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Fahrtenbuchauflage – Verfahrenseinstellung wegen Nichtermittelbarkeit des Fahrers

Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen, Az.: 2 BA 20/94, Urteil vom 26.10.1994

Tatbestand

Der Kläger ist Halter des Pkws mit dem amtlichen Kennzeichen HB-. Gegen den Fahrer dieses Fahrzeuges erstattete H S als betroffener Verkehrsteilnehmer am 24.10.1992 Anzeige wegen Verkehrsgefährdung und Nötigung. Er gab dazu die folgende Schilderung des Tatherganges (Bl. 1 Rückseite der Akte der Staatsanwaltschaft Lübeck):

Ich befuhr mit meinem Pkw Audi 100, amtl. Kennz. RZ-, in Höhe des u. g. Km den linken Fahrstreifen der dreispurigen BAB 1 mit einer Geschwindigkeit von ca. 180 km/h – abgelesen vom serienmäßigen Tachometer meines Pkw – in Richtung Norden und überholte mehrere den mittleren Fahrstreifen befahrende Pkw. In Höhe des u.g. Km fuhr der Beschuldigte mit seinem Pkw so dicht auf mein Fahrzeug auf, daß ich dessen vorderes Fahrzeugkennzeichen nicht mehr in meinem Rückspiegel erkennen konnte. Er setzte den Fahrtrichtungsanzeiger links und betätigte die Lichthupe. Ich gestikulierte meine Absicht, nicht bei einer Geschwindigkeit von ca. 180 km/h abbremsen und auf den mittleren Fahrstreifen ausweichen zu wollen. Ich fuhr dann weiter auf dem linken Fahrstreifen, bis sich mir die Möglichkeit bot, wieder auf den mittleren Fahrstreifen überzuwechseln, ohne dabei meine Geschwindigkeit stark verringern zu müssen. Als ich nach rechts ausscheren wollte, befand sich das Fahrzeug des Beschuldigten rechts neben mir, leicht nach hinten versetzt. Dieser muß versucht haben, mich rechts zu überholen. Ich fuhr wieder auf den linken Fahrstreifen zurück und ließ den Beschuldigten mich rechts überholen.

Bei seiner polizeilichen Vernehmung am 09.12.1992 erklärte S, daß der Fahrer ungefähr zwischen 44 und 50 Jahre alt gewesen sei, weitere Erkennungsmerkmale könne er nicht benennen.

Der Kläger äußerte sich nicht zur Sache. Er ließ am 11.01.1993 erklären, daß er von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch mache. Die Staatsanwaltschaft Lübeck stellte daraufhin das Verfahren mit der Begründung ein, der Fahrer könne nicht ermittelt werden, da S den Fahrer nicht so genau erkennen könne, daß eine zweifelsfreie Identifizierung möglich wäre.

Mit Verfügung vom 13.05.1993 ordnete die Beklagte für das Kraftfahrzeug das Führen eines Fahrtenbuches für die Dauer von 12 Monaten an.

Den dagegen eingelegten Widerspruch wies der Senator für Inneres und Sport mit Widerspruchsbescheid vom 10.06.1993 – dem Kläger zugestellt am 16.06.1993 – zurück. Der Kläger hat am 15.07.1993 Klage erhoben und im wesentlichen geltend gemacht, daß die Feststellung des Fahrers nicht unmöglich gewesen sei. Der Kläger hat beantragt die Verfügung der Beklagten vom 13.05.1993 und den Widerspruchsbescheid aufzuheben.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie hat daran festgehalten, daß wegen der vagen Angaben des Beteiligten S eine Täterfeststellung nicht möglich gewesen sei.

Durch Urteil vom 28.04.1994 hat das Verwaltungsgericht die Anordnung aufgehoben.

