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Verkehrsunfall – Auffahren auf ein in eine Grundstückseinfahrt abbiegendes Fahrzeug

Straßenverkehr: Unfall nach abruptem Abbiegen

Es ist ein alltäglicher Anblick, der jedoch zu einem unerwarteten Unfall führte: Ein 20 Jahre alter Volkswagen Golf IV, gefahren von Zeugin R., folgte einem Audi, der plötzlich und stark bremste, um in eine Baustelleneinfahrt abzubiegen. Trotz sofortiger Reaktion konnte die Zeugin R. einen Zusammenstoß nicht verhindern. Der Haupteinwand lag in der Behauptung, dass der Audi-Fahrer seine Abbiegeabsicht nicht rechtzeitig angezeigt habe und seine abrupte Aktion für den Golf-Fahrer unvorhersehbar war.

Direkt zum Urteil Az: 410b C 46/20 springen.

Abruptes Bremsen führt zu Verkehrsunfall

In dem Fall nimmt der Kläger, Besitzer des Volkswagen Golf IV, die Beklagten, den Fahrer und die Haftpflichtversicherung des Audi, auf Zahlung von Schadensersatz in Anspruch. Der Unfall ereignete sich auf dem R-Weg, als der Audi-Fahrer ohne Vorwarnung stark abbremste, um in eine Baustelleneinfahrt abzubiegen. Der Kläger behauptete, dass der Audi-Fahrer seine Fahrtrichtungsanzeiger nicht genutzt habe, was den Unfallhergang unvorhersehbar machte.

Fehlende Abbiegeankündigung als strittiger Punkt

Der Kläger stellte fest, dass die Abbiegeabsicht des Audi-Fahrers für die Fahrerin des Golf nicht vorhersehbar gewesen sei. Die Baustelleneinfahrt war nicht ohne Weiteres sichtbar, da der Straßenverlauf geradlinig war und der Seitenstreifen teilweise mit Bäumen bepflanzt war. Darüber hinaus war der Audi-Fahrer nicht alleine im Auto, was zur Vermutung führte, dass er möglicherweise abgelenkt gewesen sein könnte und die Baustelleneinfahrt zu spät erkannt habe.

Die finanzielle Forderung des Klägers

Nach dem Vorfall forderte der Kläger die Beklagten zur Regulierung des Schadens auf, der sich aus den Reparaturkosten und einer Unkostenpauschale zusammensetzte. Zusätzlich entstanden ihm Kosten durch die Beauftragung seines Prozessbevollmächtigten und eines Sachverständigen zur Ermittlung des Fahrzeugwerts.

Das Gerichtsurteil und seine Konsequenzen

Das Gericht wies die Klage ab, was bedeutet, dass der Kläger die Kosten des Rechtsstreits tragen muss. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar, was bedeutet, dass der Kläger die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden kann, wenn nicht die Beklagten vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leisten.

Diese Situation ist eine Erinnerung daran, dass jeder Straßenverkehrsteilnehmer stets auf der Hut sein und sich auf unerwartete Situationen vorbereiten sollte.


Das vorliegende Urteil

AG Hamburg-Bergedorf – Az.: 410b C 46/20 – Urteil vom 22.12.2020

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Der Kläger trägt die Kosten des Rechtsstreits.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagten vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags leisten.

Beschluss

Der Streitwert wird auf 3.030,27 € festgesetzt.

Tatbestand

Der Kläger nimmt die Beklagten auf Zahlung von Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall in Anspruch, der sich am 27.08.2019 in H., R-Weg auf Höhe der Hausnummer 3 ereignete.

