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Verletzung Verkehrssicherungspflicht auf Feldweg – Cross-Country-Bereich

Oberlandesgericht Schleswig-Holstein – Az.: 7 U 29/16 – Urteil vom 28.09.2021

Auf die Berufung des Klägers wird das am 11.02.2016 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 10. Zivilkammer des Landgerichts Lübeck geändert und wie folgt neu gefasst:

1. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld in Höhe von 800.000,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz p.a. seit dem 06.12.2014 zu zahlen abzüglich am 10.12.2020 auf die Hauptforderung gezahlter 375.000,00 € und auf die Zinsen gezahlter 93.277,09 €.

2. Es wird festgestellt, dass die Beklagten gesamtschuldnerisch verpflichtet sind, dem Kläger allen materiellen und weiteren immateriellen Schaden aus dem Unfall vom 15.06.2012 gegen 17:30 Uhr im … zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind.

3. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger außergerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 13.382,74 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz p.a. – und zwar die Beklagten zu 1 und 2) ab dem 28.05.2015 und der Beklagte zu 3) ab dem 29.05.2015 – zu zahlen.

4. Die Kosten des Rechtsstreites einschließlich der Kosten des Revisionsverfahrens (BGH, III ZR 251/17) tragen die Beklagten als Gesamtschuldner.

5. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Den Beklagten wird nachgelassen, die Zwangsvollstreckung durch den Kläger gegen Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des aufgrund dieses Urteils vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Gründe

I.

Der Kläger nimmt die Beklagten auf immateriellen Schadensersatz und umfassende Feststellung aufgrund eines Unfalles vom 15.06.2012 in Anspruch.

Der seinerzeit 35 Jahre alte Kläger war als Marineoffizier bei der Bundeswehr in X. tätig.

Am Unfalltage war der Kläger mit seinem Fahrrad, einem Mountainbike, unterwegs, um die Umgebung zu erkunden. Er kam dabei in das Gemeindegebiet der Beklagten zu 1). Gegen 17:00 Uhr befuhr er einen vom H.-weg abgehenden Feldweg, der in einem Waldstück endet. Für den H.-weg gilt das Verkehrszeichen 260 (Anlage 2 zu § 41 Abs. 1 StVO; Verbot für Kraftfahrzeuge). Über die Örtlichkeiten hatte sich der Kläger zuvor mittels einer Karten-App auf seinem I-Phone kundig gemacht.

Auf dem Feldweg befand sich nach rund 50 m ein sogenanntes Ziehharmonika-Heck. Dies war so ausgebildet, dass in der Mitte des Weges an zwei vertikalen Holzstäben wiederum das Verkehrszeichen 260 befestigt war. Die Konstruktion wurde gehalten durch zwei quer über den Weg laufende Stacheldrähte in einer Höhe von circa 60 und 90 cm, wobei die Stacheldrahtreihen auf der linken Seite (aus Fahrtrichtung des Klägers gesehen) fest an einem Pfosten angeschlagen waren, rechts mittels eines Drahtes an einem weiteren Pfosten befestigt waren, dort aber gelöst werden konnten. Wegen der Einzelheiten wird auf die Lichtbilder Bl. 10, 16, 17 und 25 der beigezogenen Ermittlungsakte Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Y. AZ: … verwiesen.

Der Kläger bemerkte den über den Weg gespannten, doppelten Stacheldraht, es gelang ihm aber nicht, sein Fahrrad noch rechtzeitig vor der Absperrung zum Stehen zu bringen; die Einzelheiten insoweit sind streitig. Infolge einer (Voll-)Bremsung – Bremsspur in Länge von 1,10 m (Bl. 13 d. BA) – stürzte der Kläger in das Ziehharmonika-Heck hinein. Ausweislich der Ermittlungsakte befand sich „circa 2 m vor dem Stacheldraht eine Bremsspur mit einer Länge von circa 1,10 m“. Der Kläger stürzte kopfüber links des Verbotsschildes in den Stacheldrahtzaun und blieb mit seiner Kleidung daran hängen. Er konnte sich anschließend nicht mehr bewegen. Erst gegen 19.20 Uhr erschien am Unfallort zufällig der Beklagte zu 2), der sofort die Rettungskräfte und die Polizei alarmierte. Beim Eintreffen der Rettungskräfte lag der Kläger bäuchlings mit seinen Armen unter dem Körper über dem zweifach gespannten Stacheldrahtzaun, das Fahrrad lag teilweise auf seinem Rücken.

Durch den Sturz erlitt der Kläger einen Bruch des Halswirbels und als Folge davon eine komplette Querschnittslähmung unterhalb des 4. Halswirbels. Nach dem Hubschraubertransport in das Krankenhaus Z. erfolgte dort eine sofortige operative Versorgung mittels dorsaler Spondylodese von HWK 2 bis HWK 7 sowie eine mikrochirurgische Dekompression HWK 2 / 3 bis HWK 4 / 5 mittels Laminektomie C3 und C4. Am 19.06.2012 erfolgte zudem eine operative Versorgung von ventral. Vom 22.06.2012 bis 15.04.2013 befand sich der Kläger in stationärer Behandlung im Querschnittgelähmten-Zentrum des Berufsgenossenschaftlichen Unfallkrankenhauses X..

Der Kläger ist seit dem Unfall in allen Belangen und Bereichen des täglichen Lebens dauerhaft hochgradig pflegebedürftig. Aufgrund der Schwere seiner Verletzungen bedarf er lebenslang einer kontinuierlichen querschnittslähmungsspezifischen Weiterbehandlung mit dauernden rehabilitativen Behandlungen im Sinne von krankengymnastischen, physio- und ergotherapeutischen Maßnahmen. Die Blasenentleerung erfolgt durch intermittierenden Fremdkatheterismus, die Darmentleerung erfolgt mit Hilfe von Abführsuppositorien. Er hat inzwischen eine barrierefreie Erdgeschosswohnung bezogen und wird rund um die Uhr von Assistenz- und Pflegekräften betreut. Ausweislich des Pflegegutachtens Dr. med. W. vom 27.05.2014 übersteigen die seit dem Unfall täglich durchzuführenden Pflegemaßnahmen quantitativ und qualitativ weit das übliche Maß der Grundversorgung (Pflegestufe III). Erschwerend kommen folgende Faktoren hinzu: Körpergewicht über 80 kg, hochgradige Spastik, zeitaufwändiger Hilfsmitteleinsatz (z. B. fahrbare Lifter, Decken-/Wandlifter), digitale Enddarmentleerung, mechanische Harnlösung, Körpergröße 202 cm, hohe Querschnittslähmung.

