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Verkehrsunfall mit Fußgängerbeteiligung

Anscheinsbeweis für Fußgängerverschulden

LG Schwerin – Az.: 1 O 8/12 – Urteil vom 14.12.2012

1. Die Beklagten werden verurteilt, als Gesamtschuldner an die Klägerin 10.000,- € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 18.03.2009 zu zahlen.

2. Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin in Höhe von 30 % sämtliche materiellen und künftigen immateriellen Schäden zu ersetzen, die aus dem Verkehrsunfallereignis zwischen ihr und dem Beklagten zu 1. von 2008 um … Uhr in der Straße E. in S. resultieren, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergangen sind oder noch übergehen.

3. Die Beklagten werden verurteilt, als Gesamtschuldner an die Klägerin außergerichtliche Rechtsverfolgungskosten in Höhe von 837,52 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 11.01.2012 zu zahlen.

4. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

5. Von den Kosten des Rechtsstreits trägt die Klägerin 15 % und die Beklagten 85 %.

6. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar, für die Klägerin jedoch nur gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagten vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leisten.

7. Der Streitwert wird auf 13.000,- € festgesetzt.

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Zahlung von Schmerzensgeld und Feststellung der Ersatzpflicht von Schäden aus einem Verkehrsunfall.

Der Beklagte zu 1. befuhr 2008 gegen … Uhr mit seinem bei der Beklagten zu 2. haftpflichtversicherten PKW …, amtliches Kennzeichen …, die Straße E. in S. in Richtung G.. Die Klägerin beabsichtigte zu diesem Zeitpunkt, die Straße E. in Höhe der Einfahrt zum Parkplatz der Firma H. zu Fuß, aus Sicht des Beklagten zu 1. von links nach rechts in Richtung S.-S.-C. zu überqueren. Sie betrat die Straße und hielt kurz an, um auf den Verkehr zu achten. Sodann setzte sie die Überquerung der Straße fort. Hierbei wurde sie von dem PKW des Beklagten zu 1. mit der vorderen linken Fahrzeugseite erfasst, durch die Luft geschleudert und blieb dann auf der Straße liegen. Zum Unfallzeitpunkt herrschten feuchte und leicht regnerische Witterungsverhältnisse. Die Klägerin war dunkel gekleidet und trotz der Straßenbeleuchtung nur schwer zu erkennen. Der Beklagte zu 1. fuhr mit der zulässigen Geschwindigkeit von 50 km/h.

Die Klägerin erlitt durch den Unfall schwere Kopfverletzungen, einen Beckenbruch und einen doppelseitigen Unterschenkelbruch. Die Klägerin wurde mit dem Rettungswagen ins Klinikum S. verbracht, wo sie sich bis 2008 auf der Intensivstation und im Anschluss bis zur Entlassung 2008 auf Station befand. Im Klinikum wurden die Diagnosen bilaterale Beckenringfraktur mit Rotationsinstabilität und vertikaler Verschiebung, Tibia-Etagenfraktur mit einem segmentalen Zwischenfragment, epidurale Blutung, Skalpierungsverletzung, Schädeldachfraktur, Gehirnerschütterung und Schädelbasisfraktur gestellt. Therapeutisch wurde eine Schädelöffnung vorgenommen und die Brüche chirurgisch und konservativ behandelt. Ausweislich des Arztbriefs 2008 bestanden bei der Entlassung bis auf eine kleine Hautnekrose im Bereich des Unterschenkels reizlose Wundverhältnisse. Zum Zeitpunkt der Entlassung war die Klägerin unter Teilbelastung bis max. 20 kg an zwei Unterarmgehstützen voll mobilisiert. Als Therapie wurde unter anderem eine regelmäßige Kontrolle der tibialen Hautnekrose sowie eine Fortführung der intensiven physiotherapeutischen Übungsbehandlungen empfohlen.