Die Fahrerin des fast 20 Jahre alten klägerischen Fahrzeugs Volkswagen Golf IV, die Zeugin R., befuhr am 27.08.2019 den R-Weg. Vor ihr fuhr der Beklagte zu 2) mit einem bei der Beklagten zu 2) zum Zeitpunkt des Unfalls haftpflichtversicherten Audi, amtliches Kennzeichen …. Der Beklagte zu 2) beabsichtigte, an der späteren Unfallstelle nach rechts in eine Baustellenauffahrt zu fahren. Hierzu bremste der Beklagte zu 2) ab. Dabei kam es zu einem Unfall mit dem nachfolgend fahrenden, von der Zeugin R. gesteuerten Fahrzeug des Klägers. Der genaue Unfallhergang ist streitig.

Der Kläger forderte die Beklagten mit Schreiben vom 11.11.2019 unter Fristsetzung bis zum 21.11.2019 zur Regulierung des Schadens wie folgt auf:

Reparaturkosten netto (gemäß Angebot Anlage K 1)     2.757,27 €

Unkostenpauschale 30,00 €

Gesamtschaden 2.787,27 €

Hierzu beauftragte er seinen Prozessbevollmächtigten, wodurch Kosten wie folgt entstanden sind:

1,3 Geschäftsgebühr (Nr. 2300 VV. RVG)     261,30 €

Auslagenpauschale (Nr. 7002 VV. RVG) 20,00 €

zzgl. 19 % USt. 53,45 €

Gesamt: 334,75 €

Der Kläger ist rechtsschutzversichert. Seine Rechtsschutzversicherung ermächtigte den Kläger, die angefallenen Gebühren im eigenen Namen gegenüber den Beklagten geltend zu machen. Insoweit wird auf Anlage K 5 Bezug genommen.

Im Oktober 2020 beauftragte der Kläger den Sachverständigen H. mit einer Ermittlung des Wertes seines Fahrzeugs. Hierdurch entstanden Kosten in Höhe von 246,60 € (Anlage K 7, Blatt 60 d.A.).

Der Kläger behauptet, das unfallbeteiligte Fahrzeug Volkswagen Golf IV stehe in seinem Eigentum. Der Kläger behauptet weiter, auf Höhe der Hausnummer 3 habe der Beklagte zu 2) plötzlich und völlig unerwartet stark abgebremst, um nach rechts in eine Baustellenzufahrt abzubiegen. Trotz einer sofortigen Gefahrenbremsung durch die Zeugin R. habe diese einen Zusammenstoß nicht verhindern können. Der Kläger behauptet, der Beklagte habe seine Fahrtrichtungsanzeiger nicht genutzt, um sein Abbiegevorgang rechtzeitig anzuzeigen. Eine mögliche Abbiegeabsicht des Beklagten zu 2) sei für die Fahrerin des Klägers nicht vorhersehbar gewesen. Die Baustelleneinfahrt sei für die Fahrerin nicht ohne Weiteres sichtbar gewesen, auch da der Straßenverlauf sehr geradlinig und der Seitenstreifen teilweise mit Bäumen bepflanzt sei. Weil der Beklagte zu 2 nicht alleine im Auto gesessen sei, was unstreitig ist, sei davon auszugehen, dass er gegebenenfalls abgelenkt gewesen sei und die Baustelleneinfahrt zu spät erkannt habe.

Der Kläger behauptet, für die Behebung der am klägerischen Fahrzeug durch den Unfall entstandenen Schäden im Frontbereich des Fahrzeugs sei eine Reparatur mit Kosten in Höhe von netto 2.757,27 € erforderlich. Insoweit bezieht sich der Kläger auf den als Anlage K 1 vorgelegten Kostenvoranschlag. Das Fahrzeug habe sich vor dem Unfall in einem einwandfreien Zustand befunden und keine weiteren Unfallschäden gehabt. Das Fahrzeug sei am 29.11.2017 zu einem Preis von 4.600,00 € erworben worden. Hierzu verweist der Kläger auf die als Anlage K 4 vorgelegte Kaufurkunde (Bl. 40 d.A.). Nach dem Gutachten des KFZ-Sachverständigen H. habe sich der Wiederbeschaffungswert zum damaligen Zeitpunkt auf 3.500,00 € beziffert und der Restwert habe bei 300,00 € gelegen. Insoweit nimmt der Kläger Bezug auf die als Anlage K 7 beigefügte Wertermittlung. Jedenfalls seien bereits sechs Monate nach dem Unfall vergangen, ohne dass der Kläger sein Fahrzeug abgegeben hätte.