Das quer über den Feldweg gespannte Ziehharmonika-Heck war Ende der 80iger Jahre von dem seinerzeitigen Jagdpächter A. im Einvernehmen mit der Beklagten zu 1) errichtet worden. Der Feldweg, auf dem sich die vorgenannte Absperrung befand, gehört zum Eigentum der Beklagten zu 1). Der ehemalige ehrenamtliche Bürgermeister der Gemeinde …, der Zeuge B., hatte regelmäßig (circa 2-3 Mal vierteljährlich) nach der Absperrung geschaut. Auch die Beklagten zu 2) und 3) nutzten regelmäßig als Jagdpächter die vorgenannte Absperrung, um zu der dahinter gelegenen Wildwiese zu gelangen, auf der sich ihr grüner Jagdwagen befand (vgl. Lichtbild Bl. 148 der Ermittlungsakte Staatsanwaltschaft Y., Az.: …).

Der Kläger hat die Auffassung vertreten, alle drei Beklagten seien verkehrssicherungspflichtig, die Beklagte zu 1) als Eigentümerin des Feldweges, die Beklagten zu 2) und 3) als Jagdpächter. Der Kläger hat behauptet, die Beklagten zu 2) und 3) hätten etwa ein Jahr vor dem hier in Rede stehenden Vorfall den Stacheldraht der Absperrung erneuert; es handele sich um eine jagdliche Einrichtung, da die Absperrung (auch) der Wildruhe gedient habe. Die Stacheldrahtabsperrung sei erst aus einer Entfernung von höchstens 8 m erkennbar gewesen. Die Beklagten seien ihm daher zur Zahlung eines Schmerzensgeldes verpflichtet, für das er eine Mindestvorstellung in Höhe von 500.000,00 € angegeben hat.

Der Kläger hat beantragt,

1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn ein Schmerzensgeld, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, nebst Verzugszinsen in Höhe von 5%-Punkten über dem Basiszinssatz seit dem 06.12.2014 zu zahlen;

2. festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, ihm allen materiellen und immateriellen Schaden aus dem Unfall vom 15.06.2012 gegen 17:00 Uhr im … zu ersetzen, soweit dieser nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen ist;

3. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn außergerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 13.382,74 € nebst Verzugszinsen in Höhe von 5%-Punkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

Die Beklagten haben beantragt, die Klage abzuweisen.

Die Beklagten haben behauptet, der Kläger sei mit unangepasster Geschwindigkeit gefahren. Bei Anwendung der angesichts der örtlichen Verhältnisse gebotenen Aufmerksamkeit wäre der Sturz ohne weiteres vermeidbar gewesen. Die Stacheldrahtkonstruktion sei gut erkennbar gewesen. In der Vergangenheit sei es zu keinerlei Problemen gekommen.

Die Beklagte zu 1) hat die Auffassung vertreten, für den Feldweg nicht verkehrssicherungspflichtig zu sein. Die Beklagten zu 2) und 3) haben bestritten, an dem Ziehharmonika-Heck irgendwelche Erneuerungsarbeiten durchgeführt zu haben. Sie haben die Auffassung vertreten, es handele sich auch nicht um eine jagdliche Einrichtung im Sinne von § 26 LJagd SH.

Wegen der tatsächlichen Feststellungen im Einzelnen wird auf das angefochtene Urteil nebst darin enthaltener Verweisungen Bezug genommen.

Das Landgericht hat mit dem angefochtenen Urteil die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, es liege schon keine Verletzung der Verkehrssicherungspflicht durch die Beklagten vor, wobei hinsichtlich der Beklagten zu 2) und 3) offen bleiben könne, ob diese als Jagdpächter überhaupt verkehrssicherungspflichtig seien. Die Gefahrenstelle sei ohne weiteres rechtzeitig erkennbar gewesen. Der Kläger müsse entweder zu schnell oder aber nicht mit der gebotenen Aufmerksamkeit gefahren sein.

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Dagegen wendet sich der Kläger mit seiner Berufung.

Er verfolgt seine erstinstanzlichen Anträge unter Wiederholung und Vertiefung seines bisherigen Vorbringens weiter.

Die Beklagten tragen unter Verteidigung des angefochtenen Urteils auf Zurückweisung der Berufung an.

Insbesondere die Beklagten zu 2) und 3) sind dabei der Auffassung, die Berufung sei mangels hinlänglicher Berufungsangriffe schon unzulässig. Die Beklagte zu 1) vertritt die Auffassung, bezogen auf sie sei die Klage schon unzulässig, gleiches gelte für die Berufung. Es habe ein Vertretungsmangel vorgelegen, da sie im Prozess nicht durch ihren Bürgermeister, sondern durch das zuständige Amt vertreten werde. Dieser Vertretungsmangel sei nicht heilbar.

Wegen der Einzelheiten des zweitinstanzlichen Vorbringens der Parteien wird auf die im Berufungsrechtszug gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.

Mit einem ersten Urteil vom 10.08.2017 hat der Senat nach Beweisaufnahme das angefochtene Urteil teilweise geändert und die Beklagten als Gesamtschuldner verurteilt, ein Schmerzensgeld in Höhe von 125.000,00 € an den Kläger zu zahlen sowie die Ersatzpflicht der Beklagten für 25 % der materiellen und zukünftigen immateriellen Schäden des Klägers aufgrund des Unfallgeschehens festgestellt. Der Senat hatte, bei einer grundsätzlichen Haftung der Beklagten wegen der Verletzung der Ihnen jeweils obliegenden Verkehrssicherungspflicht, ein 75 %-iges Mitverschulden des Klägers an dem tragischen Unfallgeschehen angenommen.