Die weitere ambulante Behandlung der Klägerin erfolgte ab 2008 in der Praxis des D.A.D.m.O.. Dort erfolgte unter anderem eine Behandlung der Wundheilungsstörung am rechten Unterschenkel durch offene Wundbehandlung und mehrfache Nekrosenabtragung, eine schrittweise Mobilisation unter physiotherapeutischer Anleitung sowie eine medikamentöse Schmerztherapie. Die E.F. 2009 beginnende ambulante Rehabilitation im Reha-Zentrum S. dauerte bis Anfang … 2009. Die Behandlungsbedürftigkeit dauerte über das gesamte Jahr 2009 an. Es erfolgte mehrfach wöchentlich ambulante Physiotherapie und medikamentöse Schmerztherapie. Eine Röntgenaufnahme aus … 2009 ergab einen deutlichen Kalottendefekt über dem rechten Scheitelbein und eine noch nicht verheilte Fraktur im rechten Unterschenkel. Mit Bescheinigung des Landesamtes für Gesundheit und Soziales Mecklenburg-Vorpommern vom 2010 wurde der Klägerin ein Grad der Behinderung von xx ab 2008 zuerkannt. Ausweislich Bescheiden der Berufsgenossenschaft 2010 und 2011 erhält die Klägerin seit 2009 eine monatliche Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von xx %. Vom … bis zum … befand sich die Klägerin erneut im Klinikum S. und wurde dort wegen der Nichtvereinigung der Frakturenden im Unterschenkel rechts operiert.

Mit außergerichtlichem Schreiben aus 2009 lehnte die Beklagte zu 2. eine Einstandspflicht ab.

Die Klägerin behauptet, der Beklagte zu 1. habe den Verkehrsunfall schuldhaft verursacht. Sie sei unmittelbar vor dem Unfall an der Bushaltestelle G. kurz hinter der Einfahrt zum Parkplatz der Firma H. aus dem Linienbus ausgestiegen, sei zum Busende gegangen, habe die Straße betreten, nach links und rechts geschaut und sodann die Straße überquert, nachdem sie Fahrzeugverkehr nicht wahrgenommen habe. Der Verkehrsunfall sei für den Beklagten zu 1. nicht unabwendbar gewesen, weil er trotz der beschilderten Bushaltstelle nicht mit der gebotenen Vorsicht an dem haltenden Bus vorbeigefahren sei. Zudem hätte ein Idealfahrer die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h in Anbetracht der bereits eingetretenen Dunkelheit und der feuchten Witterungsverhältnisse nicht ausgenutzt. Sämtliche der genannten Verletzungen und Beeinträchtigungen seien auf den Unfall zurückzuführen. Infolge des Unfalls habe sie auch einen Zahn verloren. Unfallbedingt habe durchgängige Arbeitsunfähigkeit aus 2008 bis zum 2009 bestanden. Bis zu diesem Tag sei sie in der Erwerbsfähigkeit zu 100 % gemindert gewesen.

Die genannten Beeinträchtigungen würden unter Berücksichtigung eines Mitverursachungsbeitrags ein Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 10.000,- € rechtfertigen. Sie könne die Feststellung verlangen, dass die Beklagten Schadensersatz dem Grunde nach zu leisten haben. Infolge der fortbestehenden Erwerbsminderung und Beschwerden sei der Gesamtschaden gegenwärtig noch nicht kalkulierbar. Zudem könne sie Ersatz der vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 962,71 € verlangen.

Die Klägerin beantragt,

1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an sie ein in das Ermessen des Gerichts gestelltes Schmerzensgeld nebst 5 %-Punkte Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 18.03.2009 zu zahlen,

2. festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, ihr sämtliche materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, die aus dem Verkehrsunfallereignis zwischen ihr und dem Beklagten zu 1. (Kennzeichen 123) aus 2008, um 123 Uhr, in S., E., resultieren, soweit sie nicht bereits auf Sozialversicherungsträger oder Dritte übergegangen sind,

3. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an sie außergerichtliche Rechtsverfolgungskosten in Höhe von 962,71 € nebst 5 %-Punkten Zinsen über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen; hilfsweise, sie von Kosten in dieser Höhe gegenüber Herrn Rechtsanwalt M. V., S., freizustellen.

Die Beklagten beantragen, die Klage abzuweisen.