Der Kläger ist der Ansicht, es handele sich vorliegend nicht um einen Auffahrunfall im eigentlichen Sinne. Vielmehr sei zulasten der Beklagtenseite eine Verletzung von § 9 Abs. 5 StVO zu berücksichtigen, da der Beklagte zu 2) im Begriff war, abzubiegen und sich der Unfall im Zusammenhang mit dem Abbiegevorgang ereignet habe.

Der Kläger beantragt, die Beklagten zu verurteilen, an den Kläger 3.030,27 € nebst Zinsen in Höhe von 5%punkte über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 22.11.2019 auf 2.787,27 € sowie vorgerichtliche Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von 334,75 € zu zahlen.

Die Beklagten beantragen, die Klage abzuweisen.

Die Beklagten behaupten, der Beklagte zu 2) habe rechtzeitig vor dem Abbiegevorgang sein Fahrzeug behutsam abgebremst und den rechten Fahrtrichtungsanzeiger gesetzt. Der Beklagte zu 2) sei bereits seit mehreren Wochen vor dem Unfall zu dem Baustellengelände gefahren. Ihm seien die Anfahrt und die Örtlichkeit der Baustellenauffahrt wohlbekannt gewesen. Die Beklagten behaupten, das klägerische Fahrzeug habe verschiedene Gebrauchsspuren aufgewiesen. Es sei davon auszugehen, dass ein wirtschaftlicher Totalschaden vorliege.

Die Beklagten sind der Ansicht, es handele sich um einen typischen Auffahrunfall. § 9 Abs. 5 StVO schützte lediglich den potentiell gefährdeten querenden Verkehr von Fußgängern und Fahrradfahrern, nicht aber den nachfolgenden Verkehr.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugin R und des Zeugen A.. Der Beklagte zu 2) ist gemäß § 141 ZPO informatorisch angehört worden. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme und der Anhörung des Klägers wird Bezug genommen auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 3.11.2020 (Bl. 72 ff der Akte).

Entscheidungsgründe

Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.

I.

Der Kläger hat gegen die Beklagten keinen Anspruch auf Ersatz des von ihm erlittenen Schadens gemäß §§ 7 Abs. 1, 17 Abs. 1, Abs. 2 StVG (in Verbindung mit §§ 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG, § 1 PflVG).

1.

Der Kläger ist im Ausgangspunkt als Eigentümer des Volkswagens Golf IV aktivlegitimiert, § 7 Abs. 1 StVG. Das Gericht ist ausgehend von der vorgelegten Kaufurkunde (Anlage K 4) davon überzeugt, dass der Kläger das Fahrzeug erworben hat und ihm das Eigentum an dem Fahrzeug übertragen worden ist.

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2.

Die im vorliegenden Fall am Unfall beteiligten Fahrzeuge waren beide im Betrieb im Sinne von § 7 Abs. 1 StVG. Der streitgegenständliche Unfall stellte sich für keinen der Unfallbeteiligten als höhere Gewalt oder als nachweislich unabwendbares Ereignis i.S.v. § 17 Abs. 3 StVG dar, so dass sich der Umfang der Haftung im Verhältnis der Fahrzeughalter untereinander gemäß § 17 Abs. 1, Abs. 2 StVG danach richtet, inwieweit der Unfall vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist. Bei der Bewertung und Abwägung der Verursachungsbeiträge ist insbesondere das Verschulden der Beteiligten wie etwa ein als jedenfalls fahrlässig zu bewertendes verkehrswidriges Verhalten zu berücksichtigen, soweit es sich auf den Unfall ausgewirkt hat. Im Hinblick auf die Ermittlung der Verursachungsbeiträge ist in Anschlag zu bringen, inwieweit das Verhalten der Beteiligten den Eintritt des Schadens im Vergleich zu den ansonsten in Betracht kommenden Ursachen wahrscheinlich gemacht hat (vgl. BGH, Urteil vom 20.01.1998 – VI ZR 59/97 – zitiert nach Juris Rn 8; BGH, Urteil vom 27.06.2000 – VI ZR 126/99 – zitiert nach Juris Rn 23).