Auf die Revision des Klägers hin hat der Bundesgerichtshof mit Urteil vom 23.04.2020 (BGH III ZR 251/17) die Senatsentscheidung insoweit aufgehoben, als zum Nachteil des Klägers wegen des Mitverschuldens entschieden worden ist. Die Anschlussrevisionen der Beklagten hat der Bundesgerichtshof zurückgewiesen. Im Umfang der Aufhebung hat der Bundesgerichtshof den Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an den Senat zurückverwiesen.

Der Bundesgerichtshof hat dabei u.a. ausgeführt, dass als Umstand, der ein anspruchsminderndes Mitverschulden des Klägers gemäß § 254 Abs. 1 BGB begründen könne, lediglich die Nutzung der Klickpedale statt der „normalen“ Fahrradpedale auf dem unbefestigten und unebenen Feldweg sein könnte, wobei dies allenfalls zu einer Anspruchsminderung von 1/4 führen könne.

Der hinter dem Beklagten zu 1) stehende Kommunale Schadenausgleich hat daraufhin als Quasi – Haftpflichtversicherer am 10.12.2020 an den Kläger 375.000,00 € auf das Schmerzensgeld sowie 93.277,09 € auf Zinsen ausgezahlt. In diesem Umfange haben die Parteien den Rechtsstreit, nachdem ein Verrechnungsvorbehalt fallengelassen worden war, übereinstimmend für erledigt erklärt. Der Kläger beantragt nunmehr, unter Abänderung des angefochtenen Urteils:

1. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, nebst Verzugszinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 06.12.2014 zu zahlen abzüglich am 10.12.2020 auf die Hauptforderung gezahlter 375.000,00 € und auf die Zinsen gezahlter 93.277,09 €.

2. Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger allen materiellen und weiteren immateriellen Schaden aus dem Unfall vom 15.06.2012 gegen 17:00 Uhr im … zu ersetzen, soweit dieser nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen ist.

3. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger außergerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 13.382,74 € nebst Verzugszinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

Ergänzend beantragt der Kläger die Zuerkennung einer Schmerzensgeldrente.

Die Beklagten beantragen, die Berufung zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des zweitinstanzlichen Vorbringens der Parteien wird auf die im Berufungsrechtszug gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.

Der Senat hat ergänzend Beweis erhoben gemäß Beschluss vom 20.08.2020 (Bl. 579 – 581 d. A.) durch Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens sowie gemäß prozessleitender Verfügung vom 23.04.2021 (Bl. 724 d. A.) durch dessen mündliche Erläuterung. Darüber hinaus wurde der Kläger persönlich gemäß § 141 ZPO ergänzend angehört.

Wegen des Inhalts wird auf das schriftliche Gutachten des Sachverständigen Dipl.-Ing. M. vom 24.02.2021 (Aktentasche) und die Sitzungsniederschrift vom 07.09.2021 nebst Anlagen (Bl. 757 – 782 d. A.) Bezug genommen.

II.

Die Berufung des Klägers ist – soweit die Parteien nicht übereinstimmend den Rechtsstreit teilweise in der Hauptsache für erledigt erklärt haben – begründet.

1. Zum Grund der gesamtschuldnerischen (§ 840 BGB) Haftung der Beklagten aus Verletzung der ihnen jeweils obliegenden Verkehrssicherungspflichten gemäß § 823 Abs. 1 BGB bzw. § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG verweist der Senat, wie auch hinsichtlich der Zulässigkeit der Berufung des Klägers, auf die vom Bundesgerichtshof ausdrücklich gebilligten Ausführungen in dem Urteil vom 10.08.2017 (S. 7 – S. 12). Dort hat der Senat u.a. Folgendes ausgeführt:

Die Beklagten haften dem Kläger gesamtschuldnerisch auf Schadenersatz wegen Verletzung der ihnen jeweils obliegenden Verkehrssicherungspflicht, die Beklagte zu 1) aus § 839 Abs. 1 S. 1 BGB i.V.m. Art. 34 S. 1 GG, die Beklagten zu 2) und 3) aus § 823 Abs. 1 BGB.

Die Beklagte zu 1) hat hinsichtlich der Feldheckabsperrung die sie treffende Verkehrssicherungspflicht verletzt.

Als Eigentümerin des Feldweges, auf dem sich der Radfahrunfall ereignete und Trägerin der Straßenbaulast gemäß §§ 9 Abs. 1, 10 Abs. 4, 13 Straßen- und Wegegesetz des Landes Schleswig-Holstein (StraßenWGSH) ist sie für die Sicherheit von Gemeindestraßen, wozu auch der Feldweg zählt, verantwortlich.

Die Beklagten zu 2) und 3) haften als zum Unfallzeitpunkt zuständige Jagdpächter für die Verkehrssicherheit der Feldheckabsperrung. Denn bei dem Ziehharmonika-Heck handelt es sich um eine „jagdliche Einrichtung“ i.S.v. § 26 Abs. 1 Landesjagdgesetz SH.

