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Irrtumsanfechtung einer gerichtlichen Vergleichs aufgrund eines Hörfehlers

LG Berlin – Az.: 19 O 219/19 – Beschluss vom 10.08.2020

1. Die Kosten des Rechtsstreits werden gegeneinander aufgehoben.

2. Der Streitwert wird auf 430.000,00 € festgesetzt.

Gründe

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91a Abs. 1 Satz 1 ZPO.

1. Die Parteien haben den Rechtsstreit übereinstimmend für erledigt erklärt. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat die Hauptsache mit Schriftsatz vom 29.06.2020 für erledigt erklärt sowie der Prozessbevollmächtigte der Beklagten (bereits) mit Schriftsatz vom 25.06.2020. Es ist unerheblich, dass der Beklagte die Erledigung zeitlich vor dem Kläger erklärt hat, da es nicht auf die Reihenfolge der Erledigungserklärungen ankommt, sondern nur darauf, dass diese abgegeben wurden, was hier der Fall ist.

2. Die Kostenregelung entspricht der in der mündlichen Verhandlung vom 25.06.2020 protokollierten Vereinbarung der Parteien (vgl. Verhandlungsprotokoll, Bl. 85 d.A.).

Diese Vereinbarung ist wirksam und insbesondere nicht aufgrund der Anfechtungserklärung des Prozessbevollmächtigten des Klägers wegen Irrtums gemäß §§ 142 I, § 119 I BGB als von Anfang an nichtig anzusehen.

a) Der Anwendbarkeit der materiell-rechtlichen Anfechtungsvorschriften steht vorliegend nicht entgegen, dass es sich bei der angefochtenen Erklärung um eine zu Protokoll abgegebene und genehmigte Erklärung des Anfechtenden handelt.

aa) Nach der prozessrechtlichen Vorschrift des § 165 ZPO ist gegen den Inhalt von Protokollförmlichkeiten nur der Nachweis der Fälschung zulässig. Bei der vorliegend angefochtenen Erklärung, mit der sich beide Prozessbevollmächtigten der Parteien für den Fall einer Entscheidung nach § 91a ZPO mit einer gegenseitigen Kostenaufhebung einverstanden erklärt haben, handelt es sich nicht um eine Prozessförmlichkeit, wie dies etwa die den äußeren Ablauf der Verhandlung betreffenden Feststellungen sind (§ 160 ZPO). Im Übrigen erstreckt sich die Beweiskraft des Protokolls nach § 165 ZPO ohnehin nur darauf, dass entsprechende Erklärungen abgegeben worden sind, nicht hingegen auf ihren jeweiligen Inhalt oder darauf, ob sie wirksam sind (vgl. BeckOK ZPO/Wendtland, 37. Ed. 1.7.2020 Rn. 5, ZPO § 165 Rn. 5).

bb) Auch Prozesshandlungen, wie z.B. die Anerkenntniserklärung gemäß § 307 ZPO, unterliegen nicht der Anwendbarkeit der Anfechtungsvorschriften. Dies beruht darauf, dass das Verfahrensrecht für Prozesshandlungen keine den §§ 119 ff. BGB entsprechenden Vorschriften enthält. Auch eine analoge Anwendung der für privatrechtliche Willenserklärungen geltenden Anfechtungsregeln scheidet aus, da das Prozessrecht die Verfahrenslage weitgehend vor Unsicherheit schützen will und deshalb einen Widerruf von Prozesshandlungen nur in – vorliegend nicht einschlägigen – Ausnahmefällen, wie im Fall des Geständniswiderrufs gemäß § 290 ZPO oder bei Vorliegen von Restitutionsgründen gemäß § 580 ZPO zulässt (vgl. BGH, Urteil vom 27.05.1981 – IVb ZR 589/80 -, BGHZ 80, 389-399, Rn. 9).