Im Rahmen der gebotenen Gesamtabwägung sind nur solche Umstände zu berücksichtigen, die unstreitig oder nach § 286 ZPO bewiesen sind (vgl. BGH, Urteil vom 21.11.2006 – VI ZR 115/05 – zitiert nach Juris Rn 15). Lediglich vermutete Ursachenbeiträge sind genauso wie die bloße Möglichkeit einer Schadensverursachung aufgrund einer bestehenden Gefahrenlage sind nicht in die Abwägung einzustellen (BGH, aaO; Saarländisches Oberlandesgericht Saarbrücken, Urteil vom 29. März 2018 – 4 U 56/17 – zitiert nach Juris Rn 41 mwN). Nach den allgemeinen Beweisgrundsätzen sind dabei die im Kontext von § 17 StVG maßgeblichen Umstände jeweils von dem Halter zu beweisen, auf denen das Verschulden des Unfallgegners gestützt wird (BGH, Urteil vom 13.02.1996 – VI ZR 126/95 – zitiert nach Juris Rn 11). Bei der Bewertung der Verursachungsbeiträge bilden Fahrer und Halter eines Fahrzeugs eine Zurechnungseinheit (Heß, in: Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, 25. Auflage 2018, § 17 StVG Rn 5).

Die hier vorzunehmende Gesamtabwägung ergibt eine Alleinhaftung des Klägers. Im Einzelnen:

a) Die Fahrerin des klägerischen Fahrzeugs hat gegen § 4 Abs. 1 StVO verstoßen, wonach der Abstand zu einem vorausfahrenden Fahrzeug in der Regel so groß sein muss, dass auch dann hinter diesem gehalten werden kann, wenn es plötzlich gebremst wird. Zulasten des Klägers spricht insoweit ein Anscheinsbeweis, der durch die Beweisaufnahme nicht entkräftet worden ist. Ein Anscheinsbeweis ist anzunehmen bei typischen Geschehensabläufen, bei denen nach der Lebenserfahrung regelmäßig von einem bestimmten Ereignis auf einen bestimmten Erfolg geschlossen werden kann und umgekehrt (OLG Schleswig, Beschl. v. 30. 1. 2018 – 7 U 100/17). Die Annahme eines Anscheinsbeweises für ein verkehrswidriges und verschuldetes Verhalten setzt also einen Geschehensablauf voraus, bei denen sich nach der allgemeinen Lebenserfahrung der Schluss aufdrängt, dass ein Verkehrsteilnehmer seine Pflicht zur Beachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt verletzt und dadurch den Unfall verursacht hat; es muss sich um Tatbestände handeln, für die nach der Lebenserfahrung eine schuldhafte Verursachung typisch ist. Diese Voraussetzungen sind hier gegeben. Die Zeugin R. ist mit dem von ihr geführten Fahrzeug auf das vorausfahrende Fahrzeug des Beklagten zu 2) aufgefahren. Aus der von dem Kläger vorgelegten Reparaturkosten-Kalkulation (Blatt 8 ff d.A.) ergibt sich auch, dass sich die beiden am Unfall beteiligten Fahrzeuge bei in etwa parallelen Längsachsen teilweise überdeckt haben. So ergibt sich aus dem vorgelegten Angebot, dass sowohl die vorderen Scheinwerfer links und rechts beschädigt worden sind sowie die Halter Abdeckungen vorne links außen und rechts außen.