Die Beklagte zu 1) ist als Eigentümerin und Trägerin der Straßenbaulast gemäß §§ 9 Abs. 1, 10 Abs. 4, 13 Straßen- und Wegegesetz des Landes Schleswig-Holstein (StrWG SH) grundsätzlich für die Sicherheit von Gemeindestraßen verantwortlich. Dazu gehört auch der Feldweg in der Gemeinde …, auf dem sich der Radfahrunfall ereignete. Nach § 9 Abs. 1 StrWG SH muss der Träger der Straßenbaulast dafür einstehen, dass seine Bauten allen Anforderungen der Sicherheit genügen. Dem Träger der Straßenbaulast obliegt auch eine Überwachungspflicht gemäß § 10 Abs. 4 StrWG SH. Die Beklagte zu 1) hat die ihr obliegende Unterhaltungs- und Überwachungspflicht verletzt. Die Absperrung (bestehend aus dem Ziehharmonika-Feldheck mit zwei Stacheldrähten in Höhe von 57 bzw. 91 cm) und dem mittig angebrachten Verkehrszeichen 260 (Verbot für Kraftfahrzeuge aller Art) war nicht nur „ungewöhnlich“, sondern stellte auch eine offensichtliche Gefahrenquelle für Fußgänger und Radfahrer dar. Gemäß § 45 Abs. 3 StVO bestimmen die Straßenverkehrsbehörden, wo und welche Verkehrszeichen oder auch Gefahrzeichen anzubringen sind. Bei der Gemeinde …, die die Aufstellung der vorgenannten Absperrung genehmigt und geduldet hat, handelt es sich unstreitig nicht um die zuständige Straßenverkehrsbehörde. Der doppelte Stacheldraht, der quer über den Weg gezogen war, war nicht markiert und deshalb – ausweislich der Ermittlungsakte – erst aus einer Entfernung von circa 10 m erkennbar. Derjenige, der eine Gefahrenlage schafft (bzw. verantwortet), ist grundsätzlich verpflichtet, die notwendigen und zumutbaren Vorkehrungen zu treffen, um eine Schädigung anderer möglichst zu verhindern. Die rechtlich gebotene Verkehrssicherung umfasst diejenigen Maßnahmen, die ein umsichtiger und verständiger, in vernünftigen Grenzen vorsichtiger Mensch für notwendig und ausreichend hält, um andere vor Schäden zu bewahren. Dabei sind diejenigen Vorkehrungen zu treffen, die geeignet sind, die Schädigung anderer tunlichst abzuwenden. Der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt im Sinne von § 276 Abs. 2 BGB (Fahrlässigkeitsmaßstab) ist nur dann genügt, wenn im Ergebnis derjenige Sicherheitsgrad erreicht ist, den die in dem entsprechenden Bereich herrschende Verkehrsauffassung für erforderlich hält. Es sind deshalb diejenigen Sicherheitsvorkehrungen zu treffen, die ein verständiger, umsichtiger, vorsichtiger und gewissenhafter Angehöriger des betroffenen Verkehrskreises (hier Gemeinde als Straßenbaulastträger, Jäger, anliegende Landwirte, Freizeitsportler) für ausreichend halten darf, um andere Personen vor Schäden zu bewahren und die nach den Umständen zuzumuten sind.

Diesen Maßstäben wird die streitgegenständliche Feldheckabsperrung nicht gerecht. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass die Absperrung zum Unfallzeitpunkt offenbar schon seit mehr als 20 Jahren (seit Ende der 80er Jahre) bestand und bis dahin noch nichts passiert war. Auch schon zur Unfallzeit -im Sommer 2012- war Freizeitsport, wie Mountainbike-Fahren, zunehmend verbreitet, zumal die Feldmark in der Gemeinde … bereits zum Einzugsbereich der Großstadt X. gehört. Gerade Feld- und Waldwege gehören zu den bevorzugten Flächen dieser Freizeitsportler und nach dem Aufkommen der Mountainbikes sind gerade Radfahrer in zunehmender Zahl auf derartigen Wegen anzutreffen (vgl. OLG Köln, Urteil vom 23.01.1998, VersR 1998, 860-862, juris Rn. 35). Diese Veränderung im Freizeitverhalten hätte auch die Beklagte zu 1) als Eigentümerin und Trägerin der Straßenbaulast zur Kenntnis nehmen und sich im Rahmen des Zumutbaren darauf einstellen können. Dazu gehört es, die Absperrung von öffentlich zugänglichen Wegen mit dünnen und daher zwangsläufig leicht zu übersehenden Stacheldrähten entweder ganz zu vermeiden oder aber sie als Gefahrenquelle zumindest deutlich zu kennzeichnen. Es wäre ohne Schwierigkeiten durchaus möglich gewesen, besser erkennbare und einfacher zu handhabende Absperrmittel (wie z. B. rot-weiß markierte Balken, Ketten oder Tore) zu verwenden. Damit wäre die Gefahr, dass Wegenutzer, wie der geschädigte Mountainbike-Fahrer, an der Absperrung zu Fall kommen, erheblich herabgesetzt. Der Zustand der Absperrung war der Beklagten zu 1) jahrelang bekannt. Insoweit muss sie sich die Kenntnis ihres ehemaligen Bürgermeisters, des Zeugen B., zurechnen lassen. Die Gemeinde … hatte der Errichtung der Absperrung durch den ehemaligen Jagdpächter A. Ende der 80er Jahre ausdrücklich zugestimmt, um auch einer illegalen Müllentsorgung in der dahinter liegenden Feldmark vorzubeugen. Ausweislich der Bekundungen des Zeugen B. im staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren (StA Y. AZ.: …) hatte der Zeuge in seiner Zeit als ehrenamtlicher Bürgermeister regelmäßige Kontrollfahrten in die Feldmark unternommen und darauf geachtet, dass die Absperrung weiterhin besteht. Im Zuge seiner zeugenschaftlichen Anhörung am 14.03.2017 hat er dies zwar etwas relativiert und erklärt, nur „ungefähr 2-3 mal vierteljährlich an der Absperrung gewesen zu sei“ (Bl. 361 d. A.). Dies reicht jedoch aus, um der Beklagten zu 1) entsprechende Kenntnisse vom Zustand der Feldheckabsperrung zuzurechnen. Die Beklagte zu 1) hat mithin die gefährliche Feldheckabsperrung nicht nur jahrelang geduldet, sondern offenbar auch die Funktionsfähigkeit der Absperrung regelmäßig überprüft.