Die vorliegend angefochtene Erklärung ist keine Prozesshandlung, d.h. eine auf eine prozessrechtliche Wirkung abzielende, den Prozessablauf gestaltende oder bestimmende Handlung (vgl. Greger in: Zöller, ZPO, 33. Aufl. 2020, Vorb. zu §§ 128-252, Rn. 14). Vielmehr handelt es sich um eine materiell-rechtliche Erklärung des Prozessbevollmächtigten des Klägers, die zu einer vergleichsweise getroffenen Vereinbarung der Parteien über die Kostentragung geführt hat. Auf solche Erklärungen sind die §§ 119 ff. BGB anwendbar. Die vorliegend erfolgte Protokollierung der Genehmigung dieser Erklärung führt zu keiner anderen rechtlichen Bewertung, da der Umstand, ob bzw. dass eine Protokollierung erfolgt ist, für die Frage der Einordnung als Prozesshandlung unerheblich ist.

b) Die Anwendung der Anfechtungsvorschriften der §§ 119 ff. BGB führt vorliegend nicht zur Nichtigkeit der angefochtenen Erklärung.

aa) Die mit Schriftsatz des Prozessbevollmächtigten des Klägers vom 01.07.2020 erfolgte

Anfechtungserklärung richtete sich an das Landgericht Berlin und erfolgte damit nicht gegenüber dem richtigen Anfechtungsgegner (§ 143 BGB). Nach dem Inhalt der angefochtenen Erklärung hat sich der Prozessbevollmächtigte des Klägers für den Fall, dass eine Entscheidung nach § 91a ZPO ergeht, mit einer gegenseitigen Kostenaufhebung einverstanden erklärt. Diese Vereinbarung wurde ausweislich des Protokolls von beiden Prozessbevollmächtigten der Parteien genehmigt. Damit wäre die Anfechtungserklärung gemäß § 143 II BGB gegenüber dem Beklagten als dem anderen Vertragsteil zu erklären gewesen und nicht gegenüber dem Gericht, welches die abgegebenen Erklärungen lediglich protokolliert hat.

bb) Die Abschrift des Schriftsatzes vom 01.07.2020 wurde durch das Gericht von Amts wegen zwar an den Prozessbevollmächtigten des Beklagten übersandt und hat damit letztlich auch den richtigen Anfechtungsgegner noch erreicht. Insoweit wurde die Anfechtungsfrist des § 121 I BGB jedoch nicht gewahrt. Danach wäre die Anfechtungserklärung unverzüglich, d.h. ohne schuldhaftes Zögern nach Kenntnisnahme des Anfechtungsgrundes gegenüber dem (richtigen) Anfechtungsgegner zu erklären gewesen, wobei es im vorliegenden Fall der Anfechtung gegenüber Abwesenden gemäß § 121 I 2 BGB genügt hätte, wenn die Absendung unverzüglich erfolgt wäre. Daran fehlt es hier.

Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat die Anfechtungserklärung zwar noch taggleich nach Erhalt des Protokolls am 01.07.2020 abgesendet, jedoch nicht an den Beklagten bzw. dessen Prozessbevollmächtigten, sondern ausschließlich an das Gericht. Von einer Zustellung von Anwalt zu Anwalt gemäß § 195 ZPO hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers keinen Gebrauch gemacht. Damit fehlt es an einer unverzüglichen Absendung an den (richtigen) Anfechtungsgegner. Hinzu kommt, dass die Weiterleitung der Abschrift durch das Gericht erst am 08.07.2020 erfolgt ist und damit nicht mehr unverzüglich, was der Prozessbevollmächtigte des Klägers zu vertreten hat.

cc) Schließlich hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers auch keinen Anfechtungsgrund dargelegt. Der von ihm geltend gemachte Irrtum aufgrund eines Hörfehlers gemäß § 119 I BGB liegt nicht vor.

Ein zur Anfechtung berechtigender Irrtum setzt voraus, dass Wille und Erklärung unbewusst auseinanderfallen (vgl. Jauernig/Mansel, 17. Aufl. 2018, BGB § 119 Rn. 1). Einem Irrtum unterliegt daher nicht, wer z.B. bei Unterschreiben eines Schriftstücks weiß, dass er dessen Inhalt nicht kennt, etwa weil er ihn mangels Übersetzung aus einer Fremdsprache nicht verstanden hat; gleiches gilt, wenn die bei Abgabe der Erklärung gehegten Mutmaßungen über den Inhalt falsch waren, da in solchen Fällen die Unkenntnis nicht, wie nach § 119 I BGB erforderlich, unbewusst, sondern bewusst ist (vgl. BGH, Beschluss vom 30.10.2013 – V ZB 9/13 – NJW 2014, 1242 Rn. 8, beck-online).