Nach Auffassung des erkennenden Gerichts steht der Annahme eines Anscheinsbeweises zuungunsten der Auffahrenden nicht entgegen, dass sich die Kollision im Zusammenhang mit einem Abbiegevorgang des Beklagten zu 2) ereignete. Der Anscheinsbeweis zulasten des Klägers wird dadurch auch nicht erschüttert. Der Beklagte zu 2) war aufgrund der Einleitung eines Abbiegevorgangs auf ein Grundstück zwar verpflichtet, die sich aus § 9 Abs. 5 StVO ergebenden besonderen Pflichten des Abbiegenden einzuhalten, wonach eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen sein muss. Nach § 9 Abs. 1 StVO besteht die Pflicht, die Abbiegeabsicht rechtzeitig und deutlich anzukündigen und dabei auch den Fahrtrichtungsanzeiger zu benutzen. Der Abbiegende muss sich auf der Fahrbahn nach rechts einordnen und erforderlichenfalls auch seine Geschwindigkeit behutsam verringern. Er ist weiter verpflichtet, den nachfolgenden Verkehr angemessen zu beobachten und notfalls auch den Abbiegevorgang vollständig zurückzustellen (OLG Düsseldorf, Urteil vom 23.6.2015 – I-1 U 107/14, Juris Rn 8 ff).

Der Anscheinsbeweis zulasten des Abbiegenden setzt jedoch in Abgrenzung zu einem Anscheinsbeweis in Auffahrunfällen im Falle eines Auffahrens eines Hintermannes auf einen Vorausfahrenden erst ein, wenn der Vordermann eine relevante Schrägstellung eingenommen hat. Jedenfalls dann, wenn der Vorausfahrende eine nur leichte Schrägstellung eingenommen hat, weil er im Begriff war, einen Abbiegevorgang einzuleiten, kommt ein Anscheinsbeweis zulasten des Vorausfahrenden nicht in Betracht (vgl. Schröder, in: SVR 2017, 293 (293)). Im Hinblick auf solche Konstellationen, in denen der vorausfahrende Vordermann zur Einleitung eines Abbiegevorgangs abbremst und es darauf zu einem Auffahren eines anderen Fahrzeugs kommt, besteht nämlich keine Lebenserfahrung, wonach der Unfall typischerweise durch einen Verkehrsverstoß des Vorausfahrenden verursacht worden ist. Trotz der hohen Sorgfaltspflichten des Abbiegenden, die § 9 Abs. 5 StVO vorgibt, erscheint es nach der Lebenserfahrung als naheliegend und typisch, dass im Falle einer Kollision wie der hier streitgegenständlichen der Hintermann die Anzeichen für den beabsichtigten Abbiegevorgang übersehen hat oder auf den Vordermann auffährt, weil er keinen ausreichenden Sicherheitsabstand eingehalten hat (OLG Düsseldorf, Urteil vom 23.6.2015 – I-1 U 107/14, Juris Rn 8 ff). Dabei weist das OLG Düsseldorf zu Recht darauf hin, dass der Abbiegende auch bei Einhaltung seiner Verkehrspflichten kaum Möglichkeiten hat, auf den rückwärtigen Verkehr zu reagieren (OLG, aaO). Auch wenn der Abbiegende die Pflicht hat, den nachfolgenden Verkehr zu beachten, erscheint eine den Unfall verursachende Pflichtverletzung des Abbiegenden nicht als wahrscheinlich. Der Anscheinsbeweis wird indes nicht dadurch erschüttert, dass der Vorausfahrende seine Fahrt verzögert hat. Dieser kommt vielmehr auch dann zur Anwendung, wenn der Vorausfahrende bremst (OLG Düsseldorf, aaO).