Die Beklagten behaupten, der Unfall sei für den Beklagten zu 1. unvermeidbar gewesen. Der Beklagte zu 1. habe sein Fahrzeug mit einer der Verkehrslage angepassten Geschwindigkeit geführt. Die Klägerin habe den Unfall alleine verursacht, weil sie die Straße grob sorgfaltswidrig überquert habe, ohne auf den Verkehr zu achten. Für den Beklagten zu 1. habe keine Möglichkeit mehr bestanden, rechtzeitig zu bremsen. Der Bus sei zu dem Zeitpunkt, als die Klägerin die Fahrbahn überquert habe, bereits wieder losgefahren und weit entfernt gewesen. Die Betriebsgefahr des Fahrzeugs trete hinter das grobe Verschulden der Klägerin zurück. Die Wundheilungsstörungen am rechten Unterschenkel, der Grad der Behinderung, die Minderung der Erwerbsfähigkeit und der erneute Krankenhausaufenthalt aus 2011 bis 2011 seien nicht ausschließlich unfallbedingt.

Die Kammer hat die Verfahrensakte der Staatsanwaltschaft Schwerin, Az.: 158 Js 42000/08, zu Informationszwecken beigezogen, die Klägerin und den Beklagten zu 1. angehört und Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugen R, Dr. med.W. u. Dr. med.O.. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Protokolle der mündlichen Verhandlungen 2012 und 2012 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I. Die zulässige Klage ist im austenorierten Umfang begründet.

1. Der Klägerin steht gegen die Beklagten ein Anspruch auf Zahlung eines Schmerzensgelds in Höhe von 10.000,- € aus §§ 823, 253 Abs. 2, 254 BGB sowie §§ 7 Abs. 1, 9, 18 Abs. 1 StVG jeweils i.V.m. § 115 VVG zu.

a) Der Beklagte zu 1. hat den Verkehrsunfall schuldhaft verursacht, wobei sich die Klägerin jedoch ein überwiegendes Mitverschulden in Höhe von 70 % anrechnen lassen muss.

Verkehrsunfall mit Fußgängerbeteiligung
Symbolfoto: Von 9nong /Shutterstock.com

(1) Der Verkehrsunfall war für den Beklagten zu 1. nicht unabwendbar im Sinne von § 7 Abs. 2 StVG. Vielmehr hat der Beklagte zu 1. schuldhaft gegen die ihm obliegenden Sorgfaltspflichten verstoßen. Der Beklagte zu 1. hat sich entgegen § 1 Abs. 2 StVO nicht so verhalten, dass kein anderer Verkehrsteilnehmer geschädigt wurde. Er hat es unterlassen, unfallverhütend zu reagieren, obwohl ihm dies möglich war. Der Beklagte zu 1. räumte in seiner Anhörung selbst ein, vor der Kollision gesehen zu haben, dass die Klägerin bereits auf der Straße stand. Er habe jedoch von einem Abbremsen oder einer Reduzierung der Geschwindigkeit Abstand genommen, weil er davon ausgegangen sei, dass die Klägerin ihn gesehen habe und stehen bleiben würde. Damit unterlag der Beklagte zu 1. einer gesteigerten Sorgfaltspflicht. Der Beklagte zu 1. hatte erkannt, dass sich die Klägerin verkehrswidrig verhalten hat. Sie hatte entgegen § 25 Abs. 3 StVO die Straße betreten, obwohl sich der Beklagte zu 1. mit seinem Fahrzeug näherte. Demzufolge musste der Beklagte zu 1. damit rechnen und sich darauf einstellen, dass die Klägerin ihre Verpflichtung aus § 25 Abs. 3 StVO, beim Überschreiten der Fahrbahn auf sich nähernde Fahrzeuge zu achten und den fließenden Verkehr nicht zu behindern, weiter missachtet. Dies ist nicht erfolgt. Der Beklagte zu 1. hat trotz der erkannten Gefahrensituation schlicht darauf vertraut, dass die Klägerin auf der Fahrbahn des Gegenverkehrs stehen bleibt, anstatt unfallverhütend besonders vorsichtig zu fahren und seine Geschwindigkeit zu reduzieren.