Verletzung Verkehrssicherungspflicht auf Feldweg - Cross-Country-Bereich
(Symbolfoto: Von Brian A Jackson/Shutterstock.com)

Die Beklagten zu 2) und 3) sind gemäß § 823 Abs. 1 BGB als zuständige Jagdpächter für die Verkehrssicherheit der Feldheckabsperrung verantwortlich und deshalb aufgrund Verletzung eigener Verkehrssicherungspflichten zum Schadenersatz verpflichtet. Bei dem Ziehharmonika-Heck handelt es sich um eine „jagdliche Einrichtung“ i.S.von § 26 Abs. 1 Landesjagdgesetz SH (LJagdG SH). Bei jagdlichen Einrichtungen handelt es sich um sonderrechtsfähige Sachen, welche ihrer Beschaffenheit nach nur vorübergehend entsprechend ihrer jagdlichen Widmung an einem bestimmten Ort aufgestellt werden und im Eigentum des Revierinhabers bleiben (Landgericht Lüneburg, Urteil vom 14.01.1988, 4 S 36/86, RDL 1990, 94-95). Der Begriff einer jagdlichen Einrichtung ist im Sinne von § 2 LJagdG SH weit auszulegen. Danach sollen Jagdausübungsberechtigte im Rahmen einer naturnahen Reviergestaltung bevorzugt u.a. eine Erhaltung, Verbesserung und Vermehrung von Wildtierlebensräumen und die Schaffung von naturnahen Deckungszonen durchführen.

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme diente die streitgegenständliche Feldheckabsperrung zumindest auch jagdlichen Zwecken, nämlich eine Ruhezone für das Wild in dem dahinter liegenden Bereich einzurichten. Unstreitig befindet sich hinter der Feldheck-Absperrung das sog. „…“ und ein Wildacker, auf dem die Beklagten zu 2) und 3) ihren Jagdwagen abgestellt hatten. Die Zeugen C. und B. haben übereinstimmend bekundet, dass der ursprüngliche Jagdpächter A. ein Interesse an der Absperrung in seiner Funktion als Jagdpächter hatte, um dahinter eine Ruhezone für das Wild einzurichten. Der Zeuge C. hat ferner bekundet, dass es in der Feldmark mehrere solcher Absperrungen gab, um die sich jeweils die Jäger kümmerten. Die Beklagten zu 2) und 3) haben in ihrer Eigenschaft als Jagdpächter (Jagdpachtvertrag vom …, Bl. 85-88 der Ermittlungsakte; Verlängerung für weitere 9 Jahre vom …) die Feldheck-Absperrung von dem vorherigen Jagdpächter übernommen. Der Beklagte zu 2) war nach eigenen Angaben schon seit dem 01.04.1988 unter anderem mit dem Vorpächter A. als Jagsausübungsberechtigter in dem Revier regelmäßig unterwegs (nach eigenem Vortrag circa 1-2 Mal alle 14 Tage). Der Beklagte zu 3) ist seit 1997 offizieller Jagd(mit)pächter und nutzte das Revier – mithin auch die streitgegenständliche Feldheck-Absperrung – nach eigenen Angaben durchschnittlich einmal pro Woche. Für ihre Verantwortlichkeit kommt es nicht darauf an, ob sie persönlich an der Errichtung der Feldheck-Absperrung beteiligt waren und/oder in der Folgezeit auch Drähte erneuert haben. Vielmehr diente die Feldheck-Absperrung zumindest auch der Schaffung bzw. dem Erhalt einer naturnahen Deckungs- und Ruhezone für das Wild und beide Jagdpächter haben den Feldweg und damit auch die Feldheck-Absperrung regelmäßig zur Ausübung der Jagd genutzt. Auch ihnen hätte deshalb bei gehöriger Aufmerksamkeit (§ 276 BGB) die mangelnde Verkehrssicherheit der Absperrung insbesondere für Fußgänger und Radfahrer auffallen müssen und sie hätten – neben der verantwortlichen Gemeinde – auch für entsprechende Abhilfe sorgen können. Der doppelt über die gesamte Breite des Weges gespannte, verzinkte Stacheldraht war nicht nur schlecht zu sehen, sondern stellte insbesondere auch für Wild und Mensch eine besondere Gefahrenquelle dar. Dabei ist unerheblich, dass der Feldweg in der Regel nur von den anliegenden drei Landwirten, Jägern, Fußgängern und einem Imker genutzt worden ist. Vielmehr hätten die Beklagten zu 2) und 3) im Zuge des veränderten Freizeitverhaltens und wegen der Nähe zur Großstadt X. auch mit Mountainbike-Fahrern in der Feldmark rechnen müssen. Sie haben deshalb – neben der Gemeinde – eigene Verkehrssicherungspflichten als Jagdpächter fahrlässig verletzt.

2. Ein Mitverschulden des Klägers im Sinne von § 254 Abs. 1 BGB – das nach den Erwägungen des Bundesgerichtshofs ohnehin nur zu einer Anspruchsminderung von allenfalls 25 % führen könnte, und sich allein auf den Umstand der Verwendung von Klickpedalen auf einem „holprigen“ Feldweg beziehen könnte (BGH, a.a.O. Rn. 47/48) – scheidet nach dem Ergebnis der ergänzenden Beweisaufnahme sowie der persönlichen Anhörung des Klägers aus. Ohnehin wäre ein Mitverschulden nur einer der Bemessungsfaktoren eines zuzuerkennenden Schmerzensgeldes gewesen.

Nach den schriftlichen und mündlichen Ausführungen des Sachverständigen Dipl.-Ing. M. sowie der Anhörung des Klägers ergibt sich weder aus der generellen Verwendung des Klickpedalsystems am Unfalltag noch aus der konkreten Art und Weise der Benutzung des Systems durch den Kläger der Vorwurf eines Mitverschuldens im Sinne der Verletzung einer dem Kläger sich selbst gegenüber bestehenden Obliegenheit.

Der Sachverständige Dipl.-Ing. M. hat in seinem schriftlichen Gutachten ausgeführt, dass die Nutzung der Klickpedale statt der „normalen“ Pedale auf einem unebenen und unbefestigten Feldweg („Cross-Country-Bereich“) grundsätzlich nicht zu beanstanden sei. Sowohl das vom Geschädigten verwendete Fahrrad als auch das Klickpedalsystem des Herstellers Shimano mit der Handelsbezeichnung PD-A 530 seien für den Einsatz im Cross-Country-Bereich vorgesehen; die vom Geschädigten seinerzeit verwendeten Mountainbikeschuhe (Hersteller Diadora, Handelsbezeichnung X-Country 2) seien für die Verwendung in dem Klickpedalsystem geeignet gewesen.