Etwas Abweichendes ergibt sich auch nicht aus dem Beschluss des OLG Hamburg vom 2.1.2018, Aktz. 14 U 12/17 (Blatt 61 ff d.A.), wonach ein Anscheinsbeweis zuungunsten des Abbiegenden anzunehmen sei, wenn sich ein Unfall zwischen dem Abbiegenden und einem nachfolgenden, den Vorausfahrenden überholenden Fahrzeug ereignet. Wie die Beklagtenseite zutreffend ausführt, ist diese Rechtsprechung auf den hiesigen Fall nicht übertragbar. Denn in dem vom OLG Hamburg entschiedenen Fall liegt eine den Unfall verursachende Pflichtverletzung des Abbiegenden nahe, weil dieser – bei pflichtgemäßer Beobachtung des nachfolgenden Verkehrs – seinen Abbiegevorgang ohne Weiteres abbrechen und den Unfall hätte vermeiden können. Das beruht auf der Besonderheit, dass sich die von den beteiligten Fahrzeugführern anvisierten Fahrtrichtungen – anders als in dem hier zu entscheidenden Fall – unmittelbar überkreuzten und der Vorausfahrende vor der Wahl gestanden hat, nunmehr nach links zur Einfahrt auf ein Grundstück auszuscheren oder auf seiner Fahrbahn zu verbleiben. Der Pflicht des Vorausfahrenden im Hinblick auf den überholenden, auf die Gegenfahrbahn ausscherenden Verkehr kommt eine deutlich höhere Unfallrelevanz zu als die in Rede stehende Pflicht des Beklagten zu 2), den sich nachhaltig hinter ihm befindlichen Verkehr zu beobachten.

Gemessen hieran bleibt es bei einem Anscheinsbeweis zulasten der Auffahrenden. Vorliegend ist unstreitig, dass der Beklagte zu 2) beabsichtigte, am Unfallort rechts auf eine Baustelleneinfahrt einzufahren. Dass der Beklagte zu 2) bereits vor dem Unfall in relevanter Weise nach rechts einlenkte, hat der Kläger nicht vorgetragen. Das bereits genannte Schadensbild legt nahe, dass das Beklagtenfahrzeug zum Zeitpunkt der Kollision noch weitgehend in die vordere Richtung zeigte und noch nicht in relevantem Maße nach rechts eingeschlagen worden ist.

Dem Kläger ist es nicht gelungen, den Anscheinsbeweis im Hinblick auf das Verschulden der Fahrzeugführerin in Form eines zu geringen Sicherheitsabstandes zu widerlegen oder zu erschüttern. Die Zeugin R. hat angegeben, bei einer Geschwindigkeit von 50 km/h zehn Meter hinter dem Beklagten zu 2) gefahren zu sein. Schon dieser von der Zeugin angegebene Abstand ist zu gering, da der Bremsweg bei dieser Geschwindigkeit größer ist als zehn Meter. Soweit die Zeugin den Abstand von ihr zu ihrem Vordermann möglicherweise falsch schätzt, lässt sich aus ihrer Zeugin jedenfalls nicht die Überzeugung gewinnen, dass sie ihren aus § 4 Abs. 1 StVO bzw. § 1 Abs. 2 StVO folgenden Pflichten eingehalten hat. Bereits die unstreitig stattgefundene Berührung legt vielmehr nahe, dass die Zeugin R. keinen ausreichenden Abstand eingehalten hat oder unachtsam gewesen ist, da sie ansonsten durch ein rechtzeitiges starkes Bremsen den Unfall hätte vermeiden können.

b) Ein Verkehrsverstoß des Beklagten zu 2) ist hingegen nicht nachgewiesen. Dabei besteht nach Auffassung des Gerichts auch kein durchgreifender Anscheinsbeweis zulasten des Beklagten zu 2). Insoweit nimmt das Gericht auf die Ausführungen unter a) Bezug, wonach ein Anscheinsbeweis hinsichtlich einer Verletzung der sich aus § 9 Abs. 5 StVO ergebenden Pflichten des Abbiegenden nicht anzunehmen ist, wenn – wie hier – der Abbiegende noch keine relevante Schrägstellung eingenommen hat und der Hintermann auf den vorausfahrenden Abbiegenden mit Teil-Überdeckung aufgefahren ist.