(2) Die Pflichtverletzung des Beklagten zu 1. war für den Unfall auch ursächlich. Der Beklagte zu 1. sagte im Rahmen seiner Anhörung selbst aus, er hätte die Kollision nach seiner Einschätzung noch vermeiden können, wenn er das von ihm geführte Fahrzeug nach dem erstmaligen Erblicken der Klägerin abgebremst hätte. Hierzu habe er sich jedoch nicht verpflichtet gefühlt, weil die Klägerin die Straße nicht an einem Zebrastreifen überquert habe und er davon ausgegangen sei, dass die Klägerin ihn gesehen habe.

(3) Allerdings muss sich die Klägerin ein überwiegendes Mitverschulden an dem Unfall zurechnen lassen. Die Klägerin hat schuldhaft die ihr als Fußgängerin gemäß § 25 Abs. 3 StVO obliegenden Sorgfaltspflichten verletzt. Sie hat danach sowohl beim Betreten als auch beim Überschreiten der Fahrbahn auf sich nähernde Fahrzeuge zu achten und den fließenden Verkehr nicht zu behindern. Der Fußgänger hat also vor dem Betreten und beim Überschreiten der Fahrbahn besondere Vorsicht walten zu lassen. Denn die Straße dient in erster Linie dem Kraftfahrzeugverkehr. Der Fußgänger muss auf diesen achten und auf ihn Rücksicht nehmen. Er muss darauf bedacht sein, nicht in die Fahrbahn eines sich nähernden Fahrzeugs zu geraten. Wenn ein Fußgänger sich nicht entsprechend einrichtet, handelt er in der Regel grob fahrlässig (vgl. KG, MDR 2010, 1049-1050).

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Die Klägerin hat diese ihr obliegenden Sorgfaltspflichten nicht beachtet. Hierfür spricht bereits der Beweis des ersten Anscheins. Ereignet sich ein Verkehrsunfall in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Überqueren der Fahrbahn durch einen Fußgänger, so streitet der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass der Fußgänger unter Missachtung der Sorgfaltsanforderungen des § 25 Abs. 3 StVO ohne hinreichende Beachtung des Fahrzeugverkehrs auf die Fahrbahn getreten ist (vgl. OLG Saarbrücken, NJW 2010, 2525-2527). Diesen Anscheinsbeweis hat die Klägerin nicht erschüttert. Sie hat keine Umstände darlegt, die für eine atypische Verkehrsunfallsituation sprechen. Zwar ließ sie vortragen, sie habe vor dem Überqueren der Straße nach links und rechts geschaut. Im Rahmen ihrer Anhörung konnte sie dieses mangels Erinnerung an den Unfall jedoch nicht bestätigen. Tatsächlich ist davon auszugehen, dass sie sich vor dem Betreten der Straße nicht in ausreichendem Maße davon überzeugt hat, dass sie den herannahenden fließenden Verkehr nicht behindert. Hätte sie vor dem Betreten der Fahrbahn mit der gebotenen Sorgfalt nach links und rechts geschaut, hätte sie den herannahenden Beklagten zu 1. erkennen müssen. Zum Unfallzeitpunkt war es bereits dunkel und das Fahrzeug des Beklagten zu 1. war unstreitig beleuchtet.

(4) Unter Berücksichtigung des oben dargelegten Verschuldens des Beklagten zu 1., der Betriebsgefahr seines Fahrzeugs und des erheblichen Mitverschuldens der Klägerin erachtet die Kammer eine Haftungsquote von 70 % zu 30 % zum Nachteil der Klägerin für angemessen.