Für die Verwendung der „normalen“ Pedalseite hingegen sei das Schuhwerk weniger gut geeignet gewesen. Die sog. Flatpedalseite hätte der Geschädigte aber angesichts der zum Unfallzeitpunkt herrschenden Boden- und Sichtverhältnisse auch nicht nutzen müssen. Es sei für den erfahrenen Nutzer eines Klickpedalsystems auch nicht üblich, im Wald und/oder auf unbefestigten, unebenen und unbekannten Feldwegen statt des Klickpedalsystems die „normalen“ Pedalen zu benutzen.

Ein Nachteil der Nutzung von Klickpedalen ist zwar, dass das Lösen der Füße aus dem Pedalsystem eine gewisse Zeit in Anspruch nimmt. Diese Zeitspanne hat der Sachverständige aufgrund eigener Versuche, in Ermangelung in der Literatur vorhandener Daten, mit etwa 0,2 Sekunden angegeben. Ermittelt hat der Sachverständige diesen Wert mit Hilfe eines erfahrenen Mountainbike-Fahrers.

Selbst wenn der Kläger jedoch die „normale“ Pedalseite (Flatpedal) – ggf. mit dafür geeignetem Schuhwerk – genutzt hätte, hätte er mit höherer Wahrscheinlichkeit einen Überschlag und den Sturz in das Stacheldrahthindernis nicht verhindern können; der Unfallhergang wäre – so der Sachverständige – im Wesentlichen wegen der Behinderung durch den Draht identisch gewesen.

Der Kläger hat erklärt, bei Übernahme des Fahrrades durch ihn seien die Klickpedalen bereits am Fahrrad montiert gewesen. Die Federspannung (Auslösehärte) der Pedale sei vom Fahrradhändler eingestellt gewesen. Mit dieser voreingestellten Federspannung sei er gut zurechtgekommen. Er erinnere nicht, ob er diese überhaupt bis zum Unfalltage verstellt habe. Seine Fahrradtouren nach Übernahme des Fahrrades habe er auch dazu genutzt, quasi „drillmäßig“ das Ein- und Ausklicken aus den Pedalen zu trainieren, beispielsweise vor roten Ampeln bis zu 10 Mal pro Seite. Zwar verkennt der Senat nicht, dass der Kläger ein (erhebliches) Eigeninteresse an dem Ausgang dieses Rechtsstreits hat. Gleichwohl hält der Senat seine Angaben für glaubhaft. So ist es ohne weiteres nachvollziehbar, dass er sich nach mehr als neun Jahren, in denen sein Leben durch den tragischen Unfall quasi „auf den Kopf“ gestellt wurde, nicht mehr daran erinnern konnte, ob er überhaupt nach Übernahme des Fahrrades die Einstellung der Federspannung an den Klickpedalen verändert hatte. Weiter hat er angegeben, mit der vom Fahrradhändler ausgeführten Voreinstellung der Federspannung sei er gut zurechtgekommen. Dies korrespondiert mit den Angaben des Sachverständigen M., der im Hinblick auf die Auslösespannung der Klickpedale ausgeführt hat, dass ein Fahrer, der mit einer Einstellung gut zurechtkommt, diese auch beibehalte. Aus seiner eigenen Erfahrung wisse er, dass die Differenzen bei der Einstellung auch relativ gering seien. Es sei auch nicht üblich, die Auslösespannungen bei einem Fahrrad, wie es der Kläger genutzt habe, jeweils zwischen Einsatz auf der Straße und im Cross-Country-Bereich zu verändern. Die als Werkseinstellung übliche „mittlere Einstellung“ sei für den Einsatz im Cross-Country-Bereich in Ordnung.

Insofern geht der Senat davon aus, dass der Kläger tatsächlich die voreingestellte Federspannung, mit der er ja gut zurechtkam, nicht geändert hat. Gleichfalls nimmt der Senat ihm ab, dass er „drillmäßig“ – wie er es ja als seinerzeitiger Marineoffizier gewohnt war -, das Ein- und Aussteigen aus den Klickpedalen geübt hat.

Da der Kläger – unstreitig – das Fahrrad nahezu täglich für seine Fahrten zum Dienst und an den Wochenenden für Fahrten in die Umgebung genutzt hat, war er zum Unfallzeitpunkt jedenfalls nicht mehr unerfahren im Umgang mit dem Mountainbike und dem Klickpedalsystem.

Dem Kläger kann danach nicht der Vorwurf eines individuellen Fehlverhaltens bei der konkreten Nutzung des Klickpedalsystems zum Unfallzeitpunkt gemacht werden.

Nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Dipl.-Ing. M. bestand auch grundsätzlich kein Anlass, in der konkreten Situation vor dem Unfall das Klickpedalsystem nicht zu nutzen. Insoweit stimmen im Übrigen der gerichtlich bestellte Sachverständige Dipl.-Ing. M. und der Parteigutachter Dipl.-Ing. W. überein; letzterer hat in seiner Stellungnahme vom 24.03.2021 (Bl. 691 ff. d. A.) u.a. ausgeführt (Bl. 695 d. A.): „… Die weiteren Ausführungen des Sachverständigen M., wonach die Verwendung eines Klickpedalsystems im Cross-Country-Einsatz vorgesehen und durchaus üblich sei, trifft grundsätzlich zu…“.

Wie auch der Sachverständige Dipl.-Ing. M. weist zwar der Sachverständige Dipl.-Ing. W. darauf hin, dass die mit der Nutzung der Klickpedale einhergehende Zeitverzögerung beim Lösen der Füße von den Pedalen sich generell in Gefahrensituationen negativ auswirken kann. Indes verbietet es sich, dieses unzweifelhaft vorhandene Zeitmoment dem Kläger als Mitverschulden im Sinne von § 254 Abs. 1 BGB anzurechnen.