Gegen das der Beklagten am 17.05.1994 zugestellte Urteil hat sie am 02.06.1994 Berufung eingelegt, die sie im wesentlichen wie folgt begründet: Bei einer Straftat, wie sie von dem Fahrer des dem Kläger gehörenden Pkw begangen worden sei, sei davon auszugehen, daß die Staatsanwaltschaft wegen des insoweit bestehenden Verfolgungszwanges alle zur Aufklärung erforderlichen und geeigneten Maßnahmen veranlaßt habe. Stelle sie das Ermittlungsverfahren ein, weil der Täter nicht zu ermitteln sei, so müsse auch i. S. des § 31 a StVZO die Täterfeststellung als unmöglich erachtet werden. Die Auffassung des Verwaltungsgerichts, als zusätzliche, unterbliebene Aufklärungsmaßnahme hätte es sich angeboten, den Kläger rechtzeitig dem Zeugen S gegenüberzustellen bzw. ihm Lichtbilder vorzulegen, lasse außer Acht, daß der Beweiswert einer solchen Gegenüberstellung oder erkennungsdienstlichen Maßnahme nur gering gewesen wäre. Nach der Aussage S vom 09.12.1992, er könne keine weitere Täterbeschreibung geben, habe eine Gegenüberstellung oder die Vorlage von Lichtbildern nicht zur Täterfeststellung führen können. Den Erfolg einer solchen Maßnahme lasse bezeichnenderweise auch das Verwaltungsgericht offen. Darüber hinaus verkenne es den erheblichen Aufwand des von ihm für erforderlich erachteten Lichtbildervergleichs. Ein derart aufwendiges Verfahren zu verlangen, sei unangemessen und unverhältnismäßig. Wäre es erforderlich, könnte dies eine Fahrtenbuchauflage nur noch in wenigen Ausnahmefällen rechtfertigen.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Verwaltungsgerichts aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das Urteil für zutreffend und führt ergänzend aus:

Eine Vernehmung des Zeugen S sei geboten gewesen, da keine Anzeichen dafür vorgelegen hätten, daß er den Fahrer unter keinen Umständen wiedererkennen könne. Aus seiner Altersangabe sei zu schließen, daß er den Fahrer genauer gesehen haben müsse. Darüber hinaus hätte auch der Kläger selbst als Zeuge vernommen und erkennungsdienstlich behandelt werden müssen. Ferner sei der Kläger zu dem Vorfall zu spät gehört worden. Schließlich sei die Fahrtenbuchauflage auch zu lang bemessen.

Wegen des Sachverhalts im übrigen wird ergänzend auf die Gerichtsakte sowie den Inhalt der Behördenakte und der Akte der Staatsanwaltschaft Lübeck 778 Js 40863/92 Bezug genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung war, soweit das Urteil darauf beruht.

Entscheidungsgründe

Die Berufung ist begründet. Die angefochtene Fahrtenbuchauflage ist rechtmäßig. Der gegenteiligen Auffassung des Verwaltungsgerichts vermag der Senat nicht zu folgen. Sie beruht auf einer falschen Einschätzung der Aufklärungsmöglichkeit, die im vorliegenden Fall zur Fahrerfeststellung bestand.

Zur Feststellung des Fahrers stand als Beweismittel allein die Kenntnis des Tatbeteiligten S als Zeugen zur Verfügung. Zur Täterbeschreibung konnte er bei seiner Vernehmung am 09.12.1992 lediglich angeben, der Fahrer sei ungefähr zwischen 44 u. 50 Jahre alt gewesen. Diese vage Angabe reichte für eine Identifizierung des Fahrers allein nicht aus. Dafür, daß eine nochmalige Vernehmung eine zusätzliche Aufklärung erbracht hätte, bestehen keine Anhaltspunkte. Die das Urteil tragende Erwägung des Verwaltungsgerichts bei einer früheren Vernehmung (Tatzeit 24.10.1992) und der Vorlage von Lichtbildern hätte der Zeuge den Kläger als Fahrer möglicherweise wiedererkennen können, beruht auf einer durch nichts näher belegten vagen Vermutung des Verwaltungsgerichts, die den Tathergang außer Acht läßt. Danach spielte sich der Vorgang bei einer Geschwindigkeit von 180 km/h auf dem linken Überholstreifen einer dreispurigen Autobahn ab. Schon diese Geschwindigkeit verlangte eine hohe Konzentration auf Fahrbahn und Verkehr. Durch die riskante Fahrweise des zunächst dicht aufgefahrenen und dann rechts überholenden Fahrzeuges mußte sich S in hohem Maße bedrängt und irritiert fühlen. Um es nicht zu einem Unfall kommen zu lassen, bedurfte es zusätzlicher höchster Konzentration auf das Verkehrsgeschehen. In dieser Situation hatte S weder Zeit noch die Möglichkeit, seine Aufmerksamkeit auf das Aussehen des Fahrers zu richten und es sich einzuprägen, um ihn als Zeuge später mit der nötigen Bestimmtheit identifizieren zu können. Der Eindruck, den er von dem Fahrer erhielt, kann darum nur ein flüchtiger gewesen sein. Realitätssinn und Lebenserfahrung sprechen daher für die Richtigkeit der Einschätzung der Staatsanwaltschaft Lübeck, daß bei dieser Sachlage eine zweifelsfreie Ermittlung des Fahrers nicht möglich sei. Diese Realitätsnähe läßt das Verwaltungsgericht vermissen, wenn es lediglich aufgrund hypothetischer Überlegungen meint, rechtzeitig durchgeführte Ermittlungen hätten zu einer Aufklärung führen können. Der Beklagten ist einzuräumen, daß das Verwaltungsgericht damit die Anforderung an die gebotene Täterfeststellung überspannt, indem es unverhältnismäßig aufwendige Maßnahmen verlangt, deren Erfolg ungewiß ist. Derartige Maßnahmen auf Verdacht vorzunehmen, verlangt § 31a StVZO nicht (BVerwG B. 21.10.87 – Buchholz 442.16, § 31a StVZO Nr. 18; OVG Bremen, U. v. 03.08.93 – NVwZ 94, 168; U. v. 02.02.1993 – 1 BA 57/92; B. v. 05.09.94 – 2 BA 23/94)