(5) Eine weitergehende Haftung des Beklagten zu 1. besteht nicht. Diese ergibt sich insbesondere nicht aus einem Verstoß gegen § 20 Abs. 1 StVO (vgl. hierzu BGH, NJW 2006, 2110 -2113). Nach dieser Vorschrift darf an Omnibussen des Linienverkehrs, an Straßenbahnen und an gekennzeichneten Schulbussen, die an Haltestellen (Zeichen 224) halten, auch im Gegenverkehr nur vorsichtig vorbeigefahren werden. Die Kammer ist nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme jedoch nicht davon überzeugt, dass sich der Unfall im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Halten des Linienbusses ereignet hat. Vielmehr geht die Kammer davon aus, dass der Bus die Haltestelle zum Zeitpunkt der Kollision bereits seit einiger Zeit verlassen hatte. Die Klägerin hat im Rahmen ihrer Anhörung selbst ausgesagt, dass der Bus nach dem Aussteigen die Türen geschlossen habe und weggefahren sei. Sie sei noch eine Strecke von ungefähr 7-8 Metern bis zum Übergang gegangen, bevor sie die Straße überquert habe. Demzufolge hatte sich der Bus zum Zeitpunkt der Kollision bereits von der Haltestelle entfernt. Die Klägerin konnte auch nicht bestätigen, dass der Bus zum Zeitpunkt der Kollision noch vor Ort gewesen ist. Zudem sagte die hinter dem Beklagten zu 1. fahrende Zeugin R. glaubhaft aus, sie habe den aus Richtung der späteren Unfallstelle kommenden Bus gesehen, als sie an der Ausfahrt des Parkplatzes des S.-S.-C. stand. Sie habe überlegt, nach links abzubiegen. Hiervon habe sie Abstand genommen, weil sie dann die ganze Zeit hinter dem Bus hätte hinterherfahren müssen. Daher habe sie zunächst den vorbeifahrenden Beklagten zu 1. durchgelassen und sei nach rechts abgebogen. Ungefähr in einer Entfernung von 50 bis 100 Metern sei es dann zur Kollision gekommen. Legt man die glaubhafte Aussage der Zeugin zugrunde, sind sich der Beklagte zu 1. und der entgegenkommende Bus bereits in Höhe der Ausfahrt des Parkplatzes des S.-S.-C. und mithin in einer Entfernung von 50 bis 100 Metern von der späteren Unfallstelle begegnet. Wenn man noch die Fahrtzeit des Beklagten zu 1. bis zur Kollisionsstelle hinzurechnet, hat sich der Unfall nicht im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Halten des Linienbusses ereignet. Vielmehr hatte der Bus die Haltestelle zum Zeitpunkt der Kollision bereits seit einiger Zeit verlassen, so dass für den Beklagten zu 1. die gesteigerten Sorgfaltspflichten aus § 20 Abs. 1 StVO zum Zeitpunkt der Kollision nicht mehr gegeben waren.

b) Der Klägerin steht gegen die Beklagten ein Anspruch auf Zahlung eines Schmerzensgelds in Höhe von insgesamt 10.000,- € zu.

Das Schmerzensgeld hat nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung eine Doppelfunktion. Es soll dem Geschädigten einen angemessenen Ausgleich für diejenigen Schäden schaffen, die nicht vermögensrechtlicher Art sind und sogleich dem Gedanken Rechnung tragen, dass der Schädiger dem Geschädigten Genugtuung dafür schuldet, was er ihm angetan hat, wobei der Entschädigungs- und Ausgleichsgedanke im Vordergrund steht (vgl. Palandt/Grüneberg, BGB, 71. Aufl., § 253 Rn. 4 m.w.N.).