Der Bundesgerichtshof hat es in dem Urteil vom 23.04.2020 abgelehnt, dem Kläger eine (mögliche) Fehlreaktion auf das plötzlich auftauchende Hindernis als Obliegenheitsverstoß vorzuwerfen (a.a.O., Rn. 44 – 46). Dies mit der Begründung, er sei ohne sein Verschulden in eine für ihn nicht vorhersehbare Gefahrenlage geraten. War aber aus objektiver Sachverständigensicht die Nutzung des Klickpedalsystems in der konkreten Situation nicht zu beanstanden und kann dem Kläger angesichts des plötzlich auftauchenden Drahthindernisses eine fehlerhafte Reaktion nicht zum Vorwurf gemacht werden, ist damit auch die durch die Verwendung des Klickpedalsystems notwendig verbundene Auslöseverzögerung von rund 0,2 Sekunden kein Umstand, der geeignet wäre, einen Mitverschuldensvorwurf zu begründen. Diese nicht zu vermeidende Auslöseverzögerung ist in das Risiko der Verwendung eines Klickpedalsystems gleichsam eingepreist.

Nur hilfsweise weist der Senat darauf hin, dass es auch, selbst wenn statt der Verwendung des Klickpedalsystems die Verwendung der „normalen“ Pedalseite angezeigt gewesen wäre, an der Kausalität der Klickpedalverwendung für den Sturz und dessen Folgen fehlen würde.

Der Sachverständige M. hat auch insoweit überzeugend schon in seinem schriftlichen Gutachten vom 24.02.2021 ausgeführt, dass der Geschädigte einen Überschlag und den Sturz in das Stacheldrahthindernis mit höherer Wahrscheinlichkeit nicht hätte verhindern können. Auch bei Nutzung der Flatpedalseite wäre nämlich das Vorschwingen der Beine wahrscheinlich durch den Draht behindert worden.

Der Privatsachverständige Dipl.-Ing. W. sieht das in seiner Stellungnahme vom 24.03.2021 grundsätzlich genauso (Bl. 669 d. A.). Indes vertritt der Privatsachverständige hinsichtlich der Folgen eines Sturzes unter Verwendung der „normalen“ Pedalseite die Auffassung, der senkrechte Kopfaufprall des Geschädigten wäre „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ nicht eingetreten, weil die Rotation des Körpers abgemildert worden wäre. Der Sachverständige M. hat sich mit dieser These im Rahmen seiner mündlichen Erläuterung des Gutachtens am 07.09.2021 intensiv auseinandergesetzt; dies u.a. auch durch die im Termin überreichte Tischvorlage (Bl. 734 ff. d. A.). Anschaulich und nachvollziehbar hat der Sachverständige M. dabei anhand der Skizzen über den möglichen Hergang des Sturzes herausgearbeitet, dass und warum – entgegen den Annahmen des Privatsachverständigen Dipl.-Ing. W. – sich auch bei Verwendung der „normalen“ Pedale ein im Wesentlichen gleicher Unfallablauf mit vergleichbaren Folgen ergeben hätte. Selbst wenn es dem Geschädigten nämlich noch gelungen wäre, seine Beine und Arme nach vorne zu schwingen, um den Sturz doch noch abzufangen, wären jedenfalls die Arme durch das Stacheldrahthindernis quasi abgefangen worden, mit der Folge, dass auch dann der Geschädigte mit dem Kopf voran auf den Boden aufgeschlagen wäre. Im Übrigen steht weder fest, ob die Füße nach dem Sturz noch eingeknickt waren, noch wie genau und ggf. mit welchem Winkel der Geschädigte mit dem Kopf aufgeprallt ist.

Dagegen haben letztlich weder der beratend für die Beklagte zu 1) im Sitzungssaal anwesende Privatsachverständige Dipl.-Ing. W. noch die Beklagte zu 1) selbst remonstriert.

Ein Mitverschulden des Geschädigten nach § 254 BGB lässt sich nach alledem nicht feststellen.

3. Der Senat hält ein Schmerzensgeld in Höhe von (insgesamt) 800.000,00 € für angemessen, aber auch ausreichend.

Die ursprüngliche Mindestvorstellung des Klägers hinsichtlich des Schmerzensgeldes, die sich auf 500.000,00 € belief, bindet den Senat nicht, vielmehr ist dem Gericht nach allgemeiner Meinung „nach oben keine Grenze gezogen“ (Zöller-Greger, ZPO, 33. Aufl., § 253, Rn. 14 m.w.N.). Ohnehin hatte der Kläger mit Schriftsatz vom 23.04.2021 hinsichtlich der Höhe eines zuzuerkennenden Schmerzensgeldes darauf hingewiesen, dass u.a. bei Schwerstschäden die Tendenz in der Rechtsprechung zu deutlich höheren Schmerzensgeldbeträgen geht, zudem zu berücksichtigen sein dürfte, dass in der weiter anhaltenden Niedrigzinsphase kaum Möglichkeiten bestehen, auskömmliche Erträge durch Anlage eines Schmerzensgeldbetrages zu erzielen.

Auch dieser Umstand sei ggf. erhöhend zu berücksichtigen.

Trotz des ergänzenden Antrages des Klägers, ggf. auch auf eine Schmerzensgeldrente zu erkennen (zur Notwendigkeit eines solchen Antrages vgl. Jäger/Luckey, Schmerzensgeld, 10. Aufl. 2020, Rn. 38 und 1738, jeweils m.w.N.) hat der Senat davon abgesehen, neben dem üblichen einmaligen Kapitalbetrag zusätzlich auf eine Schmerzensgeldrente zu erkennen, wobei in der Summe sich diese Beträge ohnehin rechnerisch entsprechen müssen. Dem liegt insbesondere zugrunde, dass der Kläger im Rahmen seiner persönlichen Anhörung geäußert hat, er wolle (möglicherweise) „von dem Geld einen behindertengerecht umgebauten Fernreisebus anschaffen“; dies zur Begleitung seines sozialen Engagements für behinderte Kinder in Russland.

Im Hinblick darauf hält es der Senat für richtig, von der Verrentung eines Teils des zuzuerkennenden Schmerzensgeldes abzusehen und dem Kläger – wie üblich – einen einmaligen Kapitalbetrag zuzusprechen.