So liegt der Fall hier.

Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat auf die gerichtliche Nachfrage nach Eingang seiner

Anfechtungserklärung mitgeteilt, dass sein Hörvermögen im Laufe des Termins zur mündlichen Verhandlung plötzlich stark nachgelassen habe und er zum Schluss praktisch nichts mehr verstanden habe. Da er so etwas noch nie erlebt habe, sei er verwirrt gewesen und hauptsächlich mit der für ihn neuen gesundheitlichen Situation beschäftigt gewesen. So habe er erwogen, darum zu bitten, an den Richtertisch heranzutreten, um die Vorsitzende verstehen zu können, habe hiervon jedoch wegen der Corona-Situation abgesehen. Er habe sich im Vertrauen auf eine unparteiische Verhandlungsführung sicher aufgehoben gefühlt und daher seine Zustimmung zu etwas erklärt, von dem er angenommen habe, dass es eine prozessleitende Anordnung, wie eine Frist für seine zuvor angekündigte Erwiderung auf den im Termin eingereichten Schriftsatz der Gegenseite gehandelt habe. Dass es sich um einen Vorschlag zur endgültigen Lösung der Kostentragungsfrage handeln könnte, habe er nicht für möglich gehalten.

Damit hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers zugestanden, bei Genehmigung seiner Erklärung zur Kostenvereinbarung in der mündlichen Verhandlung gewusst zu haben, dass er tatsächlich nichts verstanden und lediglich gemutmaßt hat, was Inhalt der von ihm genehmigten Erklärung gewesen sein könnte. Ihm war mithin bewusst, dass er den Inhalt der von ihm genehmigten Erklärung nicht kennt. Dies stellt, wie oben ausgeführt, kein unbewusstes Auseinanderfallen von Wille und Erklärung dar und berechtigt daher nicht zur Anfechtung wegen Irrtums.

Im Übrigen treffen auch die übrigen Mutmaßungen des Prozessbevollmächtigten des Klägers zum Ablauf der Einigung über die Kostentragungsvereinbarung nicht zu. Das Gericht hatte im Termin zur mündlichen Verhandlung im Anschluss an die Anhörung der Parteien zur Festsetzung des Streitwertes auf 430.000,00 EUR angefragt, ob die Parteien angesichts der infolge der ansonsten streitwertbedingt recht hohen Gerichtskosten eine einvernehmliche Einigung über die Kosten des Rechtsstreits treffen wollen, für den Fall, dass der Rechtsstreit noch übereinstimmend für erledigt erklärt wird (vgl. Ermäßigung der Gerichtsgebühr von 3,0 auf 1,0 gemäß Ziff. 1211 Nr. 4 Anlage 1 zum GKG). Daraufhin hatte der Prozessbevollmächtigte des Beklagten vorgeschlagen, die Kosten des Rechtsstreits gegeneinander aufzuheben. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat die Nachfrage der Vorsitzenden, ob er diesem Vorschlag zustimme, bejaht. Daraufhin hat die Vorsitzende mithilfe eines Spracherkennungsprogramms die beiderseitigen Erklärungen – laut diktierend – in das Protokoll aufgenommen und den Prozessbevollmächtigten des Klägers erneut gefragt, ob dies richtig sei, was dieser erneut – ebenso wie der Prozessbevollmächtigte des Beklagten – bejahte, woraufhin der Passus „vorgelesen und genehmigt“ im Protokoll dokumentiert worden ist. Entgegen der Mutmaßung des Prozessbevollmächtigten des Klägers hat das Gericht keinen (betragsmäßigen) Vorschlag zur Kostentragungsvereinbarung unterbreitet, sondern lediglich angefragt, ob die Parteien hierüber eine Einigung herbeiführen wollen, was dann auch erfolgt ist.

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