Soweit der Kläger geltend macht, die notwendige Aufklärung sei deshalb unterblieben, weil weder er noch seine Familienangehörigen vernommen worden seien, muß er sich entgegen halten lassen, daß er sich gegenüber der Staatsanwaltschaft auf sein Aussageverweigerungsrecht berufen hat. Damit war von ihm eine sachdienliche Mitwirkung an der Täterfeststellung nicht zu erwarten. Dafür, daß Familienangehörige dazu in der Lage und bereit gewesen wären, gab und gibt es keinerlei Hinweise. Die Staatsanwaltschaft durfte daher von derartigen, nicht erfolgversprechenden Aufklärungsversuchen absehen.

Zu eigenen und zusätzlichen Ermittlungen war die Beklagte entgegen der Meinung des Verwaltungsgerichts nicht verpflichtet. § 31a StVZO läßt die Fahrtenbuchauflage zu, wenn nach einer Zuwiderhandlung gegen Verkehrsvorschriften die Feststellung des Täters nicht möglich war, und zwar der für die Ahndung des Verkehrsverstoßes zuständigen Behörde, so daß deshalb der Fahrer von ihr nicht zur Verantwortung gezogen werden konnte. Da es sich im vorliegenden Fall bei dem Verkehrsverstoß um eine Straftat handelt, war für die Ermittlung des Täters zuständig die Staatsanwaltschaft. Sie hat eine Identifizierung des Fahrers für nicht möglich erachtet. Bei einem solchen Sachverhalt, kann es nicht darauf ankommen, ob der die Fahrtenbuchauflage verhängenden Verwaltungsbehörde zusätzliche Aufklärungsmöglichkeiten zur Verfügung standen. Davon hängt die Rechtmäßigkeit der Fahrtenbuchauflage nicht ab. § 31a StVZO setzt voraus, daß die Täterfeststellung nicht möglich war. An dieses negative Ermittlungsergebnis knüpft die Fahrtenbuchauflage an. Der Verwaltungsbehörde obliegt es daher nicht, ihrerseits Ermittlungen anzustellen und gegebenenfalls die Ermittlungstätigkeit der für die Aufklärung von Ordnungswidrigkeiten und Straftaten zuständigen Stellen nachzubessern. Vielmehr beschränkt sich ihre Prüfungspflicht vor Erteilung einer Fahrtenbuchauflage lediglich darauf festzustellen, ob die Identifizierung des Fahrers deshalb unterblieben ist, weil naheliegende und erfolgversprechende Beweismittel nicht berücksichtigt worden sind. Darauf ist auch die gerichtliche Überprüfung beschränkt. Davon, daß der Staatsanwaltschaft Lübeck im vorliegenden Fall zusätzliche, nicht ausgeschöpfte Beweismöglichkeiten zur Feststellung des Fahrers zur Verfügung gestanden hätten, vermag sich der Senat aus den dargelegten Gründen nicht zu überzeugen.

Soweit der Kläger rügt, er sei zu spät gehört worden, ist dieser Einwand deshalb unbeachtlich, weil nicht erkennbar ist, daß sich bei früherer Anhörung die Täterfeststellung hätte ermöglichen lassen.

Schließlich ist auch die Dauer der Fahrtenbuchauflage rechtlich nicht zu beanstanden. Sie wird durch die Schwere des verkehrswidrigen Verhaltens und das dadurch begründete besondere öffentliche Interesse gerechtfertigt, über einen längeren Zeitpunkt hin einen Fahrer ermitteln zu können, der in der Lage ist, das Fahrzeug des Klägers zu benutzen, und sich dabei zu einer im hohen Maße verkehrsgefährdenden Fahrweise hinreißen läßt.

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