Bei der Bemessung des Schmerzensgeldbetrages hat sich der Senat von folgenden Erwägungen leiten lassen:

Der jetzt 44 Jahre alte Kläger hat im Alter von 35 Jahren ohne jedes Verschulden schwerste Verletzungen erlitten. Der Kläger ist von einem Moment auf den anderen aus einem aktiven Berufsleben mit ebenso aktiver Freizeitgestaltung zu einem lebenslangen Schwerstpflegefall geworden. Sein Leben ist in jeder Hinsicht vollständig „auf den Kopf“ gestellt worden. Er bedarf zeitlebens einer Rund-um-die Uhr-Betreuung, wobei er seine Pflege durch mittlerweile neun Betreuungskräfte auch noch im Rahmen eines Arbeitgebermodells selbst organisieren muss.

Der Senat hat sich durch die Anhörung des Klägers im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 07.09.2021 erneut selbst ein Bild von der aktuellen Situation des Klägers machen können. Irgendwelche gesundheitlichen Verbesserungen sind dabei erkennbar nicht eingetreten, vielmehr ergeben sich aus der Tatsache, dass der Kläger zur Fortbewegung auf einen hochtechnisierten Rollstuhl, den er mit dem Kinn steuert, angewiesen ist, weitere negative gesundheitliche Folgen. Glaubhaft hat der Kläger geschildert, dass er mittlerweile häufiger an Schmerzattacken leidet, dadurch bedingt an Schlaflosigkeit und Konzentrationsschwierigkeiten. Seine Inkontinenzprobleme haben sich in den letzten Jahren deutlich verschlechtert. Hinzu kommen psychische Probleme in Form von Depressionen und einer Angststörung. Die Beziehung zu seiner ehemaligen Freundin ist an den äußerst schwierigen Umständen nach dem Unfall zerbrochen; die Familienbeziehung des Klägers zu seinem Vater ebenfalls, weil der „das Elend nicht jeden Tag mehr mit ansehen konnte“.

Dem Senat ist klar, dass der immaterielle „Schaden“, also das unfallbedingte Leid des Klägers, mit Geld überhaupt nicht aufzuwiegen ist. Auch kommt in Fällen wie diesen die im Vordergrund stehende Ausgleichsfunktion des Schmerzensgeldes naturgemäß nur beschränkt zur Wirkung.

Gleichwohl möchte das ausgeurteilte Schmerzensgeld dem Kläger, der ansonsten materiell zumindest weitgehend über seinen ehemaligen Dienstherrn abgesichert zu sein scheint, sonst nicht finanzierbare Annehmlichkeiten ermöglichen, die unter Umständen geeignet sind, seine Situation ein wenig erträglicher zu gestalten. Dazu könnte die Anschaffung eines behindertengerecht eingerichteten Fernreisebusses – wie vom Kläger beabsichtigt – beitragen. Trotz seiner schwerwiegenden physischen und psychischen Beeinträchtigungen ist der Kläger offenbar gewillt, sein Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen. Dazu gehört auch sein umfangreiches soziales Engagement und die Aufnahme eines Studiums an der … Universität.

Der zuerkannte Schmerzensgeldbetrag bewegt sich an der oberen Grenze dessen, was in der bundesdeutschen Rechtsprechung an Schmerzensgeldern zuerkannt wird. Unabhängig von der allgemeinen – vom erkennenden Senat gebilligten – Tendenz, bei schwersten Dauerschäden – wie hier – (deutlich) höhere Schmerzensgelder zuzubilligen (vgl. Jaeger/Luckey, Schmerzensgeld 10. Aufl. Rn 16 m.w.N.) als in der Vergangenheit, passt sich der dem Kläger zuerkannte Betrag gleichwohl auch in die Rechtsprechung zur Schmerzensgeldhöhe ein.

So hat bereits das LG Kiel im Jahre 2003 (LG Kiel 6 O 13/03, Urteil vom 11.07.2003; rechtskräftig) in einem ähnlichen Fall einem zum Unfallzeitpunkt 3-jährigen Kind einen Schmerzensgeldkapitalbetrag von 500.000,-€ zuzüglich einer monatlichen Schmerzensgeldrente von 500,-€ zuerkannt. In jüngerer Zeit hat das OLG Oldenburg (5 U 196/18, Urteil vom 18.03.2020; MedR 2020, S. 926 ff.) einem durch ärztliche Behandlungsfehler dauerhaft schwerstgeschädigten Kind ein Schmerzensgeld von 800.000,-€ zugesprochen.

Weiter ist zu berücksichtigen, worauf auch Jaeger in seiner Besprechung des Urteils des OLG Oldenburg (MedR 2020, S. 930 ff) hinweist, dass infolge einer deutlich über 2% liegenden Inflationsrate und bei einer Anlage des Geldes in banküblicher Form zu zahlender Negativzinsen Kapitalbeträge permanent an Wert verlieren, was bei der Zumessung eines Kapitalbetrages unter den derzeitigen Kapitalmarktbedingungen zu dessen Erhöhung führen muss.

Nach dem Vorstehenden rechtfertigt sich auch das Feststellungsbegehren hinsichtlich etwaiger materieller und weiterer immaterieller Schäden nach § 276 ZPO. Es liegt auf der Hand, dass der Kläger aufgrund seiner unfallbedingten Verletzungen u.a. vermehrte Bedürfnisse i. S. v. § 843 Abs. 1 BGB hat, die derzeit noch außergerichtlich geltend gemacht werden.

Zinsen, wie zuerkannt, gebühren dem Kläger gemäß § 288 Abs. 1 BGB.

Hinsichtlich der vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten ist der Ansatz einer 2,0 Gebühr nicht zu beanstanden. Nach einem Streitwert von 1,3 Mio. € errechnet sich der geltend gemachte und zuerkannte Betrag.

Die Nebenentscheidungen folgen aus den §§ 91, 91 a, 708 Nr. 10 und 711 ZPO.

Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.

 

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