Darlegung der Überwachungsmaßnahme.

Daran fehlt es hier: Eine Beschreibung der Abstandsmessanlage fehlt dem Urteil völlig. Soweit es in den Urteilsgründen heißt, dass die Videoaufzeichnung „zur Identifizierung potenzieller Verkehrssünder weder gedacht noch geeignet war“ (BI. 3 UA) ist dies nicht nachvollziehbar. Schon der Sinn der Videoaufzeichnung erschließt sich nicht, wenn es nicht um die Feststellung von Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten gehen soll. Soweit es weiter heißt, dass aufgrund „der Qualität der Videoaufzeichnung […] weder Nummernschilder noch gar Fahrer der Fahrzeuge erkennbar, geschweige denn sicher identifizierbar [sind], ist dies schlicht falsch. Denn auf den in den Urteilsgründen gern. § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO Bezug genommenen Lichtbildern, die auch dem Rechtsbeschwerdegericht als Entscheidungsgrundlage zur Verfügung stehen, sind sowohl die Kfz-Kennzeichen als auch Fahrer zu erkennen, was in Widerspruch zu den Urteilsgründen steht. Mehr noch: Auf den Fotos Blatt 6 und 7 der Beiakte sind Kfz-Kennzeichen offenbar nachträglich mit einem Kugelschreiber oder ähnlichem Schreibgerät durchgestrichen und so manuell zum Teil unkenntlich gemacht worden.

Mithin lässt sich der Verdacht nicht von der Hand weisen, dass hier nachträglich an Beweismitteln manipuliert worden ist. Schließlich ist nach den Urteilsgründen nicht nachvollziehbar, durch wen und auf welche Art und Weise sich der Verdacht einer Ordnungswidrigkeit gestellt hat und auch nicht nachvollziehbar durch wen und auf welche Art und Weise die letztlich zur Überführung des Betroffenen maßgeblichen Fotos gefertigt worden sind. Aus dem Gesamtzusammenhang lässt sich der Eindruck nicht von der Hand weisen, dass die Fotos aus der verdachtsunabhängigen Videoaufzeichnung gezogen worden sind, und die verdachtsunabhängige Videoaufzeichnung sowohl Kfz-Kennzeichen und Fahrer sämtlicher aufgenommener Fahrzeuge erkennen lässt. Dies aufzuklären und in den Urteilsgründen nachvollziehbar darzustellen, ist Aufgabe des Tatgerichts. Das Gericht wird der Frage nachgehen müssen, ob hier eine so genannte Brückenabstandsmessung vorliegt und ggf. darlegen müssen, wie das Messverfahren konkret abgelaufen ist, wie viele Kameras für welche Aufgaben zum Einsatz gekommen sind, wie die Kameras miteinander gekoppelt sind und wie der konkrete Tatverdacht festgestellt worden ist (vgl. dazu beispielsweise OLG Koblenz, Beschluss vom 4. März 2010, 1 Ss Bs 23/10, zit. nach juris). Die Bußgeldrichterin wird der Frage nachgehen müssen, ob hier ein standardisiertes Abstandsmessverfahren vorliegt (zum Messverfahren VAMA siehe OLG Bamberg, Beschluss vom 16. November 2009, 2 Ss OWi 1215/2009, zit. nach juris; zum Messverfahren VKS 3.0 siehe OLG Rostock, Beschluss vom 1. März 2010, 2 Ss (OWi) 6/10, 19/10, zit. nach juris) oder ob beispielsweise nur Standbilder aus einer laufenden Videokamera gefertigt worden sind. Im letzteren Fall wird das Gericht aufklären müssen, wer und aus welchen Gründen die Kfz-Kennzeichen auf den in Bezug genommenen Fotos auf Bl. 6, 7 der Beiakte offenbar nachträglich geschwärzt hat und ob sich lediglich hieraus ergibt, dass die Nummernschilder nicht erkennbar waren.

Nach alledem ist das Urteil des Amtsgerichts Potsdam vom 19. Oktober 2010 aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht Potsdam zurückzuverweisen.

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