Das Gericht hat sich auf der Grundlage der Beweisaufnahme auch keine Überzeugung davon bilden können, dass der Beklagte zu 2) die bereits genannten Pflichten des Abbiegenden verletzt und dadurch den Unfall verursacht hat. Eine unumstößliche Gewissheit oder eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit ist dabei nicht erforderlich; vielmehr muss sich das Gericht in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad an Gewissheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen (BGH NJW 04, 777, 778; BGHZ 53, 245, 256).

Die Zeugin R. konnte naturgemäß nichts dazu sagen, ob der Beklagte zu 2) ausreichend auf den nachfolgenden Verkehr geachtet hat und ob er – wenn dies nicht der Fall wäre – den Unfall hätte vermeiden können. Auch aus den sonstigen unstreitigen Umstände des Unfallhergangs ergeben sich keine gewichtigen Indizien für einen Verstoß des Beklagten zu 2). Auch dann, wenn der Beklagte zu 2) vor Einleitung seines Bremsvorgangs auf den nachfolgenden Verkehr geachtet hätte, kann es aufgrund einer Unachtsamkeit der Zeugin R. zu dem streitgegenständlichen Unfall gekommen sein.

Das Gericht ist auch nicht davon überzeugt, dass der Beklagte zu 2) gegen die Pflicht, vor dem Abbiegen behutsam abzubremsen (§ 9 Abs. 5 StVO), verstoßen hat. Hierzu liegen dem Gericht unterschiedliche Aussagen vor. Der Beklagte zu 2) hat im Rahmen seiner persönlichen Anhörung angegeben, bereits vor dem Unfall allmählich langsamer geworden zu sein. Er habe die nachfolgende Zeugin im Rückspiegel gesehen, sei aber davon ausgegangen, diese werde rechtzeitig bremsen. Auch der Zeuge A. hat angegeben, der Beklagte zu 2) habe vor dem Unfall seine Geschwindigkeit auf 15-20 km/h reduziert; er habe „ganz normal“ abgebremst. Eine Vollbremsung sei aufgrund der Straßenverhältnisse gar nicht möglich gewesen. Die Zeugin R. hat hingegen angegeben, das Fahrzeug vor ihr habe plötzlich und „voll“ bzw. „stark“ gebremst. Das Gericht vermag nicht zu entscheiden, welche der widersprüchlichen Aussagen zutrifft. Beide Zeugen waren ebenso wie der Beklagte zu 2 gleichermaßen wahrnehmungsbereit- und fähig. Die Aussagen unterscheiden sich nicht wesentlich bezogen auf das Vorliegen von Realitätskennzeichen. Beide von den Zeugen vorgetragenen Szenarien sind nicht lebensfremd und können sich so zugetragen haben. Es liegen aber keine Kriterien vor, anhand derer das Gericht beurteilen könnte, welche der Aussagen zutreffend ist.

Das Gericht ist darüber hinaus nicht davon überzeugt, dass der Beklagte zu 2) es unterließ, seinen Fahrtrichtungsanzeiger vor dem Abbiegevorgang zu aktivieren (§ 9 Abs. 1 S. 1 StVO). Die Zeugin R. hat zwar angegeben, sie glaube, der Beklagte zu 2) habe sein Vorhaben, abzubiegen, nicht mittels des rechten Blinkers angezeigt. Die Zeugin zeigte bei ihrer Aussage aber eine große Unsicherheit. Das Gericht hat den Eindruck gewonnen, dass die Zeugin sich an diesen Umstand nicht im Einzelnen erinnern kann. So hatte die Zeugin zu Beginn ihrer Aussage auch noch geäußert, sie könne sich nicht daran erinnern, ob der Beklagte zu 2) geblinkt habe.

Das Gericht vermag auf der Aussage der Zeugin R. damit keine Überzeugung zu stützen. Darüber hinaus hat der Zeuge A. angegeben, gesehen zu haben, dass der Beklagte zu 2) geblinkt habe.

c) Unter Einbeziehung des genannten Verursachungsbeitrages der Zeugin R. hält das Gericht eine alleine Haftung der Beklagtenseite für sachgerecht. Im Falle einer Unfallverursachung durch mehrere beteiligte Kraftfahrzeuge hängt die Haftung der Fahrzeughalter zueinander nach § 17 Abs. 1 StVG von den Umständen, insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist. Zu berücksichtigen ist dabei insbesondere das jeweilige Ausmaß der Verursachung und die Schwere des Verschuldens (hierzu BGH NJW 2003, 1929 (1931); BGH NJW 1998, 1137 (1138)). Grundsätzlich ist dabei auch die Betriebsgefahr der am Unfall beteiligten Fahrzeuge zu berücksichtigen. Die Betriebsgefahr des Klägerfahrzeugs wird allerdings vorliegend durch das verkehrswidrige Verhalten der Zeugen R. vollständig verdrängt (vgl. Grüneberg, in: Berz/Burmann, Handbuch des Straßenverkehrsrechts, 42. EL, Nr. 4, Rn 49 ff).

II.

Mangels Hauptforderung bestehen auch keine Nebenforderungen des Klägers.

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 ZPO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf den §§ 708 Nr. 11, 711, 709 S. 2 ZPO.


Die folgenden rechtlichen Bereiche sind u.a. in diesem Urteil relevant

1. Verkehrsrecht: § 9 Abs. 5 Straßenverkehrsordnung (StVO): Das Verkehrsrecht regelt die Teilnahme von Personen und Fahrzeugen am Straßenverkehr. Im vorliegenden Urteil wird insbesondere auf § 9 Abs. 5 StVO Bezug genommen. Diese Norm legt die Verpflichtungen eines Abbiegenden fest. Insbesondere muss der Abbiegende den nachfolgenden Verkehr beobachten und, wenn nötig, den Abbiegevorgang unterbrechen. Im Fall wird diese Norm als möglicherweise durch den Abbiegenden verletzt angesehen. Die mögliche Pflichtverletzung ist ein zentraler Aspekt in der Argumentation und Bewertung des Falls durch das Gericht.

2. Zivilprozessrecht: § 286 Zivilprozessordnung (ZPO): § 286 ZPO betrifft die freie Beweiswürdigung durch das Gericht und ist daher ein wesentlicher Aspekt im Verlauf eines Rechtsstreits. In diesem Fall musste das Gericht auf Grundlage der Beweisaufnahme entscheiden, ob der Beklagte die Pflichten des Abbiegenden verletzt hat. Das Gericht konnte sich hier keine Überzeugung bilden, daher spielt § 286 ZPO eine entscheidende Rolle bei der Urteilsfindung.

3. Versicherungsrecht: Kfz-Haftpflichtversicherung: Das Versicherungsrecht regelt die Beziehungen zwischen Versicherungsnehmern und Versicherungsunternehmen. Im vorliegenden Fall war die Kfz-Haftpflichtversicherung des Beklagten relevant. Bei Verkehrsunfällen ist die Kfz-Haftpflichtversicherung in der Regel für die Regulierung von Schäden zuständig. Die Frage, ob und in welchem Umfang die Versicherung des Beklagten für den Schaden aufkommen muss, war ein zentraler Aspekt des Rechtsstreits.

4. Beweisrecht: Anscheinsbeweis: Der Anscheinsbeweis ist ein juristischer Grundsatz, nach dem bei typischen Geschehensabläufen von einem bestimmten Ereignis auf einen bestimmten Erfolg geschlossen werden kann. Im vorliegenden Fall ging es um die Frage, ob ein Anscheinsbeweis gegen den Abbiegenden vorliegt. Das Gericht kam zu dem Schluss, dass dies nicht der Fall ist, da der Abbiegende noch keine relevante Schrägstellung eingenommen hatte. Der Anscheinsbeweis ist in diesem Fall von zentraler Bedeutung für die Beurteilung der Sachlage.

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