Bei der Höhe des angemessenen Schmerzensgelds legt die Kammer zugrunde, dass die Klägerin infolge des Unfalls eine bilaterale Beckenringfraktur mit Rotationsinstabilität und vertikaler Verschiebung, eine Tibia-Etagenfraktur mit einem segmentalen Zwischenfragment, eine epidurale Blutung, eine Skalpierungsverletzung, eine Schädeldachfraktur, eine Gehirnerschütterung und eine Schädelbasisfraktur erlitten hat, sich wegen dieser schweren und lebensbedrohlichen Verletzungen aus 2008 bis 2008 im Klinikum befand und dort mehrfach operiert wurde. Auch nach der Entlassung befand sich die Klägerin für das gesamte Jahr 2009 in ärztlicher Behandlung, wobei durch den Zeugen Dr. med.O. eine Behandlung der Wundheilungsstörung am rechten Unterschenkel durch offene Wundbehandlung und mehrfache Nekrosenabtragung, eine schrittweise Mobilisation unter physiotherapeutischer Anleitung sowie eine medikamentöse Schmerztherapie erfolgte. Im Anschluss erfolgte eine mehr als drei Monate dauernde ambulante Rehabilitation im Reha-Zentrum S. sowie weitere wöchentliche ambulante Physiotherapie und medikamentöse Schmerztherapie. Durchgängige Arbeitsunfähigkeit bestand unfallbedingt aus 2008 bis 2009. Ausschließlich unfallbedingt ist die Klägerin mit einem Grad von 40 behindert und bezieht Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 40 %. Auch der weitere stationäre Aufenthalt im Klinikum S. von 2011 bis 2011 wegen der nicht verheilten Unterschenkelfraktur und dem Erfordernis einer weiteren Operation ist ausschließlich unfallbedingt.

Die Kammer ist nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme davon überzeugt, dass die Klägerin infolge des Unfalls bis 2009 durchgängig zu 100 % arbeitsunfähig gewesen ist und sämtliche der genannten Verletzungen und Beeinträchtigungen ausschließlich auf den Unfall zurückzuführen sind. Die die Klägerin behandelnden Zeugen Dr. med. W. u. Dr. med. O. haben bei ihrer Vernehmung übereinstimmend glaubhaft ausgesagt, dass die Klägerin durchgängig bis 2009 zu 100 % arbeitsunfähig gewesen sei. Sämtliche ihrer Verletzungen und Beeinträchtigungen seien ausschließlich unfallbedingt gewesen. Anhaltspunkte dafür, dass die Wundheilungsstörungen am rechten Unterschenkel, der Grad der Behinderung, die Minderung der Erwerbsfähigkeit und der erneute Krankenhausaufenthalt aus 2011 bis 20011 nicht ausschließlich auf den Unfall zurückzuführen seien, lägen nicht vor.

Nicht zurechenbar war, dass die Klägerin infolge des Unfalls einen Zahn verloren haben will. Die Zeugen Dr. med. W. u. Dr. med. O. haben einen unfallbedingten Verlust eines Zahns nicht bestätigt.

Bei einer Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der oben dargelegten erheblichen Verletzungen der Klägerin und den dauerhaften Beeinträchtigungen infolge des Unfalls einerseits und ihrem weit überwiegenden Mitverschulden an dem Unfall andererseits, erachtet die Kammer im vorliegenden Fall das von der Klägerin begehrte Schmerzensgeld in Höhe von 10.000,- € für angemessen, aber auch ausreichend.

2. Der Klägerin steht des Weiteren ein Anspruch zu, festzustellen, dass die Beklagten entsprechend ihrer Haftungsquote in Höhe von 30 % verpflichtet sind, ihr sämtliche materiellen und künftigen immateriellen Schäden zu ersetzen, die aus dem Verkehrsunfallereignis resultieren.

Das Feststellungsinteresse der Klägerin steht außer Zweifel. Die unfallbedingten Beschwerden und Beeinträchtigungen der Klägerin sind nicht abgeschlossen, sondern dauern fort. Aus dem gleichen Grund bestand eine Verpflichtung der Klägerin, bereits entstandene Schäden zu beziffern, nicht. Befindet sich ein unfallbedingter Schaden – wie hier – zum Zeitpunkt der Klageerhebung noch in der Fortentwicklung, so ist die Feststellungsklage insgesamt zulässig, auch wenn der Anspruch bereits teilweise beziffert werden könnte (vgl. BGH, NJW 1984, 1552-1554; Zöller/Greger, ZPO, 29. Aufl., § 256 Rn. 7a m.w.N.).

Der Feststellungsantrag ist hingegen mangels Feststellungsinteresse unzulässig, soweit die Klägerin die Feststellung der Ersatzpflicht auch für vergangene immaterielle Schäden begehrte. Derartige Schäden sind von der Verurteilung zur Zahlung des Schmerzensgelds umfasst.

3. Die Entscheidung über die Nebenforderungen folgt aus §§ 286, 288, 291 BGB.

a) Verzugszinsen stehen der Klägerin gemäß §§ 286 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 3, 288 Abs. 1 BGB seit 2009 zu. Mit dem außergerichtlichen Schreiben vom 18.03.2009 hat die Beklagte zu 2. die Regulierung der Unfallfolgen ernsthaft und endgültig verweigert.

b) Der Klägerin steht gegen die Beklagten ein Anspruch auf Zahlung von vorgerichtlichen Rechtsverfolgungskosten in Höhe von 837,52 € zu.

aa) Die Einschaltung des Bevollmächtigten war zur Rechtsverfolgung erforderlich. Bei Rechtsanwaltskosten ist der Ersatzpflicht des Schuldners jedoch der Geschäftswert zugrunde zu legen, der der berechtigten Forderung entspricht (vgl. BGH, NJW 2008, 1888; Palandt/Grüneberg, a.a.O., § 249 Rn. 57), hier also ein Betrag in Höhe von 10.900,- €. Die Klägerin hat neben der Schmerzensgeldforderung in Höhe von 10.000,- € mit dem Feststellungsantrag, den die Kammer mit 3.000,- € bewertet, zu 30 % obsiegt (3.000,- € x 30 % = 900,- €).

Ausgehend von einer Geschäftsgebühr in Höhe von 1,3 errechnet sich die Forderung wie folgt:

1,3 Geschäftsgebühr bei Gegenstandswert von 10.900,- €     683,80 €

Post- und Telekommunikationspauschale   20,00 €

703,80 €

Umsatzsteuer 133,72 €

837,52 €

bb) Die Beklagten sind nicht verpflichtet, der Klägerin darüber hinaus die von ihren Bevollmächtigten beanspruchte Geschäftsgebühr von 1,5 für die außergerichtliche Tätigkeit zu ersetzen. Insoweit fehlt es bereits an hinreichend konkretem Sachvortrag der insoweit darlegungspflichtigen Klägerin, dass die außergerichtliche Angelegenheit besonders umfangreich oder besonders schwer gewesen ist (vgl. BGH, NJW 2012, 2813-2814). Dies ist auch nicht ersichtlich. Vorgerichtliche Schreiben ihrer Bevollmächtigten legt die Klägerin nicht vor.

cc) Auf die Frage, ob die Klägerin den oben aufgeführten Betrag tatsächlich gezahlt hat, kommt es ebensowenig an, wie auf die Frage, ob der Bevollmächtigte gegenüber der Klägerin über den Betrag Rechnung gelegt hat. Der Bevollmächtigte war ausweislich des außergerichtlichen Schreibens der Beklagten zu 2. aus 2009 für die Klägerin tätig, so dass es eine entsprechende Zahlungsverpflichtung gab. Solange eine Zahlung noch nicht erfolgt ist, besteht gegenüber den Beklagten der hilfsweise geltend gemachte Freistellungsanspruch. Da die Beklagten die Zahlung jedoch außergerichtlich ernsthaft und endgültig abgelehnt haben, kann die Klägerin sogleich ohne Fristsetzung im Sinne von § 250 S. 1 BGB Zahlung verlangen (vgl. BGH, NJW-RR 2011, 910-913; Palandt/Grüneberg, a.a.O., § 250 Rn. 2). Die Rechnungsstellung nach § 10 Abs. 1 RVG betrifft nur die Einforderbarkeit der Vergütung im Verhältnis zum Mandanten des Anwalts, gilt jedoch nicht im Bereich des materiellrechtlichen Kostenerstattungsanspruchs (vgl. OLG München, VersR 2007, 267 m.w.N.).

c) Zinsen auf die Rechtsanwaltskosten stehen der Klägerin gemäß §§ 291, 288 Abs. 1 BGB seit 2012, dem Tag nach Eintritt der Rechtshängigkeit zu.

II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 92 Abs. 1 ZPO; die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus §§ 708 Nr. 11, 709, 711 ZPO.

III. Der Streitwert war auf 13.000,- € (10.000,- € + 3.000,- €) festzusetzen.

 